Der Fußball-Lehrer. Malte Oberschelp

Der Fußball-Lehrer - Malte Oberschelp


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gehalten auf der Versammlung des Nordwestdeutschen Turnlehrer-Vereins zu Braunschweig,

      am 24. October 1886 (Braunschweig 1887, Seite 9)

      Koch hatte sich in seiner Heimatstadt als Mentor der englischen Spiele einen Namen gemacht. Außerhalb kannte ihn nur jene kleine Schar von Experten, die Fachzeitschriften las. Oder ihn besuchte: 1880 kamen zwei Schulmänner aus Gütersloh und Halberstadt vorbei, um sich über die neuen Schulspiele zu informieren. Dazu gab es einige schriftlichen Anfragen. Kochs Renommé wuchs auf einen Schlag, als der preußische Kultusminister Gustav von Goßler am 27. Oktober 1882 den sogenannten Spielerlass verfügte. Der Minister, nach dem in Berlin zwei Straßen benannt sind, empfahl den ihm unterstellten Schulbehörden nicht nur genau das, was Koch in Braunschweig durchgesetzt hatte. Der „Ministerial-Erlaß, betreffend die Beschaffenheit von Turnplätzen zur Förderung des Turnens im Freien und zur Belebung der Turnspiele“ erwähnte darüberhinaus Koch persönlich und empfahl dessen Schrift „Zur Geschichte und Organisation der Braunschweiger Schulspiele“ als Lektüre.

      „Öfter und in freierer Weise, als es beim Schulturnen in geschlossenen Räumen möglich ist, muß der Jugend Gelegenheit gegeben werden, Kraft und Geschicklichkeit zu bethätigen und sich des Kampfes zu freuen, der mit jedem rechten Spiel verbunden ist“, hieß es im Erlass.1 Auch von Goßler stufte die Dominanz des Schulturnens in geschlossenen Hallen als schädlich ein. Sein Schreiben betonte weiter, „daß mit dem Turnplatz eine Stätte gewonnen wird, wo sich die Jugend im Spiel ihrer Freiheit freuen kann und wo sie dieselbe, nur gehalten durch Gesetz und Regel des Spiels, auch gebrauchen lernt“.2 Das war eine ähnlich moderne Bewertung der spielerischen Freiheit, wie sie auch Koch vorgenommen hatte.

      Den Braunschweiger Schulmann dürfte auch gefreut haben, dass das preußische Ministerium dem Spiel ebenfalls erzieherische Wirkung zumaß. Es „lehrt und übt Gemeinsinn, weckt und stärkt die Freude am thatkräftigen Leben und die volle Hingabe an gemeinsam gestellte Aufgaben und Ziele“, wie es im Erlass heißt.3 Der Kultusminister sah das Spiel als Motor einer modernen Persönlichkeitsentwicklung, genau wie Koch es in seiner theoretischen Schrift „Der erziehliche Werth der Schulspiele“ 1878 ausgearbeitet hatte.

      Sodann empfahl von Goßler eine Reihe von Spielebüchern, natürlich beginnend mit dem Ahnherrn des Genres, GutsMuths’ „Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und des Geistes“. Anschließend zählte er diejenigen Leibesübungen auf, die vom Ministerium für besonders vorbildlich befunden wurden. Neben Treibball, Schlagball, Kreisball, Stehball und diversen Laufspielen wie Barlauf finden sich in dieser Liste auch Kochs englische Spezialdisziplinen: Fußball und Cricket.

      Von Goßler war nicht der Einzige, der sich um die Jugend sorgte. Bereits 1881 veröffentlichte der Düsseldorfer Amtsrichter Emil Hartwich die Schrift „Woran wir leiden“. Sie trug den Untertitel „Freie Betrachtungen und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule“ und erregte reichsweit Aufsehen. Im Stile eines Predigers klagte Hartwich ein Schulsystem an, das die Gymnasiasten im Industriezeitalter immer noch mit den alten Sprachen traktierte. Er wetterte gegen die „Gehirnüberreizung“,4 „unsere moderne Staub- und Stuben-Pädagogik“5 sowie „die brodlose Kunst, lateinisch und griechisch schriftstellern zu können“.6 Alle Übel der Moderne wurden einer Ursache zugeschrieben: dem Mangel an körperlicher Bewegung. Als Beleg für eine überforderte Schuljugend musste gar die Verbrechensstatistik samt Sittlichkeitsdelikten sowie die zunehmende Kurzsichtigkeit herhalten: „Wenn der große Cäsar heute lebte, würde er sicher eine Brille tragen!“7

      Heute klingt das grotesk. Damals war die sogenannte Überbürdung der Schuljugend eine vieldiskutierte Frage. Zahlreiche Vereine und Gesellschaften, in denen sich vor allem das nationalliberale Bildungsbürgertum engagierte, begannen für eine umfassende Schulreform zu plädieren. Viele dieser Vereine stammten aus der Hygienebewegung, die durch das Votum von Ärzten und Naturwissenschaftlern unterstützt wurde. Es ging um zu wenig frische Luft in geschlossenen Räumen, die Folgen zu langen Sitzens und zu wenig Bewegung der Schüler. Die Diskussion beeinflusste eine Statistik, derzufolge im Herzogtum Braunschweig sechs Gymnasisaten in die Irrenanstalt eingewiesen worden waren. Oder ein ärztliches Gutachten des Kaiserlichen Statthalters in Elsass-Lothringen, das dem Schulturnen Nachholbedarf attestierte.

      Im Sammelbecken der Reformer entwickelte sich eine eigene Richtung, die sich speziell für mehr Schulspiele einsetzte und heute Spielbewegung genannt wird. Emil Hartwichs Streitschrift gehörte zu ihren entscheidenden Anstößen, und Koch wurde eine ihrer zentralen Figuren. Nach und nach kamen im Verlauf der 1880er Jahre weitere Protagonisten dazu und nahmen Kontakt untereinander auf. Dabei baute die Spielbewegung unmittelbar auf die bisherigen Reformvereine auf. Der Sozialwissenschaftler Eerke U. Hamer, der „Die Anfänge der ‚Spielbewegung‘“ detailliert beschrieben hat, beurteilt von Goßlers Spielerlass zum Beispiel als eine Reaktion auf den Druck der Hygiene-und Schulreformvereine.

      Auch in Braunschweig gab es einen solchen Verein. Kochs Schwiegervater Friedrich Reck war in der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte aktiv, aus der einst der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hervorgegangen war. 1877 gründete er einen Braunschweiger Ableger, den Verein für öffentliche Gesundheitspflege im Herzogtum Braunschweig. Koch war Mitglied und publizierte in der Monatsschrift des Vereins mehrfach über seine Erfahrungen mit den Schulspielen am Martino-Katharineum. In „Die Beseitigung des Nachmittags-Unterrichts und die Schulspiele“ plädierte er beispielsweise dafür, den Stundenplan zu straffen und mehr als nur zwei Nachmittage zum Spielen freizugeben.

      Im Niederrheinischen Verein für öffentliche Gesundheitspflege wiederum war Emil Hartwich Mitglied, und seine Schrift „Woran wir leiden“ traf den Nerv der Zeit. Sie erlebte in rascher Folge zwei weitere Auflagen und drei Übersetzungen. 1885 wandte sich Prinz Wilhelm von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm II., an Hartwich und pflichtete ihm eingedenk seiner eigenen Schulzeit an einem altsprachlichen Gymnasium in Kassel bei. Die Diskussion hing auch damit zusammen, dass viele Abiturienten für das prestigeträchtige Einjährige der Wehrdienst unterhalb der Offizierslaufbahn untauglich waren. „Leider entbehren aber gerade die Schwächlichsten dieser energischen Korrektur durch den Unteroffizier“, bedauerte Hartwich.8 Eine Lösung war auch für ihn der Rückgriff auf die englischen Tugenden, auf Fußball und Cricket. Hartwich rief den Centralverein für Körperpflege in Volk und Schule ins Leben, der unter anderem die englischen Spiele fördern sollte.

      An diesen Gleichgesinnten wollte sich Koch 1883 in einem offenen Brief wenden, der zur Veröffentlichung in Hartwichs „Korrespondenzblatt des Centralvereins für Körperpflege“ gedacht war. Die Zeitschrift erschien allerdings nur unregelmäßig und fand nach fünf Ausgaben ein Ende, als Hartwich Ende 1886 in einem Duell ums Leben kam ausgerechnet auf der Berliner Hasenhaide, Jahns erstem Turnplatz. Der Düsseldorfer Amtsrichter hatte mit der unglücklich verheirateten Elisabeth von Ardenne angebändelt und mit ihr eine geheime Korrespondenz unterhalten. Als der Ehemann, ein Baron und Adjutant des Kriegsministers, die Briefe entdeckte, forderte er Hartwich auf Pistolen. 1895 hörte Theodor Fontane von der Geschichte und machte daraus den Roman „Effie Briest“. Für die Titelheldin stand Elisabeth von Ardenne Pate, ihren Verehrer Major Crampas gab Emil Hartwich. Der streitbare Amtsrichter schaffte es noch nach seinem Tod, für Furore zu sorgen.

      Kochs offener Brief erschien daher erst 1888 nach Hartwichs Tod. Mittlerweile war er zum Professor ernannt worden, was im damaligen Schuldienst in etwa einem Studienrat entsprach. Abgesehen von minimalen Differenzen über die Rolle der Schule die Koch als Lehrer aus Leidenschaft natürlich erheblich positiver bewertete stimmte er Hartwichs Philippika „Woran wir leiden“ erfreut zu. Erneut beschwor er die erzieherische Wirkung der Spiele und lobte den Fußball. „Giebt es doch für unser brustschwaches Geschlecht keine heilsameren Übungen als der Dauerlauf im Sommer und das Fußballspiel im Winter“, schrieb Koch.9

      Der Überblick über die Entwicklung in Braunschweig, den Koch gegen Ende des Briefes gab, war 1888 allerdings nicht mehr ganz up to date. Nachdem die höheren Schulen der Stadt jahrelang munter gegeneinander gekickt hatten, war es für Koch nur ein konsequenter Schritt zur Erfindung des Auswärtsspiels. Am 15. November 1886 machten die 15 besten Spieler des Göttinger


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