Der Fußball-Lehrer. Malte Oberschelp

Der Fußball-Lehrer - Malte Oberschelp


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habe das Spiel „einen erfreulichen Verlauf genommen“.10 Das Ergebnis hat er nicht mitgeteilt.

      Am 22. März 1887 reisten die Braunschweiger zum Rückspiel nach Göttingen, das ebenfalls auf eine längere Fußballtradition blicken konnte. Das dortige Schulteam war 1879 gegründet worden. 1888 trat Kochs Anstalt gegen das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium aus Hannover an, einer Hochburg des Rugby-Fußballs. An dieser Schule war Ernst Kohlrausch Lehrer, der damals zugleich Vorsitzender des Nordwestdeutschen Turnlehrer-Vereins war. 1883 hatte er mit seinem Kollegen Alwin Marten ein Kompendium über „Turnspiele“ herausgebracht, dessen Fußballregeln sich unter anderem auf diejenigen Kochs beriefen.

      Die Schulspiele, zuvorderst die englischen Rasenspiele, breiteten sich aus zumindest in Norddeutschland. 1887 listete Koch eine Absatzstatistik der Braunschweiger Firma Dolffs & Helle auf, die zu den ersten Fußballherstellern in Deutschland gehörte. Demnach hatte das Unternehmen, das als „Deutsche Cricket- und Fußballindustrie“ Werbung machte und bereits seit 1883 Bälle der Londoner Firma Lillywhite importierte, insgesamt 297 Schulen, Schulturngemeinden und Turnvereine beliefert. 23 davon kamen aus dem Herzogtum Braunschweig, die meisten der übrigen aus Nord- und Westdeutschland.

      Unter diesen Spielgeräten wird auch mancher Fußball gewesen sein. „In den letzten zehn Jahren hat dieses herrliche Spiel sich über ganz Deutschland ausgebreitet, ist sogar von hier aus über seine Grenzen weiter gedrungen und hat überall einen so glänzenden Erfolg gehabt, daß ich zum Lobe desselben […] wohl kein Wort mehr zu verlieren brauche“, behauptete Koch 1887 in seinem Vortrag auf der Versammlung des Nordwestdeutschen Turnlehrer-Vereins.11 Drei Jahre später gab er an, außer in Braunschweig habe man sich auch in Bremen, Bützow, Celle, Goslar, Göttingen, Gütersloh, Halberstadt, Holzminden, Lüneburg, Magdeburg und Wiesbaden an die Einführung der neuen englischen Schulspiele gemacht.

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      „Fußbälle, rund und oval“: Werbung der Braunschweiger Firma Dolffs & Helle auf der Rückseite von Kochs Schrift „Wodurch sichern wir das Bestehen der Schulspiele auf die Dauer?“, 1887. Unten wird auf Kochs Fußball- und Cricketregeln hingewiesen.

      Dieser positiven Bilanz stehen allerdings zahlreiche Aussagen gegenüber, die in der Zeit nach dem Spielerlass eine Stagnation beklagen. Es schien, auch das sagte Koch in seinem Vortrag, „als sei auf die Flutwelle, die unser Schiff in den sichern Hafen zu tragen verhieß, nicht die vorhergesagte Ebbe gefolgt, nein! geradezu eine mächtige Gegenströmung“.12 Zum einen lag das daran, dass von Goßlers Ministerialerlass keinerlei politische Verbindlichkeit bedeutete. Ob die Schuldirektoren auf ihn reagierten, hing allein vom persönlichen Engagement ab. Und mit Finanzmitteln aus dem Ministerium konnten sie auch nicht rechnen.

      Das Leipziger Realgymnasium zum Beispiel hatte 1883 gegen viele Widerstände einen Spielplatz von der Stadt erhalten. Der verursachte Kosten zwischen 360 und 420 Mark pro Jahr, die nur mit Hilfe der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt zu stemmen waren. „Die teuren Fußbälle sind hier in erster Reihe zu erwähnen und es will mir scheinen, da ihre Dauerhaftigkeit in keinem Verhältnis zu dem hohen Preise von 13 bis 16 Mk. steht, man habe immer noch nicht einen festen, guten, den vielen Stößen entsprechend ausgestatteten Ball erfunden“, berichtete der für den Platz zuständige Lehrer H. W. Wortmann.13 Auch er hatte Bälle von Dolffs & Helle in Braunschweig bezogen. Besonders die oberen Jahrgänge der Schule spielten begeistert Rugby. Ein zweites Problem war im Übrigen das Lehrerkollegium: Für schlechte Leistungen in der Schule wurde allzugern der Spielplatz haftbar gemacht. Ohne die Schulleitung, die hinter dem Projekt stand, hätte der Platz keine Zukunft gehabt.

      Auch nicht gerade für Klarheit sorgte, dass von Goßlers Erlass eine wahre Inflation von Spielbüchern nach sich zog. Spielflut, Spielsucht, Spielkrawall mit solchen Begriffen kommentierten Zeitgenossen die Entwicklung. 1883 kamen „134 Spiele im Freien für die Jugend“ von Ernst Lausch und „Turnspiele für Deutschlands Jugend“ von E. Lier auf den Markt. 1884 folgte „Das Bewegungsspiel“ von Eduard Trapp und Hermann Pinzke, das allein 200 Spiele enthielt. Das Spektrum reichte von Wanderball, Armbrustschießen, Stelzenlaufen und Der Plumpsack geht herum bis Der blinde Wegweiser oder Die Piep-Blindekuh. Ganz zu schweigen von Spielen wie Hämmerchen vermieten und Der Bär kommt heraus.

      Alle drei Sammlungen beriefen sich im Untertitel ausdrücklich auf den Ministerialerlass. Seinem Inhalt entsprachen sie kaum. Immerhin enthielten zwei von ihnen Cricket, und alle drei verzeichneten im Inhaltsverzeichnis ein Spiel namens Fußball allerdings nicht den Fußball Kochs. Vorgestellt wurde ein Spiel, das früher als Kreisfußball bekannt war und bei dem ein Spieler in der Mitte eines Kreises den Ball ins Freie befördern muss: eine Art Spiegelbild des fünf gegen zwei, wie es heutzutage jede Profimannschaft im Training spielt. Doch gerade für die avisierte Zielgruppe der älteren Schüler war wenig Brauchbares dabei.

      Auch Koch gab zu, dass es „unter vielem Wertlosen und manchem geradezu Verkehrten nur ganz vereinzelt brauchbare Anweisungen“ unter den Neuerscheinungen gab. „Verantwortlich aber wurde für die Mißerfolge […] nicht derjenige gemacht, der die Sache ohne richtige Einsicht und verkehrt angefaßt oder sie nur lau betrieben hatte“, klagte er, „die Schuld fiel auf die Spiele selbst zurück.“14 Es fehlte an Fachleuten, Organisation und Geld. Während die Fußballbewegung der Sportsleute Fortschritte machte und sich einige Vereine gründeten, trat die Spielbewegung der Turner Mitte 1880er Jahre auf der Stelle.

      Auch deshalb, weil viele Turner ihre Autorität untergraben sahen. Sie kamen sich vor wie ein alter Wandersmann, der plötzlich den Wald vor lauter Mountainbikern nicht mehr sieht. „Kalt und nüchtern, gewappnet bis an die Zähne, eisig und frostig standen uns im Dienste unserer Turnerei ergraute Männer gegenüber“, berichtete Wortmann aus Leipzig.15 Viele Turnlehrer hatten der Spielbewegung von jeher skeptisch gegenübergestanden. Obwohl in den Turnvereinen kaum noch gespielt wurde, verwies man leicht beleidigt darauf, dass schließlich schon Jahn und vor allem GutsMuths die Bedeutung der Spiele erkannt hatten.

      Als GutsMuths’ Spielbuch, das von Koryphäen der Turnbewegung regelmäßig aktualisiert und erweitert wurde, 1885 in der siebten Auflage erschien, beschwerte sich der Chemnitzer Oberturnlehrer Moritz Zettler in einer Rezension über die neuen Spielesammlungen: „Auf mich machte diese emsige Herausgabe solcher Werke, von denen wohl die meisten, ohne irgend einen Verlust wach zu rufen, schon wieder verschollen sind, den Eindruck, als ob man gar nicht die alte classische Quelle ‚Spiele zur Uebung und Erholung des Körpers und Geistes‘ von GutsMuths gekannt hätte.“16 Dann kam Zettler auf den Punkt: „Ja man that mitunter auch so, als ob die bisherigen Träger der Turnsache sich um die Belebung und Förderung des Spielbetriebes der heranwachsenden Jugend ganz und gar nicht gekümmert hätten.“17 Dass in dieser Neuauflage von GutsMuths’ Buch zum ersten Mal beide Spielarten des englischen Fußballs aufgenommen worden waren, erwähnte Zettler nicht.

      1888 lieferte sich Zettler in der „Deutschen Turn-Zeitung“ dann einen Strauß mit August Hermann, der erneut eine Lanze für Neuerungen brach und etwa das Geräteturnen durch volkstümliche Übungen ergänzen wollte. Auch dort verteidigte Zettler das Turnen und schimpfte über die Folgen des Spielerlasses von 1882: „Ich freue mich, daß diese Spielsucht wieder geschwunden ist.“18 Fünf Jahre später ergänzte er die vielen Bibliotheksmeter an Spielliteratur um ein eigenes Werk wobei man fairerweise sagen muss, dass Zettlers „Die Bewegungsspiele. Ihr Wesen, ihre Geschichte und ihr Betrieb“ eher eine weltweit angelegte Studie über Spiele als eine simple Regelsammlung war.

      Trotz aller Hindernisse sorgten die Reformvereine dafür, dass das Thema Schulspiele auf der Tagesordnung blieb. Mitte der 1880er Jahre nahm der Druck wieder zu. Einer der Gründe war, dass ein deutscher Lehrer auf Staatskosten nach England gefahren war, um die Rolle der Schulspiele an den Public Schools zu studieren. Er hieß Hermann Raydt und reiste quasi mit den besten Wünschen von Reichskanzler Otto von Bismarck. Der hatte die Schönhausen-Stiftung ins Leben gerufen, die nach seinem Geburtsort benannt und für Lehramtskandidaten an höheren Schulen gedacht war. Raydt war einer der ersten Stipendiaten.

      Der zukünftige Lehrer aus Ratzeburg besuchte im Sommer 1886 zwei Schulen in Schottland sowie das Eton College in Windsor,


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