Der Fußball-Lehrer. Malte Oberschelp
ein Ligen-system, Training, internationaler Spielverkehr, offene oder verdeckte Bezahlung von Spielern, Wettbüros, riesige Zuschauermengen, ausführliche Medienberichterstattung lehnte Koch vehement ab. Erst gegen Ende seines Wirkens, nach einer Englandreise 1895, relativierte Koch seinen Sportbegriff.
Konrad Koch war deshalb kein Modernisierer wie der eine Generation nach ihm lebende Walther Bensemann (1873-1934). Der gründete Fußballsportvereine, organisierte internationale Wettspiele und rief 1920 den „kicker“ ins Leben. Koch dagegen steht für einen Sonderweg. Deshalb ist dieses Buch auch keine Geschichte des Fußballs im Deutschen Kaiserreich. Es erzählt eine Geschichte, die in dieser Zeit spielt, aber heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Wie jemand einen ganz anderen Fußball wollte und am Ende von der Entwicklung überrollt wurde. Denn mit dem Versuch, den Turnern Fußball beizubringen, repräsentiert Koch nur eine Strömung seiner Zeit und nicht etwa jene, die sich am Ende durchgesetzt hat.
Gleichwohl ist es hochinteressant, sich mit Konrad Koch zu beschäftigen. Obwohl er national dachte und viele seiner Äußerungen aus heutiger Sicht reaktionär wirken, war er in seiner Zeit ein Reformer. Koch erkannte früh, dass der strenge, fast militärische Ablauf einer Turnstunde den Jugendlichen keine zeitgemäßen Werte vermittelte. Im englischen Fußball und im Cricket, das er ebenfalls popularisierte sah er die geeigneten Instrumente, den Schülern auf spielerische Weise moderne pädagogische Werte beizubringen. Auch verringerte Koch auf dem Spielplatz die Distanz zum Lehrpersonal, indem er gemeinsam mit seinen Schülern Fußball spielte.
Koch baute die anti-englischen Vorurteile gegen den Fußball ab. Er war entscheidend an der Entwicklung einheitlicher Regeln und der Übersetzung des Fußballvokabulars beteiligt. In einem Umfeld, das durch die historische Dominanz des Turnens mit dem Leistungsprinzip unvertraut war, warb er für den Wettkampfgedanken. Und er wurde zum ersten Historiker des Spiels.
Die rund 100 Texte, die Koch über Fußball, Cricket, Turnen und andere Themen veröffentlicht hat, zeichnen ein lebhaftes Bild seiner Bemühungen, die Leibesübungen im dicht verflochtenen Spannungsfeld von Turnen, Spiel und Sport zu reformieren. Die sogenannte Spielbewegung, die Koch entscheidend prägte, versuchte dabei im Konflikt zwischen Turnen und Sport zu vermitteln. Und: Indem er das Selbstverständnis der Sportklubs ebenfalls wahrnahm und kritisch kommentierte, wird Koch zum Chronisten auch der Entwicklung, die er verhindern wollte. Im Spiegel seines Lebens scheinen viele wichtigen fußballerischen Ereignisse auf, an denen er nicht beteiligt war: von der Bedeutung der Abseitsregel, der Entwicklung des schottischen Passing Game über die sogenannten Urländerspiele bis zur Gründung des DFB. Nicht zuletzt lässt sich bei Koch lernen, dass die heutige Vorstellung über die Gegensätze in der Frühzeit des Fußballs hier die Turner, da die Fußballer einer wesentlich komplexeren Wirklichkeit nicht standhält.
All das macht Konrad Koch zu einer Figur, die eine Würdigung verdient. Auch wenn er nicht unbedingt der deutsche Fußballvater gewesen ist der erste Fußball-Lehrer war er auf jeden Fall.
Vorbemerkung zu einer unvermeidlichen Begriffsverwirrung
Da der Begriff Rugby in Deutschland erst später aufkam, ist in Zitaten von Konrad Koch, in Regelbüchern und Vereinsnamen häufig nicht klar, ob mit dem Wort Fußball Rugby oder Association gemeint ist. Generell gilt: Von 1874 bis weit in die 1880er Jahre hinein ist Fußball gleichbedeutend mit Rugby. Association war in Deutschland um diese Zeit weitgehend noch unbekannt. Der Deutsche Fußballverein zu Hannover von 1878 etwa, der erste deutsche Klub, spielte Rugby. Die ersten reinen Fußballvereine entstanden erst einige Jahre später.
Weil Koch und seine Mitstreiter englische Wörter grundsätzlich vermieden, können allerdings auch nach 1890 noch Unklarheiten vorkommen. In diesen Fällen habe ich zu erläutern versucht, wann Fußball und wann Rugby gemeint ist. Koch hat mit der Zeit eine eigene Nomenklatur entwickelt, um beide Spielarten voneinander abzugrenzen. Das Ergebnis wirkt nicht unbedingt logisch. Aber da die Begriffe häufig fallen, seien sie hier vorangestellt:
Rugby Fußball mit Aufnehmen des Balles; gemischter Fußball
Association Fußball ohne Aufnehmen des Balles; einfacher Fußball
Um die Verwirrung komplett zu machen, nannten manche Zeitgenossen Kochs Rugby übrigens auch den englischen Fußball und den heutigen Fußball den deutschen Fußball. Alles klar?
Das englische Experiment
„Der Mißerfolg beim Versuche, Schulspiele einzuführen,
wird an nicht wenigen Stellen dadurch veranlaßt sein,
daß man der Jugend statt wirklicher Spiele nur Spielereien geboten hat.“
Die Braunschweiger Schulspiele (Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 1890, Seite 379)
Am Anfang war der Ball. Am 29. September 1874 warf August Hermann, der Turnlehrer am Braunschweiger Gymnasium Martino-Katharineum, auf dem kleinen Exerzierplatz vor den Toren der Stadt einen Fußball unter einige Schüler. Neben ihm stand Konrad Koch, der Lehrer für Deutsch, Geschichte und alte Sprachen. Beide schauten zu, was passieren würde.
Es war dies nicht das erste Mal, dass in Deutschland Fußball gespielt wurde. Englische Schüler, Kaufleute oder Pensionäre, die vorübergehend oder ständig in Deutschland lebten, haben mit Sicherheit auch vor 1874 das Fußballspiel betrieben, ohne dass es dafür viele Belege gibt. Der Gründungspräsident des DFB, Ferdinand Hueppe, hat beispielsweise berichtet, er habe schon 1865 mit englischen Jungen herumgekickt. Unstrittig ist auch, dass es im Deutschen Flaggen-Club Heidelberg, einem Ruderverein, seit 1872 eine Fußballabteilung gab. Der Gründer war Edward Ullrich, ein Lehrer am Neuenheim College.
Aber das, was 1874 in Braunschweig auf dem Exerzierplatz begann, entwickelte sich zum ersten systematischen Versuch, den Fußball in Deutschland heimisch zu machen: durch die Übersetzung der Regeln, die Eindeutschung der Fachbegriffe, die Gründung eines Schülervereins und die theoretische Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Potenzial des Spiels. Konrad Koch mag deshalb nicht der Gründervater des deutschen Fußballs sein, wie es so häufig heißt. Aber anders als seine vereinzelten Vorläufer steht er für den organisierten Beginn des Fußballs in Deutschland. Deshalb war Koch auch der Erste, der mit seinem fußballerischen Feldversuch eine größere Resonanz erzielte. Erst in der Schule, dann in der Stadt und später darüber hinaus. Auch wenn es sich zunächst genau wie bei den in Deutschland lebenden Engländern um Rugby handelte. Der Hilfslehrer Franz Hahne, der viele Jahre später einen Nachruf auf Konrad Koch schreiben sollte, erinnert sich beim ersten Braunschweiger Spielgerät an einen „eiförmigen großen Lederballe“.1 So viel steht fest.
Wer die Idee zu dieser Versuchsanordnung hatte, ist weniger klar. Koch hat stets betont, der Mediziner Friedrich Reck habe die Anregung gegeben. Das klingt plausibel, weil Reck als Militärarzt in England gewesen war. Andererseits war Koch dessen Schwiegersohn und möglicherweise parteiisch. Denn auch Hermann reklamierte die Idee mit dem Ball für sich, zumal er ihn das bestätigen alle Beteiligten aus London hatte kommen lassen. Seine Schwester betrieb ein Internat für deutsche und englische Schülerinnen und war häufig auf der Insel. Hermann hatte eine Pension im Hause, die auch englische Jungen beherbergte. „Wir haben dann mit jenem Balle probiert und geübt, wobei uns einer meiner Pensionäre, ein Engländer, helfend zur Seite stand“, hat Hermann über den Tag im Herbst 1874 berichtet.2 Ganz ohne englische Hilfe ging es also nicht. Die Schüler jedenfalls waren begeistert. Bereits drei Jahre später nannte das Schulprogramm Fußball „das Lieblingsspiel unserer Jugend“.3
Auch international gesehen war Koch mit seinem Schulfußball Pionier. Außer in der Schweiz entwickelte sich der Fußball überall auf dem europäischen Kontinent später. In der Westschweiz, wo Walther Bensemann das Spiel als Schüler kennenlernte, gab es bereits 1860 den Lausanne Football and Cricket Club. 1869 nahm die erste Schule in Genf Fußball in ihr Programm auf. In England war die Entwicklung natürlich schon fortgeschritten. Nachdem die Football Association sich 1863 von der Rugby-Bewegung abgespalten hatte, erfand sie 1871 den ersten Mannschaftswettbewerb der Welt: den FA-Cup. 1874, im Jahr der Braunschweiger Fußballpremiere, gewann Oxford University den Pokal im Endspiel vor 2.000 Zuschauern gegen die Royal Engineers. Von solchen Verhältnissen war Deutschland noch