Wie Österreich Weltmeister wurde. Ulrich Hesse-Lichtenberger
die USA fahren. Am letzten Spieltag sicherte sich Saudi-Arabien mit einem 4:3 über den Iran den ersten Platz. Um den wichtigen zweiten Platz stritten nun noch Südkorea, Japan und Irak. Letztere trafen in Bagdad direkt aufeinander, und als das Spiel mit einem 2:2 endete, waren die Gäste aus Japan guter Dinge: Sie blieben nun in der Tabelle vor dem Irak und konnten von den Südkoreanern nur dann überholt werden, wenn die ihr Spiel mit mindestens 2:0 gewannen. Südkoreas Gegner? Ausgerechnet der politische Feind aus dem kommunistischen Nordkorea!
Um zu verstehen, was nun geschah, muss man zwei Dinge wissen: dass Korea einst eine japanische Kolonie war – und dass Nord- und Südkoreaner sich trotz aller ideologischen Unterschiede zusammengehörig fühlen. Zur Halbzeit stand es zwischen den beiden Teams in einem kampfbetonten Match 0:0. In der Halbzeitpause besprachen die Nordkoreaner nun aber nicht etwa, wie man die gegnerische Abwehr knacken könnte, sondern wie sich die Lage in der Tabelle darstellte. „Wir wussten, dass man uns aus politischen Gründen ohnehin nicht in die USA hätte fahren lassen“, verriet neun Jahre später, nach seiner Flucht aus dem Land, Nordkoreas Trainer Yoon Myung Chan. „Und wir wollten nicht, dass sich Japan qualifiziert.“ Also gab Yoon Myung Chan seinen Akteuren neue Instruktionen für die zweite Halbzeit. Den Nordkoreanern unterliefen plötzlich unerklärliche Fehler, und Südkorea gewann 3:0. (Fast auf den Tag genau acht Monate später traf Südkorea übrigens bei der WM auf Deutschland. Es war das Spiel, in dem Stefan Effenberg seinen Stinkefinger zeigte und deswegen nach Hause geschickt wurde. )
Der 2003 verstorbene Rudi Brunnenmeier war eine der großen tragischen Figuren der Bundesliga. Der Torjäger von 1860 München gewann 1964 den DFB-Pokal, 1966 die Deutsche Meisterschaft. Er traf gleich in seinem ersten Länderspiel (1964, im wichtigen WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden) und führte in seinem zweiten Deutschland gar als Kapitän aufs Feld. Da war er erst vor kurzem 23 geworden. Vier Jahrzehnte später lebte Rudi Brunnenmeier von Arbeitslosenhilfe, wohnte bei seiner Mutter und verbrachte die Tage in der Caféteria eines Kaufhauses, in der Hoffnung, man werde ihn erkennen und ihm einen Kaffee spendieren. Was ihm nach eigener Aussage „das Genick brach“, war, dass er 1966 Besitzer einer Kneipe namens „Pik Dame“ wurde. Denn Brunnenmeier stand seinen Mann an der Theke ebenso verlässlich wie auf dem Platz und war für seine Trinkfestigkeit berühmt. Die stellte er auch in der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1965 wieder einmal unter Beweis. Als er dann aber äußerst alkoholisiert nach Hause torkelte, erwartete ihn eine böse Überraschung in Person des Postboten. Jener händigte ihm nämlich ein Notruf-Telegramm aus. Am selben Abend sollte die deutsche B-Nationalelf in Köln gegen die UdSSR spielen, und wegen einer kurzfristigen Absage eines Spielers hatte man Brunnenmeier nachnominiert! Der Star der Sechziger machte sich also mit brummendem Kopf auf zum Flughafen und bestieg eine Maschine nach Köln. Den Nachmittag verbrachte er im Bett des Mannschaftshotels, um seinen Kater wenigstens ansatzweise auszuschlafen. Als das erledigt war, schoss er zwei Tore zum 3:0 gegen die UdSSR und flog nach München zurück. „So war ich halt“, sagte er später.
Man hat sich ja inzwischen daran gewöhnt, dass Torhüter auch Geschmack am Toreschießen gefunden haben. Jens Lehmann und Frank Rost trafen schon in der Bundesliga; Paraguays José Luis Chilavert erzielte 1996 mal ein Freistoßtor aus 60 Metern Entfernung, und Mexikos Jorge Campos – der mit den bunten Trikots – spielte während seiner Länderspielkarriere dreimal sogar ganz offiziell im Sturm. (Nachdem jeweils ein Torhüter eingewechselt worden war, damit Campos zum Angreifer werden konnte.) Aber kaum ein Keeper wird je mit Jimmy Glass mithalten können – denn sein Tor fiel nicht nur spät und war nicht nur schön, sondern zudem auch noch äußerst wichtig.
In der Saison 1998/99 war Glass von Swindon Town an Carlisle United in Englands „Third Division“ ausgeliehen worden. (Damals war die „Third Division“ die vierte Liga, weil die erste nun mal Premier League hieß. Heute ist es noch komplizierter.) Aus dieser untersten Profifußball-Klasse steigt jedes Jahr ein Team ab, und wem das passiert, der versinkt im Sumpf des Amateurfußballs, nicht selten auf immer und ewig. Am letzten Spieltag der Saison, dem 8. Mai 1999, traf Carlisle daheim als Tabellenletzter auf Plymouth Argyle. Es war erst das dritte Spiel, das Jimmy Glass im Tor von United bestritt. Sein Team musste unbedingt gewinnen, um nicht abzusteigen – und selbst dann hatte man noch darauf zu hoffen, dass ein anderes Kellerkind, Scarborough, keine drei Punkte holte.
Nach 90 Minuten stand es in Carlisle 1:1. Von der Bank bekamen die Spieler Signale, dass auch Scarboroughs Heimspiel mit diesem Ergebnis enden würde. Noch war also Hoffnung, aber es wollte sich einfach keine Tormöglichkeit für Carlisle ergeben. In der fünften Minute der Nachspielzeit holte die Elf einen Eckball heraus, und der Schiedsrichter deutete an, dass er nach dieser Aktion das Spiel – und damit wohl auch Carlisles Geschichte als Profiklub – beenden würde. Also eilte Jimmy Glass nach vorne. Sein Kollege Graham Anthony brachte den Eckball herein und Scott Dobie köpfte ihn aufs Tor, doch Plymouths Schlussmann James Dungey wehrte den Ball reaktionsschnell ab. Von seinen Fäusten segelte das Leder nun durch die Luft … und direkt auf Jimmy Glass zu. Der nahm nun nicht seine Fäuste zu Hilfe (wie Oliver Kahn es ja mal in Rostock tat), sondern hämmerte den Ball seelenruhig per Volley in die Maschen. „Der Ball fiel in meine Richtung, rumms, Tor, vielen Dank!“, beschrieb Glass das Geschehen später. Trotz seiner Heldentat bekam er keinen Vertrag bei Carlisle, sondern wechselte zu Cambridge. Später arbeitete er bei einer Internet-Firma, heute gehört ihm ein Taxiunternehmen.
Wer am Sonntag, dem 4. November 2001, zufällig einen Ausflug zum Stadion des englischen Klubs Oxford United unternahm, der wurde Zeuge einer außergewöhnlichen Versammlung. An diesem spielfreien Tag befanden sich auf dem Platz nämlich nicht nur einige Spieler und der Klubvorsitzende Firoz Kassam, sondern auch Uniteds Kaplan, der Reverend Michael Chantry, und sogar der Bischof von Oxford, Richard Harries. Letzterer sprenkelte etwas Weihwasser auf das Feld und sprach ein Gebet. Am nächsten Tag berichteten Zeitungen, es habe sich um einen Exorzismus gehandelt, mit dem der Bischof einen Fluch von dem Gelände nehmen wollte. In Jahre 1996, als Oxford gerade in die „First Division“ aufgestiegen war, kaufte der Klub nämlich Land von einem Bauern, um dort ein neues, 23 Millionen Euro teures Stadion zu bauen. Auf diesem Land lebten nun bis dahin Zigeuner, die dem Bauern bei der Ernte halfen und als Gegenleistung ihre Lager aufschlagen durften. Als sie hörten, dass man sie vertreiben würden, belegten sie das Land mit einem Fluch.
Das ist natürlich nur eine Legende. Allerdings … Allerdings lief bei dem bis dahin erfolgreichen Team von Oxford United nach dem Landkauf alles schief. Der Klub stieg zweimal ab und fand sich zur Eröffnung des neuen Kassam-Stadions in der „Third Division“ wieder. Von den ersten zehn Heimspielen wurden nur zwei gewonnen, und im November 2001 war United nach 13 Niederlagen in 17 Spielen in großer Abstiegsgefahr. Also schritt der Bischof ein.
Aber das, so sagte er, hatte nichts mit Exorzismus zu tun. „Der Bischof hat den Platz nur geseget, das war alles“, meinte der Sprecher seiner Eminenz, Richard Thomas. Doch je länger die Männer der Kirche sich äußerten, je näher kamen sie dem eigentlichen Thema. „Ich denke, man sollte lieber sagen, es ist auf eine positive Art ein Gebet der Segnung gesprochen worden“, erläuterte Kaplan Chantry. „Das drückt die Sache besser aus, als zu sagen, man habe einen Fluch aufgehoben.“ Und der Bischof selbst meinte: „Heutzutage nennen wir es nicht mehr einen Exorzismus, wir nennen es das Wirken auf die Erlösung vom Bösen.“ Also einen Exorzismus.
Eine Woche später holte Oxford daheim ein 2:2 gegen York. Beide Tore Uniteds resultierten aus abgefälschten Schüssen. Dann aber unterlag man gegen das Team aus Darlington, dessen Spieler und Fans nach einer sittenstrengen englischen Sekte „Die Quäker“ genannt werden. (Immerhin stieg Oxford am Ende der Saison nicht ab.)