Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
und pflege sie.
Von Martins Tod kann ich nicht erzählen. An wen ich mich in diesen Nächten hingegen mit erstaunlicher Klarheit erinnere, das ist die Frau, die ich eigentlich nie kennengelernt habe. Es ist jetzt bald vierundzwanzig Jahre her, seit sie gestorben ist. Ich erinnere mich, wie ich als Elfjährige auf der Treppe der Pension in Roslagen saß, wo meine Eltern und ich übernachtet haben, auf dem Weg zu einem Segellager, von dem wir meinen Bruder Sam abholen wollten. Schon früh am Morgen war es drückend heiß, und ich saß barfuß dort draußen und warf kleine Steine auf den Weg. Man trug die Frau auf einer Bahre heraus. Diese war mit einem Laken überdeckt, um die Tote vor den neugierigen Blicken der Lebenden zu schützen. Nur ihre Konturen waren durch das Baumwollgewebe sichtbar: Knie, Brust, Nase und Stirn. Ein paar Haarsträhnen hingen heraus, sie waren rotbraun; und das war alles, was ich von der Frau zu sehen bekam. Eigentlich gab es nicht viele Neugierige: die Pensionsinhaber, eine Familie mit Kindern, meine Eltern und mich. Und dann natürlich einige Polizisten, sie liefen schwitzend in der Hitze umher, mit müden Blicken, die nicht mehr neugierig waren auf Blut wie die von uns anderen. Ich weiß noch, wie einer von ihnen, ein dicker, sommersprossiger, mürrischer Mann, über die Frau auf der Bahre sagte: »Diese ewigen Familienstreitigkeiten ...«
Ich warf einen Stein und fiel zusammen mit ihm hinunter. Mutter trug mich in die Kühle hinein – »Was macht sie hier draußen, sie muß das doch nicht sehen!« –, legte ihre Hand auf meine Stirn und strich mir das Haar aus dem Gesicht, so wie es nur Mütter tun, so wie ich wünschte, daß sie es auch jetzt in den Nächten für mich tun könnte.
»Savanna«, sagte sie sanft. »Liebling, du bist nur bewußtlos geworden. Es ist nichts Schlimmes.«
»Die Hitze!« rief jemand und kam mit eiskaltem Saft über die knarrenden Dielen geeilt.
Ich erinnere mich an die Kopfschmerzen, die einsetzten, als das Glas halb geleert war.
»Der Schock«, sagte ein anderer, und dann murmelnde Zustimmung – schlechtes Gewissen gepaart mit Erleichterung, weil ich aufgewacht war.
Birnensaft gegen den Schock? In der Verwirrung bekam ich zwei Gläser voll.
Ein Mann betrat den Raum, füllte ihn aus und übernahm ihn, ohne daß jemand wußte, wie es zugegangen war. Doch schon damals begriff ich, was es war: der Blick des Mannes, seine Ausstrahlung. Er war jemand, dem man alles erzählen, dem man vertrauen wollte. Seine weiche Stimme ertönte über mir, meine Mutter stimmte ein, und es klang wie Melodien, die mich erfaßten.
»Der Polizist will dich etwas fragen, nach dem, was heute nacht passiert ist«, sagte Mutter vorsichtig und schüttelte mich ein wenig.
Ich bewegte abwehrend den Kopf, bekam Schüttelfrost, mir klapperten die Zähne, ich bettelte darum, in ihren Armen bleiben zu dürfen, wollte mich nicht hinstellen, nie mehr, ach bitte.
Meine Mutter antwortete für mich: »Du hast also nichts gesehen?«
Ich nickte krampfhaft. Der Mann, der Polizist in einem oben aufgeknöpften Sommerhemd, beugte sich über mich.
»Kannst du uns mit irgend etwas helfen? Bei dem, was heute nacht passiert ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher? Hast du überhaupt nichts gesehen? Nichts gehört?«
Wieder nein.
»Der Schock«, sagte jemand und holte noch mehr Saft.
»Die Hitze«, sagte ein anderer.
»Ich schlafe wie betäubt«, hörte ich mich selbst flüstern, und der Mann zuckte zusammen, sah mich an, als wollte er sagen: Sieh an, gratuliere.
Dann wiederholte er: »Wie betäubt.«
»Sie melden sich wohl, wenn Ihnen etwas einfallen sollte«, sagte er schließlich, richtete sich auf und ließ mich in den Armen meiner Mutter zurück.
Meine Mutter erhielt eine Visitenkarte: David Fawlkner, Kriminalkommissar.
Ich besitze sie noch immer, manchmal liegt sie unter meinem Kopfkissen, wenn ich endlich einschlafe. Das ist der letzte Trick, das abschließende Ritual, mit dem ich meinen Körper bitte, das Selbstverständliche zu tun: zur Ruhe zu kommen. Schlafe ich auch dann nicht ein, kann ich ebensogut aufstehen und einen neuen Tag beginnen, ohne daß der vorige eigentlich abgeschlossen ist. Medikamente? Davon habe ich genug bekommen wegen Martin.
Dafür habe ich mir eine Gewohnheit zugelegt, oder besser, eine schlechte Angewohnheit. Ich warte auf Jonas, der die Zeitung austrägt. Manchmal setze ich mich ins Treppenhaus, manchmal in die Diele. Ich habe einen kleinen Klapphocker, den ich aufstelle, genau wie im Museum.
»Du bist immer vor mir da«, sagt er, wenn er schließlich erscheint. »Wie machst du das?«
»Eisernes Training.«
»Welche Nacht?«
»Nummer fünfundsechzig«, sage ich. »Fünfundsechzig«, wiederhole ich, wie um zu betonen, daß dieses Zählen bei dem Ganzen ein System erkennen läßt, daß es zu kontrollieren, einzuordnen, zu meistern ist und nichts mit der Panik zu tun hat, die sich vor dem Eintreffen des Zeitungsboten bemerkbar macht.
Aber er weiß es genausogut wie ich.
»Manchmal ist das Leben angenehmer als üblich, oder?« sagt er sanft.
»Sicher«, erwidere ich, falte die Zeitung mit der linken Hand sauber zusammen und lasse sie eine halbe Drehung rotieren, ein Trick, den ich in der siebenundzwanzigsten Nacht von ihm gelernt habe.
Er küßt mich auf die Wange. Es ist die Schutzlosigkeit der Nächte, die uns das erlaubt. Diese zögernde Nähe zu anderen hätte vor nur fünfundsechzig Nächten niemals existiert. Zu der Zeit glaubte ich noch immer, das Leben ließe sich kontrollieren, wenn auch mit einiger Mühe und nur mit festen Gewohnheiten. Die Schlaflosigkeit hat mich transparent werden lassen, als liefe ich im Nachthemd durch die Stadt, barfuß und dünnhäutig, was jeder, der es nur wollte, leicht feststellen konnte.
»Danke«, flüstere ich mit belegter Stimme.
»War doch nichts weiter, Savanna. Was tu ich nicht alles für eine Kundin, die mir nachts einen Blick und manchmal was Frischgebackenes gönnt.«
»Das ist nur, weil die anderen so tief schlafen.«
»Was du auch tun solltest.«
»Ich ziehe vor, es zu lassen«, versuche ich.
Er schüttelt den Kopf, wie um zu sagen: So nicht.
»Zeit für den Kaffee«, sage ich und schließe die Tür hinter mir – genug an Intimität, zurück ins Anonyme.
2. Kapitel
Ich hatte einen Sohn, der breitete sich auf dem Boden aus wie ein Seestern und schrie, wenn ein Stiefel auf den falschen Fuß geriet. In den Nächten tue ich es ihm manchmal nach, um zu sehen, ob auch ich dazu fähig bin. Aber nie wird es wie bei ihm. Kein Gebrüll, keine grenzenlose Wut, bei der sich der Körper zum Bogen spannt, die Beine gegen Wände und Boden treten, und dann plötzlich – Frieden und ein Seufzen, das anzeigt: Jetzt ist es vorbei, o Mama. Wie herrlich das war. Er wurde sechs Jahre alt. Weiter als bis hierher werde ich nicht gehen. Auch ich möchte schreien, treten und weinen, wie er es getan hat. Warum weine ich nur stoßweise, voller Panik, tief in die aufgeschüttelten, kühlen Kissen? Wann ist mein Leben so geworden?
Von meinem Leben werde ich erzählen in diesen Nächten der fehlenden Ruhe und mit einem Überfluß an Zeit. Ich denke, ich werde die Mappe betiteln: »Sporadische Notizen, weit entfernt von jeder Dissertation«. Ich mache mir Sorgen wegen der Ordnung, es gibt hier keine. Statt mich meiner Dissertation zu widmen, die das Leben der Londoner Schriftstellerin und Journalistin Elizabeth Brown Anfang der siebziger Jahre untersuchen soll, ist es diese Angelegenheit, mit der ich mich beschäftige. Die Schlaflosigkeit ist die äußere Seite, sie wird anhalten. Doch jetzt versuche ich diese Nächte zu nutzen – anders ertrage ich sie nicht. Die schlimmste Konsequenz der Schlaflosigkeit? Die Unfähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.