Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors

Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors


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sagt er und seufzt tief. »So hier sollte man leben.«

      Ich betrachte das Schlachtfeld, das wir hinterlassen haben: Süßkram, Speisereste, in der Ecke ein stummer, aber eingeschalteter Fernseher, das Fenster weit auf, Kleidungsstücke auf dem Boden, Weinflaschen, die in der Morgenbrise leicht hin und her rollen. Vielleicht hat er recht, meine Mappen und Listen machen das Leben unerträglich, nicht Sams ungehemmter Wunsch nach Genuß. Aber die Mappen sind meine Art, in einer zusammengebrochenen Welt, meiner eigenen, Ordnung zu halten. Bis die Schlaflosigkeit kam, funktionierte das auch ausgezeichnet, danach – überhaupt nicht mehr.

      »Mit dir könnte ich das ultimative Leben leben«, philosophiert Sam weiter.

      »Aha?« sage ich gähnend.

      »Warum sind nicht alle Frauen wie du?«

      »Ohne alle Forderungen, meinst du? Vorbehaltlose Liebe und all das? Bitte, nicht schon wieder!«

      »Aber ich finde«, versucht er zu erklären, »mit dir habe ich die perfekte Beziehung.«

      »So, findest du?«

      »Ja, sicher! Außer dem Sexuellen, natürlich.«

      »Das wollen wir meinen«, sage ich, lasse mich aus der Hängematte plumpsen und berühre wieder festen Boden.

      »Das beste wäre natürlich, wir würden zusammenleben und das andere mit beliebigen Partnern innerhalb begrenzter Perioden zufriedenstellen.«

      Er klingt wunschlos glücklich, setzt Kaffee auf und bemerkt mit einem Lächeln, daß die Tür weit offensteht, verzieht dann aber das Gesicht, als er sieht, daß die Verplombung gelöst ist.

      »Sam, genauso leben wir doch.«

      Er sieht erstaunt aus, doch liegt das nur am Kater.

      »Da hast du recht. Ich tue es. Aber du?«

      »Oh, zu spät für so was.«

      Das Beste an Sam? Mir bleiben sorgenvolle Blicke erspart. Ich fahre mit dem Rad durch einen Sommerabend, der seine Gäste wohl ins Jenseits befördern will, indem er Tausende von Düften gleichzeitig ausströmt. Overkill würden die Amerikaner sagen. Warme Stockholmer Abende haben zweifellos genau diesen Effekt – alles auf einmal. Der Asphalt ist weich vor Hitze, die Häuser scheinen zusammengesunken, als seien sie nach einem langen Sonnentag gerade im Begriff auszuatmen – jetzt braucht man sanfte Cremes und Ruhe. Die Autos bewegen sich nur kriechend vorwärts, als hätten ihre Fahrer weder Kraft noch Lust zum Gasgeben. Die Schiffe vor Slussen liegen völlig still, als wäre Aktivität an einem solchen Abend überflüssig. Die ganze Stadt, eingebettet in Grün, ruht im warmen gelben Abendlicht, eine schwache Brise weht zwischen dem Mälaren und der Ostsee, zieht in die Gassen hinein, der perfekte Zeitpunkt, um die Kinder schlafen zu legen. Die Regenrohre hängen wie Zungen durstiger Hunde von den Häusern auf die Straße, die Fensterläden verschließen ihnen die Augen, die Glocken haben aufgehört zu schlagen, und auf den Milchkästen vor dem Kücheneingang sitzen Kellnerinnen und rauchen. Ruhe und Muße, ein stilles Gebet: Möge diese Stadt im Sommerrausch verbleiben, da ist sie am schönsten. Aber wir alle beben bei dem Gedanken an den unbarmherzigen Winter und den nicht existierenden Frühling in dieser Stadt, auch vor dem klaren Herbst. Wir kennen all das viel zu gut, deshalb erholen wir uns jetzt so ausgiebig. Das ist der Grund, warum wir die Schiffsmotoren abstellen, unsere Autos langsam über den ungewöhnlich klebrigen Asphalt rollen lassen und mit solcher Wehmut genießen.

      Die Barriere zur Wirklichkeit, die ich in den vergangenen Monaten gespürt hatte, ist beinahe verschwunden, weil ich endlich ausgeschlafen bin. Zwölf Stunden Schlaf, und der Schleier ist weg. Es ist, als hätte jemand eine Plastikfolie, ein Mückennetz vor meinem Gesicht weggerissen, und ich wage es, einen tiefen Seufzer zu tun – ohne die Angst, ersticken zu müssen. Die Schlaflosigkeit hatte meine Nerven bloßliegen lassen, jeder konnte daran ziehen. Bei jeder Kleinigkeit war ich zusammengefahren. Jedes Geräusch hatte mich mit doppelter Stärke erreicht, jede Farbe mit greller Intensität. Meine Kraftreserve war zu gering gewesen: eine falsche Bemerkung, ein Puff zuviel, und ich bin gefallen. Alles erzeugte größtmögliche Irritation. Nachsicht, ein Luxus für die Ausgeschlafenen.

      Der einzig akzeptable Nebeneffekt ist die Dünnhäutigkeit. Nunmehr bin ich diejenige, die – wenn auch ein wenig verkrampft – um Hilfe bittet. Daß ich mir gestatte, in Ljunggrens Besuchersessel zu versinken, daß eine Beamtin meine Hand nehmen darf, daß ich die Doppeltür nicht verschlossen halten und die Verplombung nicht an ihrem Platz lassen kann, daß in meinen Mappen totales Durcheinander herrscht und ich mir erlaubt habe, in ein Dunkel zu versinken, das ich nicht einmal benennen kann. Was ist das, Depression? Sagt mir nichts. Brainstorm? Der Sache schon näher. Seelischer Orkan?

      Ich bin klug genug, diesen Abend im Zeichen des Ausgeschlafenseins zu genießen. Ich weiß, daß der morgige Tag ganz und gar nicht so werden muß. Man hat mir eine Frist eingeräumt, das ist alles. Zuversicht, genau wie Nachsicht, ist ein Privileg für die ausgeruhten Bewohner dieser Stadt.

      Wie beschreibt man einen Menschen? Die Ausstrahlung, die von den Augen, der Haltung, dem Körper ausgeht? Wie sieht man einen anderen? Ich wünschte so sehr, Sam wäre hier, denke ich, als ich mein Fahrrad abschließe und zu dem Mann hinüberschiele, mit dem ich verabredet bin. Wie lernt man, ohne irgendwelche Absichten zu reden, ohne schlecht verborgenen Nebensinn und widerspruchsvolle Botschaften? Dennoch weiß ich, daß Sam auf diese Fragen nicht antworten könnte. Er hat die Fähigkeit, die Herzen anderer überquellen zu lassen, aber bei seinem eigenen fehlt ihm das. Die perfekte Beziehung? Hu! Nein, Martin hätte ich fragen müssen. Oder ihn besser beobachten sollen, denn er wußte, wie man Leuten begegnet. »Direkt zu ihnen hin, Mama«, hatte er gesagt. »Einfach geradeaus.«

      Ich überquere den Platz, den wir für unser Treffen gewählt haben. Ein merkwürdiger Gedanke: Das hier ist schon Erinnerung. Absurd. Ein Mann, den ich nur einmal auf einem Foto gesehen habe, ein Vater, den ich gemocht hatte – das ist alles. Er ist bestimmt verheiratet, geschieden, wiederverheiratet, hat drei Kinder adoptiert und erwartet jetzt ein eigenes mit seiner dritten Frau. Aber das ist gleich wieder vergessen. Jack Fawlkner hat dunkles, kurzgeschnittenes Haar. Ich vermute, er benutzt einen solchen Apparat, wie Sam ihn besitzt: eine Einstellung für den ganzen Kopf, x Millimeter, ein paar Minuten Surren, auf dem Fußboden ein Häufchen, eine Runde mit dem Staubsauger (Martin: »Bitte, Sam, darf ich was zum Ausstopfen behalten?«), worauf das Ritual beendet ist.

      Jacks Körper scheint in sich selbst zu ruhen, obgleich er aussieht, als wollte er sich ständig bewegen. Als sei der Zwang, still stehen zu müssen, etwas äußerst Zufälliges. Bald ist sein Körper wieder bereit, sich zu straffen, um die Welt in Besitz zu nehmen. Das hier ist kein Mann, dessen Nerven bloßliegen. Das ist ein Mann, der jede Nacht seine acht Stunden schläft, selbst nach fünf Stunden ist er nett und angenehm, und am Abend würde er es nicht einmal schaffen, das Vaterunser zu beten. »Ausgeglichen«, hätte Sam gesagt, vielleicht eine Spur von Neid in der Stimme. Er erscheint mir so frisch und gesund, daß ich meinen Schritt verlangsame. Was kann ein solcher Mann anderes tun, als mich an meine Mängel zu erinnern, an die Jahre der Isolation und der fehlenden Liebe? Sowie an sechsundachtzig schlaflose Nächte.

      Doch da sieht er mich. Er macht eine Bewegung mit den Händen in meine Richtung, beinahe wie Martin es immer tat, wenn er mich kommen sah, kurz bevor er die Arme in die Luft streckte, damit ich ihn hochnahm. Es ist eine winzige Bewegung des Willkommenheißens, aber sie genügt, um meine Hand instinktiv zum rechten Ohr zu führen. Nein, nicht so etwas. Hilfe brauche ich. Ein albernes Lächeln wie in der Bibliothek, weiter werde ich nicht gehen.

      Dennoch weiß ich Bescheid. Wie lange dauert es, bis man weiß, daß man einen anderen küssen will? Den Bruchteil einer Sekunde. Hitze im Bauch, es ist, als zöge sich die Gebärmutter zusammen.

      »Savanna Brandt«, sagt er leise lächelnd.

      Mehr ist nicht nötig, da sein ganzes Gesicht geradezu von innen leuchtet, eine schlecht verborgene Freude in seinen Augen. Irritiert denke ich: Was hat er für einen Grund, so froh auszusehen? Woher diese Ausstrahlung, so etwas vererbt sich doch nicht. Mach dich nicht lächerlich.

      »Sie sind Jack«, stelle


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