Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
wenn auch in Zivil. Er will wissen, was passiert ist, als Geste gegenüber seinem toten Vater.
Doch das will er ganz und gar nicht, er will über andere Dinge reden. Ich glaube, er will sich einmal richtig aussprechen. Warum er mich dafür ausgewählt hat, ist mir unbegreiflich.
»Meinen Vater haben oft Frauen angerufen«, beginnt er unbekümmert. »Oh, nicht so. Er hatte den Ruf, bei Frauen gut anzukommen. Aber nicht deshalb riefen sie an«, sagt er und sucht meinen Blick zur Bestätigung. »Sie riefen an, weil sie sich Schutz erhofften, eine Möglichkeit der Hilfe und eine Freistatt. Wenn sie anriefen, waren sie schon jenseits der heftigen Verzweiflung, sie steckten in einer Sackgasse. Mein Vater wußte etwas darüber, wie man da wieder rauskam. Offenbar sprach sich das herum, denn sie riefen immer öfter an. Mißhandelte Frauen aus dem ganzen Bezirk. Man sagte, er höre sich ihre Geschichten an und könne helfen. Und daß man mit ihm reden könne, obwohl er ein Mann sei. Ich meine, daran ist nichts Falsches, aber in diesem Fall hier ...«
Ich versuche aufmunternd zu lächeln.
»Nun ja, oft konnte er ja nichts anderes tun, als ihnen die Nummer der Frauennothilfe zu geben und sie aufzufordern, ihre Verletzungen im Krankenhaus dokumentieren zu lassen, vielleicht daß sie es auch wagten, den Mann anzuzeigen. Wie viele von diesen Männern wirklich verurteilt wurden, hat er nicht erzählt. Ich glaube, es ist ihm viel zu nahegegangen, als daß er darüber hätte reden können.«
Unsere Getränke werden gebracht, er hatte auf Cocktails mit bunten Papierschirmen bestanden, weil er »sich in diesem Sommer keinen Urlaub gönnen kann«. Wir fingern verlegen an der Verzierung herum und bestellen etwas zu essen, denn ich bemerke voller Überraschung, daß ich hungrig bin.
»Als Sie angerufen haben, glaubte ich, Sie seien eine dieser mißhandelten Frauen. Eine, die nicht wußte, daß Vater gestorben ist. Ich konnte die Frau, konnte Sie doch nicht einfach am Telefon hängenlassen. Es kostet so viel Kraft, um Hilfe zu bitten, da kann ich Sie nicht einfach weiterverweisen. Ohne zu überlegen, habe ich es wie Vater gemacht, fragte genauso, wie er es tat. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Der Einfluß über Jahre ...«, sagt er und sieht plötzlich gerührt aus.
Dieser Mann hier hat offenbar keinerlei Kontaktschwierigkeiten und ist ohne jede Scheu. Man steckt sofort mitten im Gespräch. Wir nehmen beide einen großen Schluck zwischen den Schirmen.
»Ich habe ihn so oft gehört. Das erste Mal, als ich vielleicht vierzehn war, kurze Zeit nachdem diese Frau mit Namen Weller in seinem Bezirk ermordet worden war. Vielleicht 1973? Aber ich habe nicht gedacht, daß ich selbst anfangen würde, so zu reden wie er.«
»Vielleicht war Ihr Vater wirklich ein Mann, der bei Frauen gut ankam?«
»Wie bitte?«
»Im buchstäblichen Sinn des Wortes.«
»Möglich«, erwidert er. »Aber manchmal frage ich mich, was ihn trieb. Er mußte eine ganze Menge Spitzen einstecken.«
»Weichling?«
»Und anderes.«
»Damit konnte er vielleicht leben?«
»Sicher konnte er das.«
»Aber was hat ihn nur getrieben?«
Es scheint nicht oft vorzukommen, daß er sich unterbricht, doch wenn er es tut, dann voller Nachdenklichkeit. Er sagt, leicht überrascht, so als käme er erst jetzt zu dieser Einsicht: »Ich glaube, er hat es nicht ertragen, sie leiden zu sehen.«
»Nein«, sage ich und denke an Paulina Weller, die Fotografie auf David Fawlkners Schreibtisch und an mein eigenes inneres Bild, das rotbraune Haar unter dem Laken.
»All diese Spektakel in den Wohnungen und das Gerede von Gewalt in der Familie. Was Vater sich fragte, war: Kann man von Gewalt in der Familie sprechen, wenn nur einer prügelt?«
Wir bestellen zwei neue Drinks, deren Schirme wir zwischen den Fingern drehen: »Ist genauso gut wie Nachtisch, bestimmt.«
»Was wollten Sie von meinem Vater?« fragt Jack.
Wir haben gerade das Essen beendet, bei dem ich sein Alter (achtunddreißig), seinen Beruf (Kriminalinspektor, zehn Jahre im Dienst), seine Interessen (Sport treiben! tja) und seinen Familienstand (geschieden, keine Kinder) erfahren habe.
»Wieso wollte?«
»Die meisten haben einen Grund für ihren Anruf.« Er lächelt herzlich.
»Ja, ja«, fauche ich.
Ich begreife, es ist, weil er Sam ähnelt: dieselbe Fähigkeit, Ablenkungsmanöver zu durchschauen, und das Ausbleiben ironischer Kommentare.
Ich kaue an einem Nagel herum und wende mich irritiert zum Fenster.
»Es war nichts. Ganz unwichtig.«
»Nur ein nettes Essen«, sagt er. »Nach einem sonderbaren Telefongespräch.«
»O nein. Nicht wegen dem netten Essen. Ich meine, es war nur so, daß ich Hilfe brauchte.«
»Brauchte?«
»Jetzt hat sich die Sache gelöst.«
Schweigen. Er streckt seine langen Beine unter dem Tisch aus, lehnt sich zurück, seine Füße berühren die meinen. Ich ziehe meine Beine zurück.
Er hat jetzt die Hände im Nacken verschränkt, sein Blick in meinem. Er wartet. Dieser Arm, dunkelbraun an der Oberseite, hellere Haut unten. Der Mund wird mir trocken, ich fühle mich den Tränen nahe. Bin ich an der Reihe, das Gespräch zu übernehmen? Oh, Sam, ich kann nicht. Aber Jack ist schnell. Er beugt sich plötzlich vor, faßt meine Hände, zieht sie in einer einzigen langen Bewegung über den Tisch zu sich. Und sagt: »Erzähl jetzt.«
Ich erzähle alles. Die Schritte, die Schlaflosigkeit, die E-Mails, die Gedanken an Paulina Weller, die Begegnung mit seinem Vater David, die Visitenkarte unter dem Kopfkissen, meine Angst, weil jemand nachts draußen vor der Tür ist. Die ganze Zeit hört er mit größter Aufmerksamkeit zu.
Als letztes sage ich: »Ich glaube, jemand will mich töten, aber ich weiß nicht, warum«, doch erst ein Weilchen später verstehe ich das Gesagte wirklich.
Vielleicht ist der Alkohol schuld, daß ich so dramatisch werde, der Papierschirm, der aus irgendeinem Grund hinter meinem rechten Ohr gelandet ist. Ich wußte nicht einmal, daß ich in diesen Nächten zu einem solchen Ergebnis gekommen bin.
Er schweigt. Ich sehe, wie er eine Serviette nimmt und sie sich vor den Mund hält. Einen Moment glaube ich, er weint, dann, daß er etwas in den Hals bekommen hat, doch schließlich begreife ich: Er versucht sein Lachen zu verbergen. Als er meinen Blick sieht und den Papierschirm, lacht er schließlich laut.
»Du muß mich entschuldigen!«
»Keine Ursache«, sage ich gekränkt.
»Es war nur der Wortlaut, nicht der Inhalt!«
Jetzt lacht er noch mehr. Nach einer Weile geschieht das Merkwürdige: Es steckt an, was für eine Erleichterung.
»Entschuldige, Savanna. Es ist unprofessionell und rücksichtslos. Vater würde mir nie verzeihen.«
»Nein.«
»Glaub mir! Die Sache ist nur so, daß es der größte Wunsch meines Vaters war, genau diesen Satz einmal präsentiert zu bekommen. Vor dem Spiegel übte er die Miene ein, die er im entsprechenden Fall aufsetzen wollte. »Ich glaube, jemand will mich töten, aber ich weiß nicht, warum.«
Jetzt lehnt er sich zurück, alles, was ich sehe, ist ein hüpfender Adamsapfel.
»Und was danach?«
»Wollte er ihr das Leben retten. Natürlich«, sagt er lächelnd.
»Das ist klar«, erwidere ich und versuche ärgerlich zu klingen.
»Äußerst pathetisch, sicher. Warum wollen wir Männer den Frauen das Leben retten, Savanna?«
»Manche Männer. Keine Ahnung. Erzähl