Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
mein Leben nur noch darauf ausgerichtet, daß Martin auf mich wartet, und das hieße, den Rest meiner Zeit der Sehnsucht nach dem Himmelreich zu widmen. Bis dahin wäre ich gezwungen gewesen, Zuversicht bei einem allmächtigen Gott zu finden, dem ich nur schwer hätte vergeben können. Leblos bei lebendigem Leibe zu sein, bedeutet hingegen, dem Leben zu entsagen, noch während man lebt. Das ist eine Entscheidung, die am wenigsten Nachdenken und nur geringe Zugeständnisse erfordert. Im Laufe der Jahre ertappte ich mich jedoch dabei, wie ich Gespräche mit Martins Gott führte, zu dem er ein solches Vertrauen gehabt hatte. Erneut war Martin das Bindeglied, das ich selbst nicht sein konnte.
Ich sagte, niemand sollte sein Kind überleben müssen. Aber eigentlich tat ich nur das: überleben. Das Leben überließ ich anderen; ich selbst wurde eine von den Unsichtbaren. Die einzige Möglichkeit, in Frieden gelassen zu werden, das einzige, was ich nach Martin ertragen zu können glaubte. Kein unablässiges Bereden, kein Wiedererkennen, keine neue Liebe. Nur Schweigen und, zu jener Zeit, abgrundtiefer Schlaf.
Wie ich Sam dafür liebe, daß er niemals sagt: »Hör auf zu trauern, Savanna. Fang an zu leben.« Denn er weiß, daß diese Trauer ewig ist. Ewig ist ein schwieriges Wort. Sein Inhalt ist: »Du entkommst nie.« Aber kann man nicht beides, trauern und leben? Sam würde niemals fragen, er kennt mich viel zu gut, und er würde auch keine Antwort bekommen.
Vielleicht sollte ich meine erste sexuelle Beziehung erwähnen, die Anlaß für die zweite war. Meine Erinnerung ist trügerisch, ob es an innerer Leere oder am Schlafmangel liegt, das zu sagen, ist noch zu früh. Ich war jedenfalls neunzehn Jahre alt und der Mann um so vieles älter, daß Mutter es mit Recht als schlechtes Zeichen ansah. Zwei Monate waren wir zusammen. Was beinhalteten sie? Merkwürdige Positionen bei sporadischen sexuellen Aktivitäten, die mich, bestenfalls, leicht amüsierten. Im schlimmsten Fall, trotz meiner Zustimmung, das Gefühl von Kränkung hinterließen, als hätte sich jemand an mir vergangen. Der wirkliche Inhalt aber war ein Wesen von vier Jahren, braune Haare in perfektem Topfschnitt (sie mußten unter einem solchen geschnitten werden). Die Tochter des Mannes. Ein Blick in ihre Augen, und dort sah ich, was ich einmal gehabt hatte und wonach ich mich zurücksehnte: eine Art Unschuld. Eine Anwesenheit, eine Direktheit, ein selbstverständlicher Platz. Was ich einmal besessen hatte. Ich verließ den Mann und verstand danach niemals, warum erwachsene Frauen so viel Energie für zwei mir unbegreifliche Aktivitäten aufbringen: die Liebe zu finden und dann darum zu kämpfen, daß sie bleibt. Ist man nicht interessiert an diesen beiden Dingen, ist die Einsamkeit zu ertragen.
Den Mann verließ ich, aber niemals vergaß ich das, was ich in den Augen des Mädchens gesehen hatte. Damals wußte ich, daß ich Martin haben wollte, doch niemanden, mit dem ich ihn teilen müßte. Sechs Jahre lang war ich genau das: anwesend, sichtbar, sehend. Unser selbstverständlicher Platz. Daß ich wirklich schwanger wurde nach drei Tagen mit »Paul« – selbst wenn sie geschickt genutzt waren –, sagt mehr über die Biologie einer Mittzwanzigerin als über meine Naivität. Ich hatte nämlich drei weitere Reisen eingeplant, eine bei jedem folgenden Eisprung: Prag, Rom und London. Als ich meinen kleinen blauweißen Teststreifen betrachtete, war ich gerührt, aber auch fassungslos. Der Gedanke, die anderen Reisen dennoch zu unternehmen, wurde rasch verworfen.
Durch Martin gewann und verlor ich meine Unschuld. Ich verlor sie bei der Geburt und gewann sie durch seine absolute Gegenwart – so etwas hatte ich bisher nicht erlebt. Sechs Jahre später, in einem weißen kahlen Zimmer voller Schläuche, habe ich sie dann endgültig verloren.
Das Morgenlicht fällt auf meinen Schreibtisch. Jetzt wacht Sam drüben bei sich auf, bald wird er durch die geöffnete Doppeltür hereinkommen, unsere gelbweißgestreiften Tassen, die wir in seinen beziehungslosen Zeiten benutzen, aus dem Schrank nehmen und den Kaffee kochen (den abgestandenen der Nacht gießt er wortlos weg).
»Morgen, Savanna.«
»So sagt man.«
»Und einen guten auch?«
Lassen wir das, hätte ich beinahe gesagt, doch denke ich an Martin und die Frau, die ich damals gewesen bin.
»Einen wunderschönen, Sam.«
5. Kapitel
Dreieinhalb Stunden heute nacht. Das Leben fällt langsam in sich zusammen. Das wenige, was ich einmal kontrollieren konnte – meine Erinnerungen, beschnitten; Martin, verplombt; meine Arbeit, eingestellt –, ist zu kleinen Stücken Unbegreiflichkeit geworden aufgrund einer Schlaflosigkeit, deren Ursache ich nicht kenne. Es erstaunt mich, wie wenig dazu gehört, das Leben unerträglich zu machen. Wie dicht am Abgrund wir leben. Daß es gefährlich ist zu leben, hatte ich frühzeitig begriffen und eine Fähigkeit zum einfachen Überleben entwickelt. Aber daß man dennoch nicht entkommt, das habe ich nicht gewußt.
Weil es schon halb sechs ist und ich vermutlich nicht wieder einschlafen werde, ziehe ich mich an und gehe ins Institut. Es ist lange her, daß ich dort gewesen bin. Ich komme meinen Verpflichtungen nach, nicht gut, eigentlich mehr recht als schlecht, aber ich bin wenigstens anwesend, wenn man mich darum bittet. Das reicht keineswegs. Ich weiß, daß auf den Korridoren geredet wird, die Art Gerede, bei dem die Sprechenden sich vor Wollust und einsetzender Reue winden. In den Jahren im Institut habe ich etwas über Konkurrenz gelernt. Ein Spiel, das ich wahrhaftig mißbillige, hat sich mir dennoch offenbart. Ich habe entdeckt, daß Politik, Position und Manipulation für manche wichtiger sind als Sachfragen. Sie haben den glühenden Wunsch, im System weiterzukommen, das Spiel so gut zu spielen, daß nicht erkennbar ist, wie sehr bei ihnen die Position immer vor dem Inhalt rangiert, unabhängig von den Folgen. Einige Jahre voll von Entsetzen, aber auch von Faszination waren nötig, bevor ich das Spiel deutlicher durchschauen und mich abseits stellen konnte.
Für die übrigen Doktoranden bin ich ein Hund, der schon am Boden liegt, keiner, mit dem man noch rechnen muß. Das hat die meisten beruhigt, ich bin unschädlich gemacht. Ich glaube sogar, daß einige begonnen hatten, Sympathie für mein Schweigen zu entwickeln, in Kombination mit charmanten kleinen Boshaftigkeiten. Doch da ich keinen Schritt unternommen habe, um ihren Interessen wenigstens auf halbem Weg entgegenzukommen, ist es meist dabei geblieben. Es gibt ein paar Leute, die mich noch nicht ganz abgeschrieben haben, sie betrachten mein Nichtagieren als Taktik, mit der ich hochgesteckte Ziele kaschieren will. Halten eben das für den Grund, weshalb Professor Sten Ljunggren ein unerträglich großes Interesse an einer Person zeigt, die so langsam und undiszipliniert arbeitet. Ich verstehe ihre Irritation, ich habe nichts getan, was Ljunggrens Aufmerksamkeit verdient. Im Gegenteil, ich erbringe gerade so viel an Leistung, wie notwendig ist, um klarzukommen. Manchmal frage ich mich, warum ich das überhaupt noch tue; ich weiß, daß andere es genauso machen.
Kurz nach sieben betrete ich das Institut. Der Kaffeeautomat scheint warm, noch jemand ist zeitig hier. Der lange Korridor liegt vor mir, mein Kabuff befindet sich fünf Türen weiter auf der rechten Seite – ich meine es nach meinen sechs Jahren hier im Dunkeln finden zu können. Es war zwei Jahre vor Martins Tod, als ich hier angefangen habe, ein gutes Stück ehrgeiziger als die schlaflose Frau, die sich heute planlos zwischen Ordnern, Telefon und Computer bewegt. Damals verfaßte ich die wissenschaftlichen Artikel, die mir die Aufmerksamkeit des Professors und anderer einbrachten; heute bin ich diese Aufmerksamkeit nicht mehr wert. Ich verstehe die Verachtung, manchmal ist es auch Abscheu, der anderen Doktoranden. Vielleicht würde ich mich selbst genauso verhalten. Die Trauer, ich glaube, sie nennen sie so, hat offenbar zwei Jahre anwesende Abwesenheit entschuldigt. Die letzten beiden Jahre durfte ich bleiben aufgrund von ... Ja, was? Nicht einmal ich weiß es, ich könnte es auch nicht begründen. Ich frage mich manchmal, ob ich nur hierbleibe, weil ich darauf warte, daß ein anderer sagt, jetzt ist es genug. Auf eine Möglichkeit, den beschämenden Job jemand anderem zu überlassen.
Natürlich begreift mein durch Schlaflosigkeit wie in Watte gehüllter Kopf das Verwerfliche meines Verhaltens. Ich habe mich an diesen Zustand bloß nicht gewöhnen können, vielleicht sollte kein Mensch das tun müssen. Dieser neue Kopf läßt die Welt noch fremder, irgendwie verschwommen erscheinen. Die Füße bewegen sich ein Stück über dem Boden, ich segle durch den Korridor wie durch eine Welt, die aus Nebelschwaden und Rauchwolken besteht, hauchdünne Gardinen hängen vor den Gesichtern der Menschen, die das Sehen unmöglich machen.
Aber