Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
ich unsichtbar bin, eigne ich mich gut als Gesprächspartner. Weil sie am Boden zerstört sind, bemerken sie meine versteckten Bosheiten nicht, merken nicht, daß ich zubeiße. Weil ich seine Schwester bin, glauben sie, ihm durch diese »vertraulichen Gespräche« ein Stück näherzukommen. Mein Bruder ist bemerkenswert, in der Welt der Liebe scheint er mehr als anwesend zu sein. Er besitzt die Fähigkeit, in einer Frau Liebe zu sich zu erwecken, und das scheint mir keine geringe Leistung zu sein, da er doch nicht eine von ihnen jemals zu lieben vermochte. Ich glaube nicht, daß er jemals aus Liebe gelitten hat.
Jedesmal dieselbe Prozedur. Klar und deutlich erklärt er der jeweiligen Frau, daß er ein Mann ist, der sich nie verliebt, der nichts anderes sucht als sein Vergnügen. Ja, ich höre sie durch die offenen Fenster, beherrsche das alles in- und auswendig. Die Frau ist einverstanden, geht sogar wohlwollend auf das ungewöhnliche Arrangement ein. Danach dieselbe Verzweiflung wie bei den vorhergehenden Beziehungen, Hunde auf dem Friedhof, der Anrufbeantworter voller Seufzer, Selbstmorddrohungen im Briefkasten, die ich diskret im Kamin verbrenne.
Und jedesmal aufs neue: »Jetzt machen wir die Doppeltür wieder auf, Schwesterchen.«
Endlich allein. Wie unbeschreiblich schön. Aber Sams Trauer nach jedem Abschluß (seine Wortwahl) ist ebenfalls wirklich. Nicht weil er sie vermißt oder anders handeln wollte. Nein, seine Trauer rührt daher, daß er die Frau nicht finden kann, die seine Sicht teilt: auf die Liebe, das Leben und all das, was geschehen ist. Die Trauer rührt daher, daß er die Bestürzung der Frauen sieht und sich wegen seiner eigenen offenbaren Erleichterung schämt.
»Ich schäme mich«, sagt er zuweilen.
»Tu du das ein Weilchen«, erwidere ich.
»Die Erleichterung, wenn sie gehen. Ich sollte mich schämen.«
Doch ich kann nicht hinterm Berg halten: »Das hilft den Frauen nicht, also spielt es keine Rolle.«
Er seufzt hörbar, ist aber ziemlich rasch wieder frei von Sorgen. Es stimmt, was ich sage, daß seine Seufzer keine Rolle spielen. Die Liebe zerschmettert uns dennoch. Aber nicht so bei Sam und einigen wenigen anderen. Bittet mich nicht, ihn zu entschuldigen; ich bin nur seine Schwester. Ich bin die Schwester, die nie verurteilt, die ihn immer ausreichend in Frieden läßt, eine reine Selbstverständlichkeit, die man nicht zu erklären braucht. Eine Erkenntnis gibt es: Wir verlassen einander nie. Ein unausgesprochener Pakt. Genau wie mit Martin: bis das kleine, kahle Zimmer, wo wir unsere letzten Stunden verbrachten, uns trennte. Krankenhausbett, Klingelknöpfe, ein kleiner Körper und viel zu großer Schmerz. Eine Mutter, die nicht atmen konnte, als der Sohn damit aufhörte. Nicht genug.
Mein Bruder. Vorbehaltlos. So ist es. Boshaft? Nein, doch kann ich auch nicht sagen, was er sonst ist. Mein Bruder und ich analysieren einander nicht, dafür haben wir keine Begabung. Ich beobachte nur, stelle fest, daß ihn die »Affären« (ich hatte keine solchen, daher die Distanz) in gewissem Maße interessieren, doch daß sie stets ein kratzendes Gefühl hinterlassen, wie Pullover aus der erbarmungslosen Mischung von Wolle und Acryl. Er will weg, nach Hause, die ganze Nacht fernsehen, mit Schokoladentafeln im Bett. Ruhe haben.
»Am Anfang ...«, sagt er und schüttelt nachsichtig den Kopf, »sind wir uns einig, immer ist es so. Danach dieser Kampf um Raum: meiner, deiner und unserer. Nur das Letzte will ich abwenden. Ist das so schwer zu verstehen?«
Ja, ich verstehe. Aber ich bin nicht seine Geliebte, nur seine Schwester und außerdem eine Frau, die im Leben genauso viele Male geliebt hat wie ein normaler Mensch in einem halben Jahr. Wie komme ich dazu, sein Liebesieben zu verurteilen?
Aber wenn ich die Frauen sehe, verspüre ich doch einen Anflug von Verzweiflung, weil sie ihn nicht verstehen. Äußerst selten nehme ich mir die Zeit, von meinem Bruder zu berichten.
»In Ruhe ...«, kann ich zu der am Boden zerstörten Frau sagen, die ich im Augenblick vor mir habe. »Wenn du ihn in Ruhe läßt, wird er bei dir bleiben.«
»Und mich lieben?«
»Ich bin nicht sicher, daß er die Fähigkeit dazu besitzt. Manche, ja manche haben kein Talent dafür«, versuche ich.
»Ihr seid eine merkwürdige Familie. Der eine süchtig, der andere Abstinenzler.«
Ich, ein Abstinenzler? So kann man es auch sehen. Nein, ich habe die Liebe nicht unnötig und übermäßig gebraucht. Unnötig und übermäßig? Vielleicht überhaupt nicht. Ich habe einen kleinen Mann geliebt, einen werdenden großartigen Mann, den man aus meinem Schoß gehoben und an mein Herz gelegt hatte, das er von dieser Stunde an kontrollierte. Ich liebe einen großen Bruder, der morgens zu mir hereinkommt und mit uneingeschränktem Lebenshunger sagt: »Wie herrlich, jetzt ist wieder Morgen. Laß mich hier lüften, Liebes. Hier riecht es nach muffiger Schlaflosigkeit und nicht zu lösenden Problemen. Kaffee?«
Die Doppeltür weit auf, das gelbe Haus ruht noch immer in dem freundlichen Vertrauen, das ein neuer Tag jenen Menschen verspricht, die den Schlaf einer ganzen Nacht hinter sich haben: der Kopf klar, der Körper weich und entspannt, eine keimende Lust, ein träges Gähnen, die Arme hochgereckt – sanft ist das Leben für die Seligen. Laßt mich meine Tagesanfänge beschreiben (es fällt mir so schwer, nicht davon zu reden): verstopfte Nase, verspannte Muskeln, Kopfschmerzen, trockener Mund, Schwindelgefühle, Magenkrämpfe, Halluzinationen, brennende Augen. Ein Gefühl, als hätte man einen Kater, doch nicht von Alkohol verursacht, sondern von einer Krankheit, die nicht zu heilen ist, ein ungewünschter Wahnsinn, der langsam die Fassade zerbröckeln läßt, die fünfunddreißig Jahre lang mein Ich ausmachte. Ich weiß, es ist entsetzlich; ich zähle meine Wunden wie ein Kind nach einem ungewöhnlich erlebnisreichen Sommer, doch ohne den Stolz des Kindes.
Sam hebt die Hand.
»Nein, laß uns darauf nicht eingehen. Halt dich an die Fakten«, sagt er, um mich vor dem ewigen Wiederkäuen zu bewahren.
»Zwei Stunden.«
»Sieh an! Wir brauchen eine Stärkung«, sagt er, nimmt Brötchen aus dem Gefrierschrank und singt so anrührend und falsch, daß es mir durch Mark und Bein geht.
»Raus!« will ich schreien. »Raus du mit deinem Lebensmut, deinem gräßlichen Appetit aufs Leben, dem unstillbaren Hunger auf Trägheit und Genuß. Verschwinde, du mit deinen faulen Tagen auf dem Sofa, mit den Videos, den kleinen Leckereien und keiner Spur von Reue oder schlechtem Gewissen. Raus! Ich ertrage dich nicht mehr.«
In Wirklichkeit ist er der einzige, ohne den ich nicht sein kann. Sam ist mein Bindeglied zum Leben. Er weiß es, macht kein Gewese daraus. Daß wir uns gegenseitig nie verurteilen, das ist das Großartige. Wie kann eine Sache, die eigentlich einfach ist, so schwer sein?
Ich gehe zum Bett zurück, heute ist kein Tag, an dem man nach draußen geht. Mein Bett verwandelt sich in ein Zelt, und ich weine darunter, nicht aus Trauer, sondern aus reiner Müdigkeit, um den Körper sozusagen etwas weicher werden zu lassen. Sam kennt das schon. Hin und wieder reicht er mir eine Tasse Kaffee oder einen Keks unter die Decke. Nach einer Weile kommt die Zeitung.
»Der erste Teil?«
»Im Badezimmer, zerfleddert.«
»Hast du gebadet?«
»Hm. Vielleicht ist sie eher zerfressen, aufgelöst und mit Badeöl imprägniert.«
»Aha.«
Jetzt pfeift er wieder. Die Fenster stehen weit offen, ein tiefer zufriedener Seufzer. Er hat meine volle Bewunderung. An seiner Seite werde ich diesen Tag wohl überleben.
Seit kurzem bekomme ich auch Mitteilungen über Handy. Es ist nicht mehr so einfach, sie als Liebesbriefe zu deklarieren. Kurze Ausrufe von Bewunderung? Beharrlichkeit? Dieselben sonderbaren Absender. Der Wunsch meines anonymen Briefschreibers wird immer undurchsichtiger. Ich weiß nicht, ob ich diese Nachrichten noch immer nett oder unbeholfen finden soll. Statt dessen macht sich das unangenehme Gefühl breit, überwacht zu werden. »Ich sehe dich«, schreibt er manchmal. »Selbst wenn du dich noch so unsichtbar machst, ich sehe dich dennoch.« Ist das Liebe? möchte ich jemanden fragen. Soll ich mich geschmeichelt fühlen, auf den Blumenboten warten, die Beine rasieren, Frauenmagazine