Der Fußball-Lehrer. Malte Oberschelp

Der Fußball-Lehrer - Malte Oberschelp


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trainiere. Was das Abseits anging, hinkte Koch der englischen Realität allerdings hinterher: Dass die erste Abseitsregel alle Spieler müssen hinter dem Ball sein für Association seit 1866 nicht mehr galt, war ihm offenbar entgangen.

      Den wichtigsten Vorteil des Fußballs bewahrte Koch sich für den Schluss auf: die Schulung des Gemeinsinns. „Es lehrt den Einzelnen sich der Gesammtheit willig einzupassen und unterzuordnen“, schrieb er über das Spiel.24 Kronzeuge dieser These war das bei deutschen Pädagogen sehr populäre Buch „Tom Brown’s Schooldays“ von Thomas Hughes. Es handelt sich dabei um die nostalgisch überhöhte Beschreibung einer Schulzeit an der Public School Rugby zur Zeit des Rektors Thomas Arnold. Koch erzählte ausführlich das Football-Match nach, das an Tom Browns erstem Tag in Rugby stattfand und bei dem die jüngeren Schüler durch eine starke Mannschaftsleistung gegen die körperlich überlegenen älteren bestanden.

      1878 beschrieb Koch den Charakter der Mannschaftsspiele im Programm des Martino-Katharineums ausführlich. Die 15-seitige Abhandlung „Der erziehliche Werth der Schulspiele“ war in Deutschland der erste Versuch, die englischen Spiele pädagogisch zu untermauern. Das ging im Land der Dichter und Denker nicht ohne Koryphäen; dementsprechend tief griff Koch in den Fundus der abendländischen Geistesgeschichte. Um aus Fußball angewandte Staatsbürgerkunde zu machen, bemühte er Plato, Aristoteles, Rosseau, Herbart, Jahn, GutsMuths und Thomas Arnold. Mit dessen Erziehungsmethode in Rugby, dem „self-government“ der Schüler, hatte Koch sich während seines Studiums beschäftigt.

      „Der besondere Vorzug der genannten englischen Spiele besteht eben darin, daß die Entscheidung in denselben zumeist nicht von hervorragenden Leistungen Einzelner, sondern von dem ‚Zusammenspiel‘ der Spielgenossen abhängig ist“, schrieb Koch. Er fuhr fort, „daß ein jeder nicht blos an seiner Stelle seine Schuldigkeit thut, sondern auch in jedem Augenblick seinen Mitspieler zu unterstützen, auf dessen Wünsche einzugehen bereit ist, kurz, sich in das Ganze seiner Spielgenossenschaft willig und eifrig einfügt“.25 Für die damalige Zeit war das ein moderner Gedanke. Koch verstand Fußball als den Spiegel einer Gesellschaft, die komplexer geworden war und Arbeitsteilung der Schüler erforderte.

      „Die Turnschulstunden aber, die eine an militärische Disciplin anstreifende Ordnung nöthig machen, beschränken die freie Bewegung des Einzelnen zu sehr und schließen einen Verkehr der Schüler unter einander innerhalb der Stunde völlig aus“, schrieb Koch.26 Sein Ziel war ein Gemeinschaftsgefühl, in dem Raum für Individualität blieb. In einer Kurzfassung seiner Schrift wurde Koch deutlicher. Eigenmotivation beim Spiel sei „nur zu erreichen auf dem Boden der Freiheit“.27 Von hier war der Weg zu einer Analogie von Spiel und Gemeinwesen nicht weit: Der moderne Nationalstaat ist ein Zusammenspiel von Gesetz und individuellen Entscheidungen. Dem entsprechen Übungsformen, die nicht auf Zwang beruhen und innerhalb der Gemeinschaft Raum für persönliche Entfaltung lassen. Die Spielregel wurde zum Äquivalent des Gesetzes, jede Fußballmannschaft zum Modellstaat.

      In einer zweiten Abhandlung setzte sich Koch auch mit dem physiologischen Wert der Spiele auseinander. „Schulspiele und Gesundheitslehre“, erschienen 1882 im „Monatsblatt für öffentliche Gesundheitspflege im Herzogtum Braunschweig“, trat den Nachweis an, dass sich Muskeln und Nerven bei Fußball und Cricket besser entwickeln als in der Turnhalle.

      Für das Cricket setzte sich Koch ebenso engagiert ein. Beide Spiele traten als zwei Seiten einer Medaille auf und waren in den ersten Jahren ähnlich erfolgreich. Fußball galt als Spiel für die Wintermonate, Cricket in Deutschland seinerzeit auch Thorball genannt wurde für den Sommer empfohlen. Tatsächlich spielten viele Fußballer gleichzeitig Cricket, zum Beispiel bei Eintracht Braunschweig. In den Vereinen für Rasenspiele abgekürzt VfR wurde außer Fußball auch Cricket und Tennis betrieben. Einer der ersten DFB-Vorläufer war 1891 der Deutsche Fußball- und Cricket-Bund. Und der 1889 gegründete Berliner Thor- und Fußball-Club Victoria, in dem damals der Fußballpionier Walther Bensemann Mitglied war, wurde 1908 und 1911 Deutscher Fußballmeister.

      Die Eindeutschung Thorball stammte aus Johann Christoph Fried-rich GutsMuths’ berühmtem Buch „Spiele zur Uebung und Erholung des Körpers und Geistes, für die Jugend, ihre Erzieher und allen Freunde unschuldiger Jugendfreuden“ aus dem Jahr 1796. GutsMuths war der zweite Gründervater der deutschen Turnbewegung. Sein Buch „Gymnastik für die Jugend“ von 1793 diente Jahn als Vorbild. Allerdings hatte GutsMuths’ Domäne, das Spiel, in der Turnbewegung mehr und mehr an Bedeutung verloren. Koch übernahm GutsMuths’ Begriff Thorball und veröffentlichte 1877 die „Regeln des Thorballs mit einigen Bemerkungen für Anfänger, einer Tafel und einem Plane“. Im gleichen Jahr schrieb er den Aufsatz „Vergleichung des englischen Thorballs mit dem deutschen Ballspiel ‚Kaiser‘“. Dort arbeitete er prinzipielle Unterschiede zwischen den Spielen beider Länder heraus.

      Kaiserball war damals ein anderer Name für Schlagball. Dort warf ein Spieler der einen Partei einen Ball in die Höhe, den ein Spieler der anderen mit einem Schlagholz wegbefördern musste. Gelang dies, durften die Mitspieler des Schlägers zwischen zwei markierten Zonen hin- und herlaufen und bekamen dafür Punkte. Die andere Partei versuchte, den Ball aufzufangen und damit die laufenden Gegner abzuwerfen. Unverkennbar ist eine Ähnlichkeit zum Baseball, die auch durch die deutsche Übersetzung des Ballwerfers zum Ausdruck kam: Er hieß Einschenker der englische Pitcher ist zugleich der Begriff für einen Bierkrug.

      Cricket, referierte Koch, ähnelt dem Schlagball. Ein Spieler wirft, einer schlägt, die „runs“ ergeben die Punkte. Aber: Beim Schlagball war das Werfen des Balles eine bloße Formalität, damit das Spiel in Gang kam. Der Einschenker hatte ein Interesse daran, dass der Schläger den Ball trifft. Beim Cricket bestand die Kunst darin, so hart oder geschickt zu werfen, dass der Schläger den Ball verfehlt und das Tor hinter ihm getroffen wird. Das Ergebnis war stärkerer Wettbewerb. Koch fasste zusammen, „erstens dass unsere beiden Spiele in Bezug auf Einschenken, Schlagen, Aufpassen in den Grundforderungen eine unverkennbare Ähnlichkeit besitzen, zweitens dass Thorball in bei weitem höheren Grade als Kaiser für alle drei Thätigkeiten Kraft und Gewandtheit, Sicherheit und Schnelligkeit erfordert“.28

      „Es ist etwas anderes, einen Ball an einer Stelle einfach ein Paar Fuß hoch in die Luft zu werfen und auf eine Entfernung von 20 Meter das gegenüberliegende Thor zu treffen“, bekräftigte Koch 1878 in der Abhandlung „Cricket als Schulspiel“.29 Damit hatte er zugleich einen wichtigen Punkt herausgearbeitet, der die enorme Beliebtheit der englischen Spiele bei seinen Schülern erklärte. Es gab schlichtweg keine deutschen Spiele, die so einfach zu lernen waren wie Cricket oder Fußball und doch so viele Herausforderungen bereithielten.

      Weil er mit Hermann die Erfahrung gemacht hatte, dass sich gerade ältere Schüler nicht mehr für die Schulspiele seiner Jugend interessierten, sah Koch in den englischen Spielen die Lösung. Sie waren definitiv modern, weil sie mehr Wettbewerb boten und komplexer und körperbetonter praktiziert wurden als Schlagball, Drittenabschlagen oder Wanderball. In der Tat haftete den vielen Spielesammlungen in der Nachfolge GutsMuths’ etwas höchst Altertümliches an. In ihnen finden sich auch Sackhüpfen oder Eierlaufen Spiele, die bis heute auf dem Kindergeburtstag Hochkonjunktur haben. Anders ausgedrückt: Während die deutschen Turnspiele miteinander gespielt wurden, gab es bei den englischen Spielen ein klares Konkurrenzverhältnis. Noch dazu übten sich die Schüler durch das Prinzip des fairen Wettbewerbs spielend in die Parameter von Bürgertum, Liberalismus und Freihandel ein.

      Man kann es eine moderne Theorie der Spiele nennen, woran Koch damals arbeitete. Ende der 1870er Jahre war sie in ihren Grundzügen komplett. Die neuen englischen Spiele waren attraktiv, weil es wirklich um Gewinnen und Verlieren ging und der Erfolg Tor oder nicht Tor messbar und für jedermann verständlich war. Sie passten in die Zeit, weil sie durch vergleichsweise komplexe Regeln die alten ländlichen Spieltraditionen hinter sich ließen. Und sie waren erzieherisch wertvoll im Rahmen einer modernen Reformpädagogik, die in den Jugendlichen nicht mehr bloß Empfehlsempfänger in der Turnhalle sah.

      Die Spielbewegung

      „Doch wollen wir mit dem Erreichten uns nicht begnügen und

      den zahlreichen Schulen, die noch keinen Versuch mit dem Fußball gemacht haben,

      immer


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