Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
wie rasch der andere zu Gewalt und Rache neigte, hat mich verfolgt. Und über all dem: das lähmende Gefühl von Schuld, Scham und Haß.
Damals hatte ich beschlossen, mich mit David Fawlkner zu treffen. Ein paar Tage nach diesem Vorfall, mit darauffolgenden Träumen von der endgültigen Kränkung, die der Frau auf der Bahre zugefügt worden war, nahm ich meinen Mut zusammen und rief die Nummer an, die ich auswendig gelernt hatte, den Mann, nach dem ich mich so vage gesehnt hatte. Vielleicht kann man sagen, daß jeder Mensch einen unauslöschlichen Eindruck auf ein Kind gemacht hätte, das zum ersten Mal im Leben bewußtlos geworden war und das, als es wieder aufwacht, in ein fremdes faltiges Gesicht sieht. Vielleicht war es das Gefühl, daß ich wirklich etwas vergessen hatte, daß ich etwas anderes hätte sagen können, und nicht nur, daß ich einfach geschlafen habe, was mich nun dazu drängte, nach vierzehnjährigem Schweigen mit ihm zu sprechen.
Im nachhinein glaube ich, daß ich etwas von der Gewalt verstehen wollte. Ich kann leider keine andere Bezeichnung finden: Gewalt. Das klingt banal. Doch nach dem Zwischenfall dachte ich auf langen Spaziergängen darüber nach, wie sich gewisse Menschen das Recht nehmen können, sich an anderen zu vergehen, ihnen Gewalt anzutun und schließlich, wie bei der Frau mit dem rotbraunen Haar, sie so zu mißhandeln, daß sie sterben. Ich wollte etwas über die Barrieren verstehen, oder richtiger über deren Defekte.
Merkwürdigerweise stimmte er meinem Besuch sofort zu, und was ebenso merkwürdig war, ich wurde unglaublich froh. Es sollte meine letzte kleine Reise vor Martins Geburt werden. Ich setzte mich an einem warmen Sommermorgen ins Auto – den Bauch hinter das Lenkrad, die Füße breit auseinander, unter dem BH unaufhörliches Schwitzen. Fuhr dann durch die blumenübersäte Landschaft Roslagens bis zu jener Adresse, die ich auswendig kannte. Ich betrat die Polizeiwache, in einer Ecke ein Ventilator, ein verglaster Schalter mit einem Diensthabenden.
»David Fawlkner, bitte.«
»Aber das bin doch ich«, sagte ein gerade am Vorraum vorbeigehender Mann, so als würde ihn der bloße Gedanke an seine eigene Existenz amüsieren.
»Ich weiß nicht, ob Sie mich wiedererkennen. Ich meine, natürlich können Sie das nicht«, stammelte ich. »Damals hieß ich Savanna Elmbrandt, jetzt Brandt. Mein Bruder und ich haben den deutschen Namen meines Vaters wieder angenommen, es erschien uns so lächerlich, daß einer« – hier griff ich mir an den Bauch – »dann würde ...«
»Aber daran haben Sie recht getan«, fuhr er enthusiastisch fort. »Natürlich erinnere ich mich an Sie, das habe ich schon getan, als Sie angerufen haben. Birnensaft. Ohnmacht. Die Pension hier draußen im Sommer 1973. Es ist einige Jahre her.«
Er führte mich in sein unansehnliches Büro, das einzige Zeichen von Privatleben war das Bild eines Mannes in meinem Alter, der mit schmutzigen Knien auf einem Segelboot in die Sonne blinzelte.
»Mein Sohn, Jack.«
Ich betrachtete das Foto ein Weilchen und setzte mich dann nervös auf einen Stuhl ihm gegenüber. Er reichte mir ein Glas Wasser.
»Was wollen Sie wissen?« fragte er sofort, und das gefiel mir. Ich räusperte mich. Was zu Hause leicht zu formulieren gewesen war, machte jetzt Schwierigkeiten.
»Ich würde gern drei Dinge fragen. Wie hat sie geheißen, und haben Sie ihn irgendwann gefaßt?«
»Sie haben gesagt, drei Dinge.«
»Das Dritte ist, warum. Entschuldigung, aber ich müßte wissen, warum.«
Der Gesang eines Vogels drang in den stillen Raum und erfüllte ihn, wie es Geräusche immer tun, wenn die eigene Konzentration sich auf sie verschiebt.
»Es war dumm von mir, herzukommen«, murmelte ich und erhob mich mühsam.
»Ganz und gar nicht«, sagte er rasch und nahm mich beim Arm.
Da fiel mir wieder ein, warum ich mich so gut an ihn erinnerte. Er war ein Mann, der einen Menschen dazu bringen konnte, sich seufzend im Stuhl zurückzulehnen und ihm all seine Ängste mitzuteilen, einer, mit dem man viel zuviel Whisky trinken wollte. Er war ein Mann, bei dem sogar ich unbändige Lust bekam, vertraulich zu werden.
»Im Gegenteil«, fuhr er fort, »ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Zur ersten Frage. Nein, wir haben ihn nicht gefaßt. Ich kann Ihnen all das erzählen, was ohnehin in der Presse gestanden hat, das dazu. Wenn man aber bedenkt, wieviel Zeit vergangen ist, kann ich noch ein bißchen mehr erzählen.«
»Ja sicher«, hörte ich mich sagen, als sei das etwas, das ich bereits wußte.
»Die Frau hieß Paulina Weller. Sie stammte aus einem kleinen österreichischen Dorf und hat in Wien als Sekretärin gearbeitet. Nach den Angaben ihrer Eltern, die man erst nach einigem Suchen fand, hatte sie dort einen schwedischen Mann kennengelernt. Paulina entschloß sich offenbar, diesem Mann nach ein paar Wochen Bekanntschaft in den Urlaub nach Schweden zu folgen. Ihre Eltern sind ihm nie begegnet, sie sagten, er sei daran nicht interessiert gewesen. Er war offenbar ein Mann, der Paulina von ihren früheren Beziehungen abgeschnitten hat, wie ihre Kolleginnen erzählten. Er wollte, daß sie sich nur auf ihn konzentrierte. Es gibt Männer, die das Liebe nennen.«
»Wie bitte?«
»Das war ein Scherz.«
»Natürlich«, sagte ich, eine Frau, die so wenig von Männern wußte.
»Wir glauben, daß dieser unbekannte Mann sie erschlagen hat. Es gibt nämlich Zeugen, die an Paulina während der Fahrt durch Deutschland, Dänemark und dann auch in Schweden Spuren von Mißhandlungen bemerkt haben.«
»Wie haben sie sich in den Hotels eingetragen?«
»Als Herr und Frau Weller. Das hat immer sie getan, versehen mit einer dunklen Sonnenbrille, während er, wie berichtet wurde, mit Kopfschmerzen draußen im Auto wartete. Aber in Ihrer Pension, ich meine dort, wo auch Sie und Ihre Familie wohnten, hatte sich, wie die Eigentümer sagten, nur Paulina eingetragen. Sie kam allein dorthin, in dem Auto, das die beiden zuvor abwechselnd gefahren hatten. Offenbar waren sie auf dem Weg nach Norden, aber Paulina muß kehrtgemacht haben, war vermutlich geflohen und in derselben Pension abgestiegen wie Sie.«
»Mein Bruder Sam war im Segellager«, sagte ich plötzlich. »Sonst wäre er bei mir gewesen, im Zimmer.«
»Ach ja. Jedenfalls muß der Mann sie in Ihrer Pension gefunden haben. Also, das nehmen wir an.«
»Sie gefunden haben?«
»Immer dann, wenn Frauen versuchen, Männer, die sie mißhandeln, zu verlassen, können sie in höchster Gefahr schweben.«
»Ich verstehe«, sagte ich, die nichts verstand.
»Sie haben gesagt, Sie wollten wissen, warum.«
Ich errötete.
»Nein, kein Grund zum Schämen, Ihnen ist ja wohl schon warm genug. Außerdem wollen nicht nur Sie es wissen. Aber das einzige, was ich in diesen Jahren besser verstanden habe, ist das Wie.«
»Das Wie?«
»Wie es abzulaufen pflegt. Ich habe so einiges begriffen. Grob skizziert kann es etwa so aussehen. Der Mann ist zuerst sehr charmant, tritt wohlerzogen in Ihr Leben, macht Ihnen den Hof, häufig ist es wie ein Traum. Dann allmählich fängt er an, die Frau von den ihr Nahestehenden zu isolieren, schränkt ihre Freiheit immer mehr ein. Nach und nach beginnt er, ihre Treffen mit Freunden zu überwachen, läßt sich darüber aus, wieviel sie arbeitet und was sie anzieht. Später äußert er sich dazu, was sie mit ihrem Geld macht, welche Leute sie trifft, und erklärt, sie sollte mehr mit ihm zusammen sein. Anfangs kann es vielleicht wie Eifersucht erscheinen, hat womöglich etwas fast Romantisches. Sie stehen ja gerade erst am Anfang ihrer Liebe, und diese genaue Kontrolle kann vielleicht als Fürsorge mißverstanden werden.«
Er machte eine Pause.
»Oh, fragen Sie, was Liebe angeht, nicht mich«, protestierte ich spontan.
»Ach so«, sagte er diplomatisch mit einem Blick auf meinen Bauch und redete dann ungerührt weiter. »Nach einiger Zeit findet der Mann,