Der Fußball-Lehrer. Malte Oberschelp
„Football zu Rugby“: Abbildung aus Hermann Raydts England-Bericht „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“, 1889.
Raydts Buch war eine fast schwärmerische Werbung für die englischen Schulspiele. Abgefasst war der Reisebericht in Form von Briefen an einen imaginären Schüler eine Referenz an Ludwig Adolf Wiese und seine „Deutschen Briefe über englische Erziehung“, die in zwei Bänden 1850 und 1877 erschienen waren. Man könnte auch so sagen: Raydt wollte in England das sehen, was er in „Tom Brown’s School-days“ gelesen hatte. Als er in Rugby eintrifft und durch einen Schüler begrüßt wird, glaubt er sich fast wie Tom Brown bei dessen Ankunft zu fühlen. Auch sonst steckt Raydts Bericht voller Hinweise auf das Buch von Thomas Hughes, das in der Spielbewegung zu einer Ikone stilisiert wurde.
Dabei übersah der deutsche Besucher die Nachteile der englischen Eilte-Internate. Das Präfektorialsystem, die Aufsichtspflicht der älteren Schüler über die jüngeren, artete im Schulalltag regelmäßig in teils brutale Schikanen aus. „Bullying“, das Quälen der Neuankömmlinge, und „Fagging“, das Bedienen der älteren Schüler, war an der Tagesordnung. In „Tom Brown’s Schooldays“ gibt es eine Szene, in der Tom an den brennenden Kamin gedrängt wird, bis er vor Schmerzen ohnmächtig wird. Auch beim Sport, besonders beim Fußball, waren die jüngeren Schüler quasi Freiwild für die stärkeren Jungen.
Raydt hielt derlei Übergriffe für Relikte aus der Vergangenheit. „Die älteren Schüler bilden, soweit ich habe bemerken können, in allen englischen Public Schools ein nettes vermittelndes Verhältnis zwischen den jüngeren Knaben und den Lehrern.“19 Dem widersprachen beispielsweise die Erfahrungen Walther Bensemanns. Der Vereins-gründer, Fußballimpresario und spätere „Kicker“-Gründer hatte seine Jugend in einem Schweizer Internat verbracht und dort viele englische Schüler kennengelernt. In der Schrift „Public school und Gymnasium“ schrieb der 20-jährige Bensemann 1893 über den typischen Präfekten, „dass er im Laufe seiner Amtszeit Dutzende von Knaben nicht nur moralisch, sondern physisch zu Grunde richtet“.20
Auf seiner Reise 1886 bemerkte Raydt die Schattenseiten der englischen Internate nicht oder wollte sie nicht bemerken. Umso besser kannte er die des deutschen Schulwesens. Wortreich geißelte er das alkoholschwangere Verbindungswesen an den Universitäten, deren Studenten den Primanern und Sekundanern der Gymnasien das Kampftrinken beibrachten oder sie mit Fechtduellen bekannt machten. Den Fehler im System aber benannte Raydt wie Hartwich so: „eine Überbürdung der gewissenhaften Knaben, sofern sie nicht besonders gut beanlagt sind, mit geistiger Arbeit ohne ein genügendes Äquivalent körperlicher Übungen“.21
Auf den englischen Schulen war das genau andersherum. Ein guter Ballspieler galt dort mehr als der Klassenprimus. Diese physiologische und pädagogische Wirkung der Schulspiele wollte Raydt nach Deutschland importieren. Trotz aller Parteilichkeit und Schwärmerei leistete „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ in dieser Hinsicht wichtige Vermittlungsarbeit. Das Buch beschrieb die Strukturen und Tagesabläufe der Public Schools recht genau und enthielt großformatige Bilder spielender Schüler. Raydt schilderte ein Match zwischen Harrow und Eton, das er auf dem Londoner Lord’s Cricket Ground dem Wembley des Cricket beobachtet hatte. Und sein Buch enthielt eine Beschreibung des Fußballs auch wenn Raydt damals noch glaubte, in Deutschland heiße dieses Spiel „Thorball“.
Auf der Rückreise nach Deutschland besuchte Raydt zunächst Hartwich und dann Koch. Das Netzwerk der Spielbewegung formierte sich. „Ich freute mich, in genanntem Herrn einen Mann kennen zu lernen, der in Wort und Schrift viel für die Einführung der körperlichen Spiele in freier Luft für unsere höheren Schulen gewirkt und der mit eben so viel Geschick wie unermüdlichem Eifer die Möglichkeit gezeigt hat, daß auch ohne die Ansprüche auf geistigem Gebiet zu ermäßigen eine Wiedereinführung kräftigender Jugendspiele bei uns möglich ist“, schrieb Raydt über Koch.22 Natürlich kam er in den Genuss einer Spielevorführung und war des Lobes voll. „Die jungen Leute machten bei der Kricketpartie, welche ich sah, einen frischen, kräftigen und fröhlichen Eindruck, und manche Schläge und Würfe hätten sich auch in England, dem Lande des Krickets, sehen lassen können.“23
Kritik übte der Ratzeburger Kollege nur am Zustand des Platzes. Außerdem gab er sogleich eine seiner Erfahrungen aus England weiter. Er empfahl Koch, seine Schüler „mit leichtem Flanellanzuge“ spielen zu lassen: „Der Körper kann sich dann doch freier und besser bewegen und mehr ausdünsten, so daß der gesundheitliche Zweck des Spiels vollkommener erreicht wird.“ Zum Schluss bemühte sich Raydt aber wieder, die Pionierleistungen des Kollegen herauszustellen. Er habe „die Überzeugung gewonnen, daß sich Professor Dr. Koch nicht nur um seine Schüler und um die Stadt Braunschweig, sondern um das Erziehungswesen des ganzen deutschen Reiches ein nicht zu unterschätzendes Verdienst erworben hat“.
Raydt reiste zurück nach Ratzeburg, ließ an seinem Gymnasium alsbald auch Fußball spielen und verfasste 1889 die „Englischen Schulbilder in deutschem Rahmen“. Der letzte Gruß an den Kollegen in Braunschweig darin lautete: „Seinen weiteren Bestrebungen wünsche ich alles, was gut und glücklich ist.“ Zwei Jahre später saßen Hermann Raydt und Konrad Koch gemeinsam im organisatorischen Zentrum der Spielbewegung: im Vorstand des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland.
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