Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
überfliegen zusammen die Schlagzeilen, kommentieren den Nachrichtenfluß aus jener Welt, die draußen vor meiner gelben Festung rotiert und wo es viele sichtbare Menschen gibt, die ihren Platz einnehmen. Menschen, die im Licht stehen wollen, auch wenn der Preis so hoch ist, daß ihr Leben mit Beschlag belegt wird. Wir leben in einer Zeit hellsten Scheinwerferlichts, es herrscht ein Gedränge auf der Bühne, das manchmal selbst die Robustesten verwundert.
Ich erzähle Jonas von den fruchtlosen Gedanken, die meinen Kopf nachts bestürmen und die so wenig dazu dienen, daß meine Tage besser werden. Er hört nicht zu, sein Blick ist über meinen Kopf gerichtet, und plötzlich ist er wieder auf den Beinen, weit schneller als sonst.
»Willst du schon gehen?«
»Muß nach Hause, verstehst du?«
Da bemerke ich es. So viele Male hatte ich es bei Sams Frauen gesehen, und dennoch brauchte ich so viel Zeit.
»Du bist verliebt.«
Er windet sich, lacht unmotiviert, fährt grundlos mit der Hand durchs Haar. Ja, was soll man sagen?
»Ich sehne mich nach ihr.«
»Ich verstehe«, sage ich, die von gerade dieser Art Sehnsucht nicht das geringste weiß.
»Du auch, Savanna. Du auch.«
»Wie bitte?«
Er streckt seine Hand nach meiner Schulter aus, läßt sie dort liegen. Nicht noch mehr, denke ich, nicht, wenn ich so bin wie jetzt. Nicht, wenn die Schlaflosigkeit durch alle Poren gedrungen ist und die Haut hat implodieren lassen, wie nach einem allzu heißen Bad.
»Du solltest es versuchen. Keine weiteren Nächte mehr wie diese. Laß jemanden deine Schultern berühren, deinen Hals, deinen Nacken. Einen Kuß dahin«, sagt er und weist vorsichtig auf irgendeinen Punkt unter dem rechten Ohr.
Ich schaue weg.
»Die merkwürdigsten Dinge geschehen«, flüstert er. »Wenn viel Zeit vergangen ist, seit man berührt worden ist, ich meine, extrem viel Zeit?«
Ich nicke.
»Wenn es dann geschieht ...«
Er braucht nicht weiterzureden. Das Reiben unter dem rechten Ohr erklärt die Sache besser als alle Worte zwischen einer Schlaflosen und einem Zeitungsboten. Dennoch versucht er es.
»Die noch nicht geweinten Tränen sind irgendwo im Körper gelagert. Sie werden von der Berührung freigesetzt. Ich will, daß du es weißt, manchmal ist es schwer, aufzuhören. Es ist, als ob sich der Körper an alles erinnert: im Kiefer der Schmerz eines alten Schlages, die Backenknochen noch verkrampft vor Schmach, in den Schultern verhaltene Wut, im Haaransatz noch nicht freigesetzte Begierde, wenn du ...«
Er verstummt. Ich halte die Hand hinter die Kerzen und blase sie aus.
»Alles kommt heraus«, sagt er.
»Ich brauche so was nicht.«
»Savanna?«
»Wie ich gesagt habe.«
Ich begleite ihn zur Tür. Er zieht seine Windjacke an, schon sehnen sich seine Finger danach, sie vor einer anderen auszuziehen.
»Willst du, daß ich in einer Nacht früher komme, gegen zwölf, nur um nachzusehen? Das ist kein Problem.«
Ich bin nahe daran, ja zu sagen. So viele Nächte, so viele Mitteilungen, und darin eine Verachtung, die der Absender immer schwerer verbergen kann.
»Ich komme schon klar.«
Das weiß er wohl. Doch war es nicht das, was er gesagt haben, und auch nicht das, was er hören wollte. Ich schließe die Tür lautlos hinter ihm, drücke die Stirn an die kühle Fläche. Hier kann man sich ein Weilchen ausruhen – kann man doch?
Am Morgen stehe ich auf. Selbstverständlich. Die Nacht ist vorüber, nicht mal die Stunden zählen will ich. Schluß mit dem Märtyrertum. Über dem Frühstückstisch nicke ich Sam zu: »Keine Fragen, bitte.«
Mein Fahrrad steht am falschen Ende des Fahrradkellers, jemand hat es umgestellt, hat es ganz hinten zur Wand gedreht. Ich fahre durch eine noch immer vom Schlaf träge Stadt, atme den Duft von Flieder und Traubenkirsche, den Geruch der frischgemähten Friedhofswiese und der Rosenbüsehe, die auf dem Weg in den Hochsommer kurz vor der vollen Blüte stehen. Eine Natur, ein Blühen, das sich in der jährlichen Verzückung darüber, mit Duft, Farbe und Sichtbarkeit im Mittelpunkt stehen zu dürfen, in alle Richtungen streckt. Ich stoppe mein Fahrrad und ziehe einen Ast Flieder herunter, um mir einen Zweig in den Fahrradkorb zu legen. Die Nase versinkt in all dem Weichen. Berührung. Wie war das mit dem Haaransatz? Zu spät für so etwas.
Ich komme lange vor meinen Kollegen zur Ministerialbibliothek. Schließe auf, schalte die Lampen im großen Saal ein, in dem die Bibliothek untergebracht ist. Er erinnert an die Schalterhalle einer Bank zur Zeit der Jahrhundertwende, die Schritte hallen, wenn man über den Marmorboden geht. Hier existiert eine Ruhe, die nicht definierbar ist. Im Unterschied zum Institut wird hier nichts Größeres von mir verlangt, ein angenehmes Fehlen von Konkurrenz. Auf meiner Halbtagsstelle habe ich mich um Buchausleihe und Rückgabe zu kümmern, getätigt von Beamten der Verwaltung, der Ämter und Ministerien, habe das Magazin zu betreuen sowie die Schwedischen Gesetzblätter und die Öffentlichen Staatlichen Untersuchungsberichte in tadelloser Ordnung zu halten. Das gelingt niemals. In dieser Umgebung fällt es schwer, etwas anderes als unsichtbar zu sein. Meine Kollegen sind aus demselben Grund dort wie ich: der unendlichen Liebe zu Büchern; und wir hoffen, daß die Benutzer still und würdig auftreten, damit alle ihre Ruhe haben.
Unten im Magazin kann ich stundenlang an ein Regal gelehnt sitzen, völlig versunken in ein Buch, das zufällig aus der Reihe hervorstand, als ich vorbeiging. Mit einem Seufzer ziehe ich es heraus, nehme seine aufgeschlagenen Seiten mit demselben Genuß entgegen, den Sam bei Schokoladentafeln und dem Gedanken an Einsamkeit empfindet. Die Freude besteht darin, den Gedankenbahnen eines anderen Menschen zu folgen, sein Universum zu einem Teil des meinen zu machen, wenn auch nur für einen kurzen Moment, bis ich erneut untreu werde und meine Hand nach einem anderen Buch ausstrecke.
In der Bibliothek haben wir einen Chef, Herrn Mårtensson, der unsere Tätigkeit durch eine Anzahl Strategien lenkt. Diese Direktiven und Rundbriefe, die regelmäßig in unseren Fächern landen, sind großartig: Seminare, Umstrukturierungen, Prämissen, Fünfjahrespläne sowie »Kompetenzerhöhungsinitiativen von höherem Ort«. Mårtensson hat eigentlich nur eine gute Eigenschaft: Ihm ist bewußt, daß er keine Ahnung hat, wovon er spricht. Das ist ein versöhnlicher Zug, für den wir Angestellten ihn aufrichtig bewundern. Diese Rundbriefe werden auch zu jenem »höheren Ort« gesandt, sie werden eigentlich nur für diesen verfaßt, denn unsere eigenen landen umgehend im Papierkorb, worauf wir unsere Arbeit genauso erledigen, wie wir es immer getan haben: nach eigenem Gutdünken. Das funktioniert ausgezeichnet. Deshalb kann ich auch ganze Stunden im Magazin verbringen, wo ich alles Wissen einholen kann, das für meine aus sporadischen Notizen bestehende Dissertation vonnöten ist. Ljunggren hat gesagt, eine meiner wirklichen Begabungen sei es, in relativ kurzen Texten die Quintessenz schwerverständlicher Wissenschaft darzulegen, daß es mir gelänge, diese greifbar und anwendbar zu machen. Meine Artikel aus der grandiosen Zeit waren offenbar von dieser Art. Ljunggren behauptet, ich hätte das, was gebraucht wird. Aber bring es auch zu Ende! Tritt in die Welt der Sichtbaren ein, Savanna, und nimm, was geboten wird! Eine Frau auf meinem Stuhl. All das.
Ich frage Ljunggren, frage mich selbst: »Muß man denn so viel Platz einnehmen? Reicht es wirklich nicht, zu wissen, daß ich die Sache hier kann?« Muß denn alles verwertet werden? frage ich mich, plötzlich wütend. Ich weiß, was Ljunggren antworten würde: »Immer gibt es jemanden, der diesen Posten einnimmt und ihn im eigenen Interesse nutzt. Ich ziehe denjenigen vor, der es auch für andere tut. Den ich überreden muß, seinen Platz einzunehmen, statt ihn dem zu geben, der danach schreit.«
Ich aber halte mich lieber an das Magazin. Ein Schemel, ein Buch im Schoß, es öffnen und dann: das Nichts. Das ist die Zeit, die vergeht, während man liest. Normales Zeitgefühl zählt nicht mehr, so wie bei großer Trauer oder ungeduldigem Warten.