Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
Blitzeinsätze, die erforderlich sind, wenn ein Beamter aufgelöst anruft und eine Sofortbestellung aufgibt: »Die Agrarentwicklung Litauens in den letzten 150 Jahren, ökonomische und politische Aspekte!« Zehn Minuten darf es dauern, denn sie haben nur eine Stunde zur Verfügung, um das Material zu liefern. »Ist es günstiger, es zu holen, oder können Sie es mit der Rohrpost schicken, verstehen Sie, die Zeit hier oben vergeht so rasend schnell.« Ich verstehe natürlich und fühle mit ihnen. Ich habe ihre Blicke gesehen, habe ihren Herzschlag durch die gebügelte Hemdbrust vernommen. Die Aufgelöstheit ist spürbar: viel zuwenig Zeit ... ist es möglich, daß sich die Buchstaben so rasch über den Bildschirm bewegen?
»Fünfunddreißig E-Mails in einer halben Stunde«, sagen sie mit heiserem Lachen, wenn sie ihren Packen an meinem Tisch abholen. »Davon fünfzehn akute.«
Früher habe ich meist genickt, war der unsichtbare Shredder. Heute möchte ich ihnen fast über die Wange streicheln, mich Vorbeugen und flüstern: »Kommt her, erleichtert euer Herz, das schwer ist von Streß und dem Gefühl der Unzulänglichkeit, von mangelnder Unterstützung und minimaler Freizeit.«
Dieser Tage überraschte ich mich selbst dabei, daß ich meine Hand über die einer Beamtin legte, die nahezu erstarrt die Erkenntnis verdaute, daß sie gerade ihre Deadline verpaßt hatte, das Leben aber trotzdem weiterging. Sie ließ mich gewähren, legte ihre andere Hand auf die meine. Da standen wir wie ein altes verfrorenes Paar, uns des anderen eigentlich nicht bewußt.
»Nicht so schlimm, oder wie?« sagte sie schließlich.
Mit Erleichterung ließen wir beide die Intimität hinter uns. Kaffee? Champagner? Oder nur einen Plastikbecher Mineralwasser? Jede von uns beiden nahm einen Becher Wasser. Eine kurze Zeit der Nähe, sie mit der Erkenntnis, sterblich zu sein und dennoch weiterleben zu können, und ich mit der Gewißheit, daß nur wenig dazu fehlt, die Wirklichkeit unkontrollierbar werden zu lassen, Ordner eingeschlossen. Dann verschwand die Beamtin, ging zurück zu dem Strom von Mitteilungen, Bestellungen, grandiosen Redematerialien und dicken Untersuchungsberichten, die ihre Welt waren. Ich selbst kehrte zurück zur Einsamkeit meines Magazins, mit einem nicht eben geringen Gefühl der Erleichterung und Empathie. Ich entschloß mich, sie von jetzt an in meine Nachtgebete zu Martins Gott einzuschließen. Genug davon.
Heute hat sich vor meinem Tisch eine Schlange gebildet. Morgen gehen viele in Urlaub, und »höheren Orts« ist man bereits in eine Vielzahl phantastisch gelegener Sommerhäuser entschwunden. Das gibt den Beamten die Chance, sich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihnen am Herzen liegt, das ihnen früher am Herzen gelegen hat oder auch niemals. Ganz nach Neigung, Erfahrung und Persönlichkeit. Weit hinten in der Reihe steht ein gutaussehender, knapp fünfzigjähriger Mann und sieht mich an. Wie soll ich gutaussehend definieren? Wir erkennen es, wenn es uns begegnet. Man spürt, daß er die Qualitäten eines Gentlemans besitzt, ich lache bei dem Gedanken. Vielleicht ist es die Art, wie er andere, gestreßtere Kollegen vorgehen läßt, wie er die Jacke einer Frau hält, während sie in ihrer Handtasche wühlt. Er steht nicht mehr dort, als die anderen Beamten gegangen sind, doch taucht er mit dem Jahrgang einer Sonderzeitschrift im Arm hinter einer Bücherwand wieder auf.
»Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« fragt er.
Ich erwarte beinahe, daß es ihm wie ein Lied von den Lippen kommt, mit der Melodie eines Schlagers vergangener Zeiten. Oh, haben wir uns nicht schon einmal gesehen, bist du nicht das Mädchen für miiich? Ein leises Kichern, es muß die Müdigkeit sein, die mich so albern reagieren läßt.
»Gerade eben, am Tisch«, antworte ich und reiße mich zusammen.
»Ich weiß. Ich meine früher.«
Jetzt lachen wir beide, ich lache, bis mir die Knie weich werden, der Bauch ganz heiß. Ohne darüber nachzudenken, lege ich obendrein die Hand unter das rechte Ohr, bewege sie auf und ab bis zum Haaransatz. Ich erschauere, werde rot und schaue schließlich zu Boden. Unglaublich linkisch. Da ist etwas in seinem Blick, in seiner Art, mich zu sehen.
»Wir haben uns also noch nicht gesehen?« wiederholt er, während er die Zeitschriften geschickt der Reihe nach sortiert.
»Nein.«
»Nicht einmal im Profil?«
»Nein!«
»Und von hinten?«
»Keinesfalls.«
»Auch nicht ihr Nacken den meinen?«
»Also bitte, nochmals nein.«
Unser Lachen hallt unter der hohen Decke, prallt zurück. Meine Kollegen blicken hinter ihren Bildschirmen auf. Ich fühle mich merkwürdig flau. Gibt es nicht irgendwo einen Stuhl?
»Ich führe kein solches Leben«, murmle ich. »Wir können uns nicht gesehen haben. Zu alt dafür, schon sechsunddreißig, bald. Sehen Sie, schon graue Haare.«
»Kein Vertrauter?«
»Überhaupt keiner.«
Wir gehen zum Ausleihtisch.
»Wie klappt es mit dem Wohnungstausch?« fragt er, weist auf den Zettel am Anschlagbrett und dann auf mein Namensschild am Tisch.
»Überhaupt nicht. Mein Bruder lehnt alle Vorschläge ab. Gute wie miserable. Vor allem die guten.«
»Und Sie?«
»Ich bin ...«
Was bin ich eigentlich?
»Zu passiv. Mag es vielleicht nicht, Beschlüsse zu fassen.«
»Daran ist nichts Schlechtes. Wichtig ist, daß man gegebene Versprechen hält, finden Sie nicht? Und wenn alle dauernd Beschlüsse fassen würden, dann ...«
Er beendet den Satz nicht. Seine Art bewirkt, daß ich mich merkwürdig nackt fühle. Ich registriere seine Bücher, auf meinem Bildschirm hinterläßt seine Benutzerkarte die Angaben: Ulf Stierner, Ministerialdirigent, Landwirtschaftsministerium.
»Sind Sie oft unterwegs?«
»Meistens im Osten.«
Ich habe gehört, was sie sich im Personalspeisesaal über die Menschenmenge zurufen. Bonn? schreit einer. – Nein, wieder Brüssel! – Vorige Woche New York. – Ich auch. Im April.
Es liegt etwas Rührendes in diesem Herunterbeten von Großstädten, als werde der Flug der Zeit von einem Dreitagebesuch in Tallinn, das Programm vollgepackt, gebremst.
»Nicht einmal unser Haaransatz?« ruft der Ministerialdirigent vom Ausgang her.
Ein weiterer Blick meiner Kollegen und noch ein Erröten meinerseits. Wie rasch man heutzutage regrediert.
Sich in die Arme eines Menschen zurücklehnen und einfach nur schlafen. Die langsamen Atemzüge eines anderen spüren und dadurch den eigenen, gejagten entkommen. Jemanden seine Schulter berühren lassen, bis die Tränen strömen, die Trauer dich freigibt, das Schweigen gebrochen wird. »Auch du, Savanna.« Ja, mein Gott. Ein leises Piepen von meinem Computer, eine E-Mail. Ich öffne sie, erwarte eine ausgewogene, doch völlig unbegreifliche Direktive nach perfektem Muster von Mårtensson – sein letzter Anlauf vor den Ferien, das kann umfangreich werden. Statt dessen kommt die Mail von einer [email protected].
»Jetzt ist nicht mehr viel Zeit übrig. Ich will, daß Du Dich still verhältst. Ja, unbeweglich. Bis es vorbei ist. Du weißt, was ich von Dir verlange. Ich habe es schon früher getan. Wie damals, Savanna: Unsichtbarkeit und Dein Schweigen.«
In diesem Teil der Bibliothek ist es so kalt, die Klimaanlage muß doch irgendwie abzustellen sein. Ich suche zwischen den Knöpfen, drücke auf den falschen, schalte alles ab, lege die Stirn an den Apparat, mir wird schwarz vor Augen. Meine Kollegin kommt zu mir. Viel zu klug, um ihre Schulter anzubieten. Hingegen sagt sie etwas, das sie zuvor noch nie gesagt hat: »Du brauchst Hilfe, Savanna. Begreifst du das nicht?«
So kalt ist es hier im Raum, unendlich kalt, und mein Wollpullover liegt zu Hause. Der Pullover flattert auf meinem Balkon im Wind.
»Du