Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
Vielleicht ist unsere Liebe bedingungslos, vielleicht selbstverständlich oder einfach nur ungesund. Ich weiß es nicht; es gibt sonst niemanden, von dem ich mir vorstellen könnte, neben ihm zu leben.
»Wie stehts, Savanna?« fragt er und sieht so unendlich munter aus dort vor dem Kühlschrank, daß ich über ihn hinwegsehe.
»Ich schlafe nicht«, sage ich und ärgere mich über mein schamloses Klagen.
»Wer tut das schon.«
Ein schwaches Lächeln.
»Herzchen«, sagt er. »Herzchen.«
»Du auch.«
»Martin?«
Ich zeige auf die Brusttasche. Hole tief Luft. Er setzt sich mir gegenüber an den Küchentisch.
»Es geht nie vorbei.«
»Was soll ich tun?« frage ich mit gebrochener Stimme.
»Nichts. Deshalb bin ich ja hier.«
Er streckt die Hand über die Tischplatte und greift nach meiner. Es ist ungewöhnlich: Intimität zwischen uns. Ich glaube, ihm gefällt es; es ist lange her, daß mich jemand berühren durfte.
»Unterwegs zur Arbeit, oder?«
»Genau«, antwortet mein Bruder.
Sam kennt meine Grenzen besser als ich. Er blickt auf Martins Tür, deren Klebestreifen seit einigen Nächten ein bißchen zu häufig abgelöst wurde und nun nicht mehr richtig fest sitzt, dann schaut er mich an und zuletzt die geöffnete Doppeltür.
»Wir lassen sie eine Weile offenstehen, oder?«
»Wird wohl so sein.«
Er sieht mich flüchtig an und sagt nicht zum ersten Mal: »Warum können Frauen mich nicht so lieben, wie du es tust?«
»Weil dein Platz in meinem Leben selbstverständlich ist, umgekehrt genauso. Bei den Frauen, die du kennenlernst, ist es nicht dasselbe. Und du gibst ihnen auch keine Chance«, antworte ich und gähne.
Er schüttelt sich, wie eine Katze, die aus einem Unwetter ins Haus gekommen ist und Nässe und Unbehagen hinter sich lassen will.
»Ich fühle mich von ihnen überwacht«, sagt er fröstelnd. »Es ist, als würden sie an mir herumwienern, als versuchten sie mich umzumodeln, als verurteilten sie mich ...«
Das habe ich schon früher gehört. Entzücken, Erregung, Enthusiasmus, Verwirrung, Irritation, Frustration, Bruch und schließlich: Analyse.
»Sam, bitte ...«
»Entschuldige. Ich vergesse so schnell.«
»Ist nicht schlimm.«
»Und wenn Susanne anruft?«
»Dann bist du lange unterwegs.«
Er nickt.
»Du verurteilst mich also nicht?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Nein, warum solltest du?« sagt er zufrieden.
Mein Bruder ist erstaunlich. Er ist einer von den wenigen, die von der Liebe nicht zerschmettert werden wie wir anderen. Er ist nur leicht von ihr berührt, hat um so mehr Spaß, genießt wirklich – doch zerschmettert? Niemals. Falsch, einmal. Martin. Sonst: »Jetzt machen wir wieder die Doppeltür auf, Savanna.« Gemeint ist: »Endlich wieder allein.« Daß ich da bin, betrachtet er als Bonus. Die Schwester, die ihn in Frieden läßt, ihn vorbehaltlos liebt. Seltene Eigenschaften in unserer Welt.
Ich weiß, was man glauben könnte. Daß es der Verlust von Martin ist, der mich wach hält. Ich denke nicht, daß es so ist. Jetzt ist das bald vier Jahre her. Herbst 1993. Als wir auch dieses Begräbnis hinter uns hatten, fiel ich in abgrundtiefen Schlaf, zehn Stunden jede Nacht, was vor genau siebenundsechzig Nächten sein Ende fand. Ich erinnere mich, daß mich jemand fragte: »Schläfst du, Savanna?«
»Wie betäubt.«
So war es, ich schlief noch fester als in meinem elften Jahr. Wie betäubt.
»Was für ein Glück«, sagte die Person mit Wärme. »Was für ein unfaßbares Glück du hast.«
Ich glaube, ich habe genickt, verstand damals nicht, daß abgrundtiefer Schlaf etwas Beneidenswertes ist. Nicht mitten in der Nacht hochzuschrecken und ständig den Reihen kleiner Schuhe neben meinen ausweichen zu müssen. Glück? Jetzt verstehe ich, was die Person damals meinte, ich hatte keine Ahnung, wie lang Nächte werden können. Aber vielleicht wußte mein Körper es. Vielleicht weiß ein Körper genau, wieviel die Seele in ihm ertragen kann.
Martin ist also nicht der Grund dafür, daß ich nicht schlafe. Es ist auch nicht die Sorge um meinen Bruder und seine – wie nennt man das? – Frauengeschichten. Er landet stets wie eine Katze auf allen vieren, und genau so will er sein Leben haben. Direkt neben meinem.
»Wollen wir wieder eine Anzeige wegen dem Wohnungstausch aufgeben?« rufe ich Sam hinterher, als er zurück in seinen Flügel geht.
Wir betreiben es nur halbherzig, seit Jahren beschäftigen wir uns damit. Einen Moment Schweigen, dann taucht er hinter der Tür wieder auf.
»Wer soll dann die Verplombung überwachen?«
Wir haben drei Dinge gemeinsam. Sie binden uns fester aneinander, als irgendeine andere vorstellbare Beziehung das könnte: unsere Begräbnisse, dann, daß keiner den anderen je verurteilen wird, und schließlich eine Geschwisterliebe, die bedingungslose Nähe und grenzenlose Ruhe verspricht.
3. Kapitel
Mit der Visitenkarte unterm Kopfkissen bin ich heute nacht schließlich eingeschlafen. David Fawlkner, Kriminalkommissar. Das ist erstaunlich beruhigend. Vor allem jetzt, wo das gelbe Haus mir nicht mehr wie eine Festung erscheint, da die Liebesbriefe den Weg hereingefunden haben: »Du bist bezaubernd wie immer. Verführst mich mit Deinen Blicken, die zu sagen scheinen: ›Ich habe nichts gesehen, ich sehe Dich nicht.‹ Und doch haben wir einander gesehen, das haben wir.«
Soll ich mich geschmeichelt fühlen? Amüsiert sein? Anfängen zu schmachten? Ich weiß nicht. Meine Abenteuer in der Liebesbranche sind so geringfügig, daß ich dasselbe tue wie immer, nämlich gar nichts.
David Fawlkner, was hatte er gesagt? Ich könnte mich melden? Einmal habe ich es getan. Das war vor zehn Jahren. Martin lag wie eine Schnecke in mir, meinen gewölbten Bauch als Schutz und Haus über sich. Die Frau unter dem dünnen Baumwollgewebe war in meinen Träumen aufgetaucht, das rotbraune Haar sah wieder und wieder unter dem Tuch hervor, aber ihr Gesicht blieb ein weißer Fleck. Ihr Bild war niemals in den Zeitungen veröffentlicht worden. Der Mord war zu Beginn der siebziger Jahre geschehen, und damals gab es in der Presse noch nicht diesen rigorosen Hunger nach zerfetztem Frauenfleisch.
Ich weiß nicht, ob mich die Schwangerschaft empfindlich gemacht hatte oder ob es an dem »Zwischenfall« lag, der gerade passiert war. Ein unbekannter Mann hatte mich und meinen Bauch, genau in dieser Reihenfolge, gegen die Wand in einem Fahrstuhl gedrückt und mit einer Hand meinen Hals umklammert, während die andere Dinge tat, die ich verdrängt habe. Ich konnte nur denken: Alles andere, aber schade nicht meinem Kind. Schon damals war ich mir über die Prioritäten im klaren. Ich wurde von einem Wachmann gerettet, dem es merkwürdig erschien, daß der Fahrstuhl so lange zwischen zwei Stockwerken festhing. Er öffnete die Türen, worauf der Kerl wegrannte, der Wachmann sah mich an, und ich hörte mich sagen, wie es so viele Frauen vor mir getan hatten: »Schon okay. Mir ist ja nichts passiert.«
Ich weiß noch, daß mir schien, als wäre da eine Röte in seinem Gesicht gewesen, eine Art Scham über das eigene Geschlecht, während er mir, einer schwangeren Frau unter Schock, zum Telefon half: »Ja, Sam, war nur ein kleiner Zwischenfall, kein Problem.«
»Totschlägen«, brummelte der Wachmann. »Jeden einzelnen von ihnen totschlagen würde ich, wenn ...«
Es kommt vor, daß ich an diesen Zwischenfall