Der Fußball-Lehrer. Malte Oberschelp

Der Fußball-Lehrer - Malte Oberschelp


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im Mai 1872 hatte der Oberlehrer Corvinus versucht, die Schüler des Braunschweiger Elite-Gymnasiums in Bewegung zu bringen. Er und Koch waren schon als Schüler aufs Martino-Kathari-neum gegangen und hatten sowohl im Zuge des Schulturnens als auch aus freien Stücken häufig Ball gespielt. Doch jetzt stellten sie erschrocken fest, „daß alle die einst so beliebten Spiele, wie Barlaufen, Kaiserball, Ballschlagen und so weiter, der Schuljugend vollständig unbekannt geworden waren“.4 Das einzige Spiel, das die Schüler kannten, war Räuber und Soldaten was die Lehrer moralisch bedenklich fanden, aber mangels Alternativen fast ausschließlich spielen ließen.

      Weitere Untersuchungen der Schule ergaben, dass die Mehrheit der Schüler kaum einmal aus der Stadt herauskam und einen Großteil der Freizeit in geschlossenen Räumen verbrachte. Braunschweig erlebte in diesen Jahren wie viele deutsche Städte eine Bevölkerungsexplosion. 1850 hatte die Einwohnerzahl 38.000 betragen, knapp 40 Jahre später erreichte sie 100.000. Die industrielle Revolution machte aus der beschaulichen Residenzstadt eine Großstadt. Kochs Bemühungen waren deshalb auch eine Reaktion auf Landflucht und Industrialisierung und in den interaktiven englischen Mannschaftsspielen, die er propagierte, mag man jene komplexer gewordenen industriellen Prozesse zugleich auf dem Spielfeld gespiegelt sehen.

      Ein zweiter Grund war die Entwicklung des Turnens. Turnvater Jahn hatte die Übungen 1812 unter freiem Himmel etabliert im paramilitärischen Stil und als Teil der Befreiungskriege gegen die französische Besatzungsmacht. Doch während der sogenannten Turnsperre von 1820 bis 1842, als das Turnen auf frei einsehbaren Plätzen in Preußen verboten war, verlagerte sich die Bewegung in Turnhallen und an die Schulen. Denn nur in geschlossenen Räumen und als Schulfach blieb das Turnen legal. Die Hallen allerdings waren häufig schlecht belüftet und beleuchtet, weshalb Koch und seine Mitstreiter mit den Spielen in freier Natur einen Ausgleich schaffen wollten.

      „Hatte nicht der aufmerksame Beobachter bei seinen Spaziergängen durch Feld und Wald schon seit längerer Zeit die früher so laut und hörbar draußen lärmende männliche Jugend fast gänzlich vermißt?“, fragte Koch. „Wußte nicht dagegen auch ein jedes Kind auf der Straße ganz genau, wo regelmäßig an bestimmten Stellen in der Stadt zu bestimmten Stunden die bunten Gymnasiastenmützen stets in größerer Menge zusammen zu sehen waren?“5 Das war eine Anspielung auf die regelmäßigen Kneipentouren der Oberschüler. Mit den traditionellen deutschen Spielen gelang es Koch nicht, die Schüler vom Wirtshausbesuch abzuhalten, selbst wenn bei der Teilnahme der Erlass von Hausaufgaben lockte. Das schaffte erst der Fußball.

      Schon bald kamen die Schüler gerne auf den Exerzierplatz. Schnell wurde neben dem Mittwoch- auch der Sonnabendnachmittag zum Spielen freigegeben. Die Zahl der teilnehmenden Schüler stieg 1874 auf 40 und 1875 auf 60 an. Da Fußball bei Koch nur im Winter gespielt wurde, war die Zahl der Spielnachmittage 1874/75 waren es 20 stark witterungsabhängig. Die Teilnahme war freiwillig, aber immerhin bildete sich unter den Sekundanern und Tertianern ein harter Kern. Koch vermerkte stolz, aber sicherlich etwas übertrieben: „Um so mehr blühte unter den regelmäßig Spielenden die edle Kunst des Fußballs und wurde zu einer solchen Vollkommenheit entwickelt, daß sie nach dem Urteile Kundiger durchaus nicht hinter der von englischen Knaben und Jünglingen im gleichen Alter zurückblieb.“6

      Koch, der zur Zeit der Fußballpremiere zum Oberlehrer befördert wurde, war regelmäßig mit am Ball bis ins 40. Lebensjahr. Auch das eine Neuerung, die mit den englischen Spielen Einzug hielt: Die Lehrer waren ausdrücklich dazu angehalten, mit den Schülern zusammen zu spielen. Die Aufsichtsperson wurde zum Mannschaftskameraden gegenüber den autoritärem Turnstunden bedeutete das einen enormen Modernisierungsschub. Koch befürwortete auch, dass die Schüler etwaige Streitigkeiten auf dem Platz selber schlichteten. Die Teams, eingeteilt nach Klassen, blieben dazu das ganze Sommer-oder Winterhalbjahr die gleichen. Jede Mannschaft wählte zu Beginn des Halbjahres einen Spielkaiser, Kochs altertümliche Bezeichnung für den Captain, der dann für den korrekten Ablauf der Spiele zuständig war.

      Ein Jahr nach der Einführung des Fußballs versuchten es die Pädagogen mit einem zweiten Import aus England. „Nun bestand aber gerade gegen Cricket unter den leitenden Lehrer ein sehr starkes Vorurtheil“, erinnerte sich Koch. „So wurde denn von ihnen absichtlich die Wahl dieses Spieles vermieden zu Gunsten des amerikanischen Eckballs (Base-ball).“7 Doch die Zahl der teilnehmenden Schüler blieb gering, Baseball setzte sich nicht durch.

      Cricket fand dagegen seinen Weg nach Braunschweig, und zwar genauso wie in vielen anderen deutschen Städten der Fußball: mit englischer Hilfe. Koch beschreibt die erste Cricket-Partie so: „Aber siehe da, ein junger Engländer, der damals unser Gymnasium besuchte, brachte ohne vorherige Erlaubnis eines Tages eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Beginn der Schulspiele seine eigenen Spielgeräte auf den Platz, und als der die Aufsicht führende Lehrer erschien, fand er zu seiner nicht geringen Überraschung das Spiel schon im besten Gange.“8 Den skeptischen Kollegen blieb nichts anderes übrig, als das zunächst verpönte Treiben in den Spielekanon aufzunehmen: „Aber wenn die Lehrer auch gewollt hätten, sie hätten nun nicht mehr das Cricket vom Spielplatze fernhalten können; so sehr hatte es sich, ähnlich wie Fußball, im Fluge die Herzen der Jugend gewonnen.“9

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      „Nur von den besten Bestandtheilen“: Werbung für Cricket-Ausrüstungen, „Spiel und Sport“, 1893.

      Die Beliebtheit des Cricket schlug sich in der Zahl der spielenden Schüler nieder: Sie stieg bis 1878 auf 109 an. Im gleichen Jahr geschah, was Koch die „Verstaatlichung“10 der Spiele nannte. Das Herzogtum Braunschweig, im Deutschen Reich eine Art Bundesland mit eigenen Verwaltungsstrukturen, integrierte zwei Spielnachmittage offiziell in den Gymnasiallehrplan. In Folge dessen wurde die Beaufsichtigung der Schüler zur Arbeitszeit der Lehrer erklärt. Dazu bewilligte die Schulbehörde einen jährlichen Etat von 200 Reichsmark zur Beschaffung von Spielgeräten. Die Summe hätte für einige Fußbälle gereicht: Anfang der 1880er Jahre kostete ein Ball über zehn Mark, bevor der Preis mit zunehmender Beliebtheit des Spiels sank. Um 1890 wurden englische Import-Leder mit 6,50 Mark pro Stück beworben.

      1879 wurde Mitspielen für alle zehn Klassen des Gymnasiums Pflicht. Das betraf allerdings nicht das Fußballspiel im Winterhalbjahr. Hier blieb die Teilnahme freiwillig. Trotzdem jagten 1881/82 nach zwei harten Wintern 110 Schüler dem Ball nach. Wieder lobte Koch stolz: „Das feine Spiel, das die jetzigen Spieler ausgebildet haben, übertrifft noch alle früheren Leistungen; die Sicherheit und Kraft, womit der Ball von den besten Spielern im Platzstoß oder Fallstoß getreten wird, ist eine außerordentlich große.“11 Ein Platzstoß war in Kochs Terminologie aus dem Regelheft von 1875 eine Art Freistoß, ein Fallstoß ein Dropkick. Zu kritisieren hatte der Trainer nur eines: „Am schwächsten sind verhältnismäßig noch die Stürmer, denen es meistens bisher an ausreichender Übung im Dauerlauf gefehlt hat.“12 Heute nennt man das wohl mangelnde Defensivarbeit.

      Um den Schülern einen zusätzlichen Anreiz zu geben, entschlossen sich die Braunschweiger Lehrer zur Einführung eines Sommerturniers samt sogenannter Wettspiele. Darunter verstand man damals eine Art Freundschaftsspiel, zum Beispiel zwischen zwei Schulklassen. Ihr Nutzen oder Nachteil war eine vieldiskutierte Streitfrage, weil sie das Konkurrenzprinzip sowie mess- und nachvollziehbare Ergebnisse einführten. Die bisher vorherrschende Leibesübung, das Turnen, kannte beides nicht. Eine Turnriege turnte miteinander, nicht gegeneinander. Wettkämpfe wurden im Turnalltag weitgehend vermieden. Und wenn sie bei Turnfesten ausnahmsweise zugelassen waren, erschloss sich die Bewertung der Teilnehmer nur dem Kenner. Doch in einem Fußballwettspiel konkurrierten zwei Mannschaften um den Sieg, der durch die Zahl der Tore für jedermann nachvollziehbar war. Diese beiden Faktoren trugen entscheidend zur Beliebtheit der englischen Spiele bei der deutschen Schuljugend bei.

      Jedes Jahr traten die Schüler des Martino-Katharineums fortan zu Wettkämpfen an, die sich mit lokalen Bundesjugendspielen vergleichen lassen. Die oberen Klassen absolvierten einen griechischen Fünfkampf, die unteren maßen sich im Laufen, Ballwerfen und Ringen. Die besten Spieler der mittleren Klassen traten zu einem Cricket-Wettkampf an. „Wie belebend derartige Schaustellungen auf den regelmäßigen Betrieb der Spiele einwirken, begreift sich leicht“, befand Koch.13


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