Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
ist mehr möglich. Alles, nur nicht noch eine Nacht voll Verzweiflung, nicht noch einen weiteren Tag voller Grübeleien, woher einer all meine Adressen kennt. Die Angst hat mich diese Worte sagen lassen; erst jetzt weiß ich es.
Angst habe ich nicht gehabt seit jenem Tag vor fünf Jahren, als eine Frau mit einem undichten Faserstift herumfuchtelte und dann sagte, wie es um Martin stand, daß er krank sei. Was für Worte hat sie danach benutzt? Oh, es ist so lange her, Martin. Wir sind mit Sam dort gewesen, ihr beide habt draußen gewartet. Das Sonnenlicht sickerte zwischen den staubigen Krankenhausjalousien herein, und die Ärztin tat ihr Bestes, sicher tat sie das. Wie sollte sie darauf vorbereitet sein, daß ich bei ihren nächsten Worten die Ordner vom wackligen Regal fegen würde. Die waren mal rot, mal blau und numeriert. »Im Sterben.« Das waren ihre Worte, die Finger blau von Tinte. Sehr gezielt und viel zu unvermittelt. Wie sollte sie es anders sagen? Aber ein Kind liegt nicht im Sterben, es ist lebendig. An etwas so Elementares erinnern zu müssen, das hatte mich wütend gemacht.
Nicht ich habe die Ordner hinuntergefegt, es war die Angst. Doch als das Unvorstellbare geschah, verlor sie ihre Macht über mich – ich war niemand mehr. Nichts kann an einem dann noch haftenbleiben. Nach Martin fand nichts mehr Halt in mir.
Bis jetzt. Die Schlaflosigkeit. Bis jetzt. Die Angst. Auch über meine Worte: »Ja, ich brauche Hilfe.«
8. Kapitel
Meine Schritte haben ein Echo. Nicht das normale: diesen Schritt, der den Bruchteil einer Sekunde nach dem eigenen erfolgt, wenn man durch regennasse Gassen geht. Nein, nicht das, sondern ein anderes. Wenn ich den Fuß aufsetze, ertönt mein Echo ein wenig zu spät. Bleibe ich stehen, verstummt auch das Echo, doch geschieht es mit merkwürdiger Verzögerung. Ich weiß nicht, ob ich lachen, um Hilfe schreien, Sam anrufen oder ein Taxi nach Hause nehmen soll. Ich tue nichts von alledem. Meine Schritte haben ein Echo, jemand folgt mir. Es ist wohl schon Schlimmeres geschehen.
Manchmal, wenn ich nach Hause komme, klingelt das Telefon, ich hebe den Hörer ab – niemand antwortet. Nur Atemzüge, gleichsam als Erinnerung: »Ich weiß, wo du bist.« Die Mitteilungen lassen sich beim besten Willen nicht mehr liebevoll nennen. Nicht einmal von einer Schlaflosen mit fehlender Verankerung in der Wirklichkeit. Also baue ich mir eine stärkere Festung. So gehe ich mit der Sache um. Nicht einmal Sam will ich in der Nähe haben. Das erstaunt ihn, er hatte sich auf Ausflüge in seinem offenen Sportwagen durch das sommerschöne Schweden gefreut. Mit seinem Schwesterchen, das sarkastische Kommentare von sich gibt, die ihn zum Lachen bringen. Eine Schwester, die weder den übermäßigen persönlichen Genuß noch die mangelnde Aufmerksamkeit kommentiert. Darauf hatte er sich für den Sommer 1997 gefreut. Darauf und auf die wundervolle Einsamkeit.
»Mach die Doppeltür zu, Sam!« rufe ich.
Er schaut vom Küchentisch auf.
»Zumachen?«
»Und schließ auch ab, von deiner Seite, bitte.«
Ich will nicht der Versuchung erliegen, bei jeder Gefühlsattacke zu ihm hinüberzurennen und von der Anzahl Stunden zu berichten, bei denen ich pro Nacht gelandet bin. Auch nichts von paranoiden Schritten mit darauffolgendem Echo. Würde ja nur bei den Details, den Symptomen hängenbleiben und immer weiter von den Ursachen abkommen. Statt dessen will ich mich meinen Mappen und Ordnern widmen. Bald werde ich auch mein Zeitungsabonnement abbestellen, ich ertrage keine weiteren nächtlichen Besucher. Werde Sam der Berührung und den Tränen überlassen.
»Schließ die Tür ab und laß mich in Frieden«, verdeutliche ich völlig unnötigerweise, weil es eigentlich keiner Erklärung bedurft hätte.
»Willst du, daß sie abgeschlossen ist, mußt du es von deiner Seite aus tun«, sagt er und geht zu sich hinüber.
Das ist ein deutlicher Hinweis, völlig ungewöhnlich. An der Art, wie er die Tür zumacht, höre ich, daß er wütend ist. Auch das ist nicht typisch für ihn. Nichts ist typisch. Ich fingere ein Weilchen an dem Klebeband über der Klinke von Martins Zimmer, ziehe es dann ganz ab. Öffne die Tür und gehe hinein. Alles ist genauso wie zuvor. Nein, die Bettwäsche ist frischgewaschen, und der Staub stammt höchstens von den letzten drei Wochen. Sam muß aufgeräumt haben. Er kümmert sich um die Verplombung und hält das Zimmer sauber. Ich soll mich fernhalten, so weit weg, wie es nur irgend geht – wir wissen es beide. Jetzt verstoße ich gegen die wenigen Regeln, die bei uns existieren. Martin ist ziemlich groß gewesen, sein Bett sieht fast wie das eines Erwachsenen aus. Vier Jahre, viertausend Jahre voller Leere. Ein tiefes Loch in meinem Körper, das sich nie füllen lassen wird, und an diesem Hohlraum prallt alles andere ab. Kein Tag, kein Ereignis, kein Gedanke, die nicht damit kollidieren.
Ich lege mich in sein Bett, direkt auf das Inlett des Kissens, Sam muß den Bezug vergessen haben. Das Bett hat keinen Geruch. Das Zimmer riecht schwach nach Ammoniak, vielleicht hat Sam die Fenster geputzt. Ich habe hier drinnen nichts zu suchen, Sam hat recht. Nichts und doch alles. Es gibt einen Satz, den ich nicht vergessen kann und der sich jetzt in Erinnerung bringt, er ist fest in meinem Körper verankert. Es war ganz am Anfang, nach den Ordnern und den unbegreiflichen Worten der Ärztin. Ich war tapfer, sogar mutig – oh, wie beherrscht. Außer an den Abenden, wenn ich glaubte, daß Martin schlief. An einem solchen Abend kam er herein, fand mich nackt und aufgelöst in feuchten Kissen. Bevor er sich in mein Bett legte und meine Nacht mit mir teilte, sagte er: »Es regnet in deinem Gesicht, Mama.«
Nur das. Die Mutter zu sein, zu der der Sohn so etwas sagt. Es regnet so sehr. Danach weinte ich auf ganz andere Weise. Ich behielt den Regen, so lange ich konnte, in meinen Händen, formte eine Schale für die Tränen. Sammelte sie.
An Martins Wänden hängen Bilder, die wir zusammen gemalt haben, ein paar sind nur von ihm. »Für Mama.« »Für Onkel Sam.« Wir zwei. Wir drei. Ein Feuerwehrauto im Regal. Eine Puppe in seinem Bett, ordentlich zugedeckt mit der frischgewaschenen Decke. Sam hat recht. Wer sollte darauf achten, daß das Klebeband an Ort und Stelle bleibt? Wer kann es besser tun als er? Wir stecken hier fest, er und ich. Wir stecken fest.
Ich gehe aus dem Zimmer. Kein Regen. Ich habe Arbeit und eine lange Nacht vor mir. Jetzt muß man seine Kräfte einteilen, ich weiß, wie die Müdigkeit einen von innen heraus auffrißt – habe gelernt zu haushalten. Ich sehe auf die Uhr. Erst neun Uhr abends. Vielleicht hat er Spätdienst dort oben in Roslagen, falls er überhaupt einen solchen hat. Ich meine sein zerfurchtes Gesicht sehen zu können, bemerke, wie er die Hand nach der fünften Tasse Kaffee dieses Tages ausstreckt und dann die Schreibtischlampe so einstellt, daß ihr Licht auf das Bild seines Sohnes fällt. Doch vielleicht ist sie ausgeschaltet, die Abende in Roslagen sind genauso hell wie unsere hier.
Ich entschließe mich, hole die Visitenkarte unter meinem Kissen im Schlafzimmer hervor. Auch dort frische Wäsche. Sam verwöhnt mich, er macht sich Sorgen. Auf der Karte steht noch eine handgeschriebene private Nummer. Zunächst rufe ich in seinem Büro auf der Wache an. Einfach zu hören, wie die Signale dort ankommen, verschafft mir ein Gefühl von Erleichterung, läßt mich denken, wie sehr das Gespräch meine Nacht verkürzen wird. Es ist wohl so, wie meine Kolleginnen und Ljunggren behaupten, ich brauche wirklich Hilfe. Und vielleicht ist es auch so, wie Sam gesagt hätte, wenn er mich nicht so gut kennen würde: »Aber so tu doch etwas, Savanna. Komm raus aus dem Dunkeln, mach etwas und nimm einen Platz ein! Alles andere, nur nicht diese Isolierung.«
Niemand hebt ab, ich drücke den Finger auf die Gabel und zögere vor dem nächsten Anruf. Spätabends bei ihm zu Hause anrufen? Ich lüfte mein Schlafzimmer, drehe das Kissen zum fünften Mal um. Keines meiner Rituale pflegt zu funktionieren; ich vollziehe sie dennoch. Vielleicht sollte ich Martins und Pippi Langstrumpfs Trick ausprobieren, die Füße auf das Kopfkissen legen? Natürlich habe ich es versucht, ich habe doch gesagt, ich habe alles versucht, und dennoch: trockener Mund, steife Glieder, tränende Augen – nein, genug davon.
Ich mache drei lange Schritte zum Telefon zurück, die Visitenkarte in meiner Hand ist fast völlig zerfleddert, bald sind die Zahlen verschwunden. Eine letzte Chance. Ein Mann meldet sich, mit dem richtigen Familiennamen, aber einer fremden Stimme.
»Ich heiße Savanna Brandt, würde gern mit David Fawlkner sprechen.«
Es wird still.