Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors

Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors


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Leben, vielleicht droht er mit Selbstmord, wenn sie ihn verlasse. Die Frau bleibt, er ist, war, schließlich der Mann, den sie geliebt hat. Das Ganze gleicht einem Geiseldrama, doch ist der Gefängniswärter Geliebter und Verabscheuter zugleich.«

      »Wie ist das möglich?«

      »Fragen Sie nicht mich. Sie und ich sind nur fassungslose Zuschauer. Doch soll uns das meiner Ansicht nach nicht hindern, uns in die Sache hineinzuversetzen. Ich habe inzwischen begriffen, daß nichts so überraschend und verwirrend ist wie Wärme und Zärtlichkeit nach einer Mißhandlung. Eine Umarmung von dem Menschen, der einen gerade grün und blau geschlagen hat, kann überraschend befreiend wirken. Das liegt an den Gegensätzen – endlich ist es vorbei! Ich habe dergleichen gesehen.«

      Als Antwort auf meinen fragenden Blick fügte er finster hinzu: »Einigen Frauen in meinem Revier ist im Laufe der Jahre schlimm zugesetzt worden. Ich habe ein bißchen geholfen.«

      Ein Klopfen an der Tür und die für Schweden typische Rettung wurde hereingebracht: Ein Tablett mit Kaffee. Unsere Gesichter hellten sich auf, was für eine Befreiung, sich bei etwas Handfestem verständigen zu können, wenn die Themen einem den Boden unter den Füßen weggezogen haben.

      »Paulina?« fragte ich.

      »Paulina, ja«, sagte er und räumte einige Papiere beiseite, um Platz für den Kaffee zu haben. »Wir glauben also, daß Paulina vor diesem Mann geflohen ist, aber er ist ihr gefolgt. Er fand sie in der Pension, und es gab Streit. Danach erschlug er sie schließlich, mit einem Leuchter. Ob es geplant war? Unmöglich zu sagen, wahrscheinlich nicht. Aber das Merkwürdige ist, daß er die Mordwaffe mit Fingerabdrücken zurückließ und außerdem eine Anzahl anderer Beweise dafür, daß er sich im Zimmer aufgehalten hatte: Haare, Haut, Fasern seiner Kleidung und anderes. Jemand muß ihn gestört haben, oder er war äußerst unerfahren.«

      »Und das bedeutet?«

      »Wenn wir ihn nur finden würden, könnten wir ihn des Mordes überführen.«

      Wir sannen beide darüber nach, während er Milch in den Kaffee goß.

      »Aber kann es wirklich sein, daß keiner von denen, die den beiden auf der Reise begegnet sind, imstande war, eine brauchbare Beschreibung des Mannes abzugeben?«

      »Das Gedächtnis der Menschen ist nicht immer so, wie es sein sollte. Außerdem, woher soll man wissen, welches Gesicht man sich einprägen muß? Offenbar trug er oft eine Sportmütze, tief in die Stirn gezogen. Sie auch, aber aus anderem Grund«, sagte er trocken.

      Ich konnte nicht noch einmal »ich verstehe« sagen, also biß ich mir auf die Lippe und schwieg. Was verstand ich denn auch von dunklen Sonnenbrillen, langärmligen Blusen und Sportmützen über blaugeschlagenen Gesichtern als Schutz vor den neugierigen oder verurteilenden Blicken anderer?

      »Noch elf Jahre«, sagte er.

      »Was?«

      »Elf Jahre bis der Mord verjährt. Wollen mal sehen, das wäre also der 26. August 1998. Diese Zeit haben wir noch, um ihn zu fassen. Sicher werden wir das«, sagte er vor allem zu sich selbst, wie jemand, der eine hoffnungslos zurückliegende Fußballmannschaft anfeuern will. »Möchten Sie Paulina sehen?«

      Ich zuckte zusammen.

      »Ich habe hier ein Bild, das ich von ihren Eltern bekommen habe.«

      Er nahm eine Kopie aus seinem Schreibtisch und legte sie mir hin, ohne eine Antwort abzuwarten.

      Augen, Nase, Mund. An mehr erinnere ich mich nicht. Augen, Nase, Mund. Etwas in mir verkrampfte sich, und plötzlich wurde mir übel. Ich stand auf und rannte auf die Toilette.

      »Das Kind«, sagte ich entschuldigend, als ich ins Zimmer zurückkam.

      Daß es Monate her war, seit ich mich das letzte Mal übergeben hatte, sagte ich nicht.

      »Zu dem Warum sind wir noch nicht gekommen, oder?« stellte er fest und gab mir diskret ein Tempotaschentuch.

      »Ich wollte nur gern ihren Namen wissen.«

      »Doch wohl etwas mehr?«

      »Ja«, murmelte ich verlegen. »Aber ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll.«

      »Wer weiß das schon. Versuchen Sie einfach zu sagen, wie es ist.«

      »Ich wollte nach der Gewalt fragen«, fuhr ich fort und zerpflückte das Papier, Schweiß lief mir über den Bauch. »Vor kurzem ... ein Mann hat versucht, sich an mir zu vergehen. Wie kann das passieren? Warum gibt es keine Barrieren? Wie können manche einfach so weitermachen, obwohl man um Gnade bettelt, wie können die trotzdem weitermachen?«

      Derjenige, der Martin werden sollte, bewegte sich wie ein Fisch in meinem Bauch. Und das Kind wuchs, so als wüßte es, daß ich jemanden in meinen Armen brauchte.

      »Es tut mir leid, aber die Sache geht mir nicht aus dem Kopf. Besonders jetzt nicht.«

      »Das braucht es nicht. Ich wünschte wirklich, ich könnte etwas Kluges dazu sagen. Ich weiß vielleicht nicht sehr viel über Gewalt, um so mehr über die Konsequenzen«, erwiderte er nur. »Darüber weiß ich ein ganze Menge.«

      Eine deutliche Pause, aber trotzdem merkwürdig angenehm.

      »Macht und Machtlosigkeit, doch in welcher Kombination und wie das zustande kommt, das weiß ich nicht. Das beunruhigt mich«, fügte er wie zu sich selbst hinzu.

      »Mich auch«, sagte ich nickend.

      Wir rührten in unseren Tassen, lächelten uns vorsichtig zu, holten beide tief Luft. Aber dann kam es plötzlich, von dem Mann, der anscheinend damit beschäftigt war, das Bild des Sohnes gerade zu rücken, doch wußte er genau, was er tat: »Sie erinnern sich nicht an irgend etwas, das Sie jetzt erzählen wollen?«

      Ein paar Sekunden lang nur Schwärze im Kopf, völlige Leere, als würde ich auch bei größter Anstrengung nicht einmal mehr den eigenen Namen wissen. Wie vor der Prüfung in einem Fach, in dem man zuviel weiß oder nicht das Geringste. Aber ich schloß die Augen, mühte mich und suchte: Gerüche, Gedanken, Stimmen, irgendwas? Doch nur Dunkelheit.

      »Ich habe wie betäubt geschlafen«, wiederholte ich.

      »Wie betäubt ... Ja, wenn Sie wieder reden wollen, rufen Sie einfach an.«

      »Ich habe Ihre Zeit unnötigerweise in Anspruch genommen.«

      »Das weiß man nie im voraus«, sagte er lächelnd. »Darf ich etwas Merkwürdiges sagen?«

      »Das wäre tatsächlich eine Erleichterung«, erwidere ich.

      »Ich glaube, Sie haben es völlig richtig gemacht«, sagte er mit einer Handbewegung auf meinen Bauch, die alles zu umfassen schien: das vaterlose Kind und meine Sehnsucht nach dem, der Martin werden würde. »Glauben Sie mir, Sie werden das Kind grenzenlos lieben. Und Ihre Alpträume werden abnehmen.«

      Komischer Mann, dachte ich auf dem Weg zum Auto. Wie konnte er etwas über die Alpträume von Fremden wissen? Was hatte er vom Leben gesehen, das ich verpaßt hatte? Damals verstand ich nicht, was ich jetzt weiß: Man braucht Einfühlungsvermögen und Interesse an anderen Menschen, um sie sehen zu können.

      Er begleitete mich bis zum Auto.

      »Wir machen es so«, sagte er durch das Seitenfenster, nachdem er mir geholfen hatte, den Sicherheitsgurt über dem Bauch anzulegen, »Sie kümmern sich um das Warum, glauben Sie mir, es wird Ihnen in den kommenden Jahren beinahe zur Gewohnheit werden, und ich werde ihn fassen.«

      Ich lächelte zu ihm hoch, begegnete demselben Blick, wie damals, als ich klein war, derselben Wärme.

      »In der besten der Welten?« fragte ich.

      »Es gibt sie.«

      »Man sagt es.«

      Er schüttelte den Kopf, hob die Hand zum Gruß, und ich sah ihn im Rückspiegel, als ich losfuhr. Obwohl es heiß war, fröstelte es mich. Ich hatte das Gefühl, die Kiefer zusammenpressen zu müssen,


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