Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors

Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors


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zu nennen. Was mich am meisten verwundert, ist ihre bloße Existenz, daß jemand eine Frau wie mich tatsächlich gesehen hat. Ich bin jemand, der existiert, um nicht gesehen zu werden, die Frau auf dem dreizehnten Stuhl an der Tafel, dort an der hinteren Ecke, wo es immer still ist. Pferch die Unsichtbaren zusammen, und sie stören nicht. Ich bin eine Frau, die von den meisten nur mit wohlwollend verborgener Verachtung betrachtet wird: »Ach sie, nein, das ist die Sache nicht wert.« Sie meinen es nicht böse, es ist nur eine Feststellung – ich verstehe sie genau. Auf dem Markt da draußen herrscht eine so harte Konkurrenz um Aufmerksamkeit (kostspielige Operationen, Wirbel in den Massenmedien und die harterkämpfte Bikinilinie), wenn da jemand schon von Anfang an klarstellt, hier gibt es nichts zu holen, gehen die meisten dankbar weiter.

      Die erfahrensten Gastgeberinnen haben mir verzweifelte Blicke zugeworfen, auf der Jagd nach einer Möglichkeit zum Gespräch. Doch die kläglichen Angebote, die ich zu machen versuche – ich bin nicht unzugänglich, das ist es nicht –, sind lange vor dem Hauptgericht schon abgehakt. Hinterher, vor dem Toilettenspiegel, verdrehe ich die Augen und sage: »Ich tue mein Bestes.« Aber es ist wohl nicht so. In sehr kleinen Gesellschaften kann ich möglicherweise einen Platz und auch Herzen einnehmen, in größeren bin ich ausgezählt, bevor überhaupt irgend etwas begonnen hat. So will ich es haben. Und für den, der mir trotzdem zu nahe kommt, habe ich tief drinnen einen giftigen Stachel aufbewahrt. Ich kenne meine eigenen diskreten, aber bösartigen Kommentare sehr wohl, die Schwächen anderer ebenso. Zu nahe heran, und ich beiße zu. Es ist nicht immer so gewesen – seit meinem elften Lebensjahr kann ich mich an nichts anderes erinnern.

      Die Liebesbriefe, ja. Jemand hat mich unter diesem Schleier der Unsichtbarkeit gesehen. Oh, bittet mich nicht, mich selbst zu beschreiben, viel zu viele Jahre sind vergangen, seit eine Bewertung oder Einschätzung wichtig war. Irgendwann einmal, in einem anderen Leben, wird sich vielleicht jemand die Zeit für eine Beschreibung von mir nehmen. Aber die Liebesbriefe, so genannt in Ermangelung eines anderen Wortes, treffen immer wieder ein. Sie kommen per E-Mail mit merkwürdigen Absendern, solchen Gratisadressen, von denen man mehrere auf einmal haben kann. Der Stil aber ist immer derselbe. Manchmal heißt der Briefschreiber [email protected], ein andermal bengt.westersten und schließlich jill.stenberg. Ich weiß nicht, ob ich darin ein Zeichen von Humor sehen soll oder eher das einer Geschlechts- und Identitätskrise. Offensichtlich weiß der Schreiber mehr über mich als ich über ihn, was genau gesagt überhaupt nichts ist. Merkwürdigerweise scheint der Absender etwas über meine allzu langen Nächte zu wissen. Gestern ertönte wieder das leise Piepen vom Computer.

      »Natürlich habe ich Dich gesehen. Das ist es doch wohl, was Du wolltest? Wollen Frauen das nicht immer? Die Art, wie Du Dich bewegst, Du hast genau gewußt, wie Du mich beeindrucken konntest. Das Haar schulterlang, die Grube unter dem Hals, wo ich meine Hand hinlegen möchte, Dein leicht gebogener Schwanenhals. So viele Jahre später, und jetzt: Nonchalance. Du schläfst nachts vielleicht unruhig, wenn überhaupt. So muß es sein. Aber spiel bitte nicht mit mir. Ich bin immer noch hier, direkt hinter Dir, damals und jetzt. Nein, Du brauchst Dich nicht umzudrehen. Es reicht, daß ich weiß, wo ich Dich habe.«

      Ich glaube, es muß ein Mann sein. Seine Versuche, sinnliche Liebe auszudrücken, haben etwas Banales und Tastendes, und dann die Aufforderung, nicht mit ihm zu spielen (Mit seinen Gefühlen, seinen E-Mail-Adressen?). Dennoch verspüre ich eine gewisse Zärtlichkeit, dieses Gleiten über die Tastatur in der Hoffnung, daß es mich berührt. Was es ja auch tut. Mitteilungen mitten in der Nacht zu erhalten, wenn anscheinend nur die Zeitungsboten und ich in Bewegung sind, gibt Zuversicht. Doch verblüfft es mich, wie meine Inaktivität einen anderen Menschen in Gang gesetzt haben kann.

      Ich sagte, ich wohne in einer viel zu großen Wohnung, uneinnehmbar wie eine Festung. Das stimmt nicht ganz. Sie ist zwar groß, aber besteht, wie gesagt, aus zwei Behausungen, mit einer gewaltigen Doppeltür dazwischen, die verbarrikadiert und verschlossen ist, meist von meiner Seite her, sehr selten auch von Sams Seite. Nach dem Tod unserer Eltern haben wir das L – oder den Winkelhaken, wie Martin sagte – geteilt, jeder bekam einen Schenkel, so daß in beiden Wohnungen Fenster auf den Innenhof führen, ohne daß wir einander sehen können, und ebenfalls zur anderen Seite, auf den Friedhof. Sam und Martin haben sich ausgemalt, eine Hängebrücke zu konstruieren, die die Wohnung zu einem Dreieck verbinden würde und auf der man im Sommer durch die Luft zueinander spazieren könnte. Sie wurde nie Wirklichkeit, zu meiner Erleichterung und der der Nachbarn. Doch einmal hörte ich, wie Martin Sam durch das Fenster zurief: »Fang auf!«

      Und dann zweifaches Geschrei: ein fröhliches von Martin und ein entsetztes von Sam.

      »Du willst es nicht wissen«, sagte Sam, er war bleich, als er mit Martin in den Armen zu mir hereinkam.

      »Nein, ich glaube nicht.«

      Das gelbe Haus, sagte Martin immer; es war das einzige Zuhause, das er kannte. Im Bus pflegte er Fremden zu berichten: »Ich wohne in dem gelben Haus!«

      Er sagte es geradezu böse, so als hätte jemand seine Autorität bezweifelt.

      »Dort?« versuchte einer und zeigte auf das nächstliegende gelbe Haus.

      »Nein!« schrie Martin empört. »Zu Hause.«

      Wir haben eine Schuld geerbt und eine Wohnung, behaupte ich immer. Die Wohnung ist wohl doch leichter zu verwalten. Die Schuld rührte daher, daß mein Vater Deutscher war. Er ist Kommunist gewesen und floh Mitte der dreißiger Jahre nach Schweden. Dort heiratete er meine schwedische Mutter und änderte schließlich seinen Namen in Elmbrandt – nach den Schrecken des Krieges und der Konzentrationslager war die Schande zu groß. Mein Vater lernte perfekt Schwedisch, wir wurden eine typische kleine schwedische Familie. Aber als mein Vater gestorben war, nahmen mein Bruder und ich wieder seinen Namen an: Brandt. Wir entschlossen uns, die Sache abzuschließen, die Wohnung zu tauschen, uns die Schuld vom Halse zu schaffen, einfach alles hinter uns zu lassen. Gut zehn Jahre sind vergangen; wir wohnen noch immer hier.

      Hier in unserer gelben Festung können wir das Leben des anderen bis in alle Einzelheiten verfolgen. Wir sehen, wenn jemand übernachtet (bei mir nie, bei Sam immer) und wenn das Licht gelöscht wird.

      Ich habe gesagt, nur die Zeitungsboten und ich seien nachts auf den Beinen. Auch das stimmt nicht ganz. Mein Bruder und die jeweilige Frau, die er bei sich wohnen läßt – Tage, Wochen und seltener Monate –, sind ebenfalls wach. Der Unterschied ist nur, daß sie all das tun, was mir die Doktoranden mit ihrem »Spät geworden, Savanna?« unterstellen. Sams Mangel an Schlaf hat nichts mit Schlaflosigkeit zu tun, allerdings weiß ich auch nicht, ob es sich um Liebe handelt. Während meines Lebens mit ihm, davon zehn Jahre in diesem gelben Haus, habe ich Block um Block vollgeschrieben: Maja hat angerufen, außerdem Sussie, Susanne (dieselbe Person?), Martina, und vergiß bitte nicht Anne-Charlotte. Wo kommen die Frauen her? Ich weiß es nicht. Aber alle finden sie meinen Bruder, oder vielleicht findet er sie, und dann beginnt das Liebeskarussell, von dem ich seit langem abgesprungen bin.

      Nach aufreibenden Szenen und Tränen im Korridor stößt er die Doppeltür krachend auf, und damit wohnen wir wieder zusammen in der riesigen Wohnung. Er sieht unsäglich erleichtert aus.

      »Alles ist also wieder wie vorher?« frage ich und blicke von der vierten Tasse Morgenkaffee auf.

      Genau das sage ich immer, wenn die eben noch aktuelle Freundin gegangen ist.

      »Genau wie vorher«, sagt er und stöbert in meinem Kühlschrank herum, um sich von dem zu bedienen, was ihm behagt.

      Ich weiß nicht, wie man das Gefühl nennen soll, das zwischen Sam und mir besteht. Wir haben drei Personen zusammen beerdigt. Zuerst starb unsere Mutter 1981, viel zu früh, an Demenz, danach, 1986, unser Vater, an Kummer in tödlicher Kombination mit Schlaftabletten, und vor vier Jahren Martin. Wir wissen alles über Bestattungsinstitute, Kondolenzkarten, Todesanzeigen, Testamente, Kaffee mit Gebäck, Krankenhauscafeterias, die kleine gestreifte Figur vor dem Eisstand, die so naßgeregnet aussieht in dem obligatorischen, äußerst schlecht gepflegten Krankenhauspark, wo Angehörige »Ruhe« finden sollen. Nach Martin will ich nichts mehr davon wissen. Wir haben mehr geteilt als das, was zwei erwachsene Menschen, nicht zuletzt erwachsene Geschwister, teilen sollten,


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