Run and Gun. Sasha Reed
hatte ich meinen Job behalten können, auch wenn ich für die nächsten Wochen auf Bewährung gesetzt wurde.
„Siehst du“, hatte Damian gesagt, „Charlotte würde dich niemals feuern. Du kannst dir wahrscheinlich mehr erlauben als alle anderen hier. Sie liebt dich einfach.“
Ich hatte ihm als Antwort total erwachsen die Zunge herausgestreckt, aber vermutlich hatte er recht. Charlotte hatte mich, nachdem ich nach Boston gezogen war, zunächst als Putzhilfe eingestellt, da ich noch nicht einmal einundzwanzig gewesen war und als Barkeeperin keinerlei Erfahrung gehabt hatte. Doch ich lernte schnell und nachdem ich die Barkeeperschule mit Bestnoten abgeschlossen hatte, hatte ich meine erste Schicht hinter dem Tresen antreten dürfen. Offensichtlich hatte ich mich dabei so gut angestellt, dass ich fortan immer hinter der Bar stand. Harter Arbeit und dem vielen Lob der Gäste verdankte ich es, dass ich zusammen mit Damian die VIP-Lounge direkt nach ihrer Eröffnung übernommen hatte. Charlotte schien das nicht vergessen zu haben, sonst wäre ich jetzt schon längst im Bett. Dem Klischee entsprechend mit einer riesigen Schachtel Eiscreme, um mich darüber hinwegzutrösten, dass ich arbeitslos war.
Ich rückte den Riemen meiner Handtasche auf meiner Schulter zurecht und schüttelte die Gedanken an dieses Szenario ab. Nachdem ich mich von allen verabschiedet hatte, verließ ich den Club. Mein Gähnen konnte ich dabei kaum unter Kontrolle halten. Fröstelnd schloss ich das Auto auf und ließ mich dankbar zum ersten Mal seit Stunden in eine sitzende Position fallen. Für einen Montagabend war verdammt viel los gewesen. Mein ganzer Körper tat weh und meine Augen brannten von der Nebelmaschine, die die Bachelorette-Party einer Senatorentochter heute angefordert hatte. Ich atmete tief durch und ließ das Fenster ein Stück herunter, damit die frische Luft mich wieder etwas munterer für die Heimfahrt machte.
In meinem Gebäude schleppte ich mich die Treppe in den fünften Stock hinauf – der Aufzug hatte mal wieder den Geist aufgegeben – und sperrte die Wohnungstür auf. Ich ließ meine Handtasche achtlos fallen, streifte mir auf dem Weg ins Schlafzimmer die Klamotten ab und warf mich ins Bett, glücklich darüber, nun endlich mit den Ereignissen der letzten Nacht abschließen zu können. Innerhalb weniger Augenblicke war ich eingeschlafen.
Und wurde gefühlte zwei Minuten später durch nicht enden wollende Klopfgeräusche wieder wach. Stöhnend und den Tränen nahe, weil ich so dringend meinen Schlaf nachholen wollte, drehte ich mich auf die Seite und schielte auf meinen Wecker. Acht Uhr morgens.
„Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein“, grummelte ich. Da ich am Morgen zuvor schon gelernt hatte, dass ein Kissen über meinem Kopf nichts nützen würde, blieb ich liegen und hoffte inständig darauf, dass die Geräusche aufhören würden. Fehlanzeige.
Tock, tock, tock.
„Oh Herr, bitte gib mir die Kraft, nicht zur Axtmörderin zu werden.“
Tock, tock, tock.
„Wenn ich’s mir recht überlege, ist es mir den Knast sogar fast wert.“
Tock, tock, tock.
„Verdammt, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt eine Axt besitze.“ Memo an mich: Dad bei Gelegenheit nach Werkzeug fragen.
Tock, tock, tock.
„Scheiß drauf, ein Messer tut’s zur Not auch.“
Tock, tock, tock.
Da ich nicht davon ausgehen konnte, dass dieses penetrante Klopfen in nächster Zeit aufhören würde und mir die Idee mit der Axt auf einmal doch nicht mehr so brillant vorkam, beschloss ich, mein Leiden zu akzeptieren und mir erst einmal eine ausgiebige Dusche zu gönnen. Ich tapste von meinem Schlafzimmer durch das Wohnzimmer ins Bad und drehte das Wasser in der Dusche auf. Nachdem ich mich wieder weniger wie ein Zombie fühlte und auch die dazu passende verlaufene Schminke abgewaschen hatte, stellte ich fest, dass das Klopfen mittlerweile aufgehört hatte. Und durch ein nervtötendes Kratzen ersetzt worden war. Ich drehte das Badradio auf volle Lautstärke, föhnte mir die Haare und schlüpfte in bequeme Hotpants und ein Top. Gerade war ich auf dem Weg in die Küche für ein viel zu frühes Frühstück, da setzte das Klopfen wieder ein. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass es diesmal von meiner Tür kam. Thea hatte ihren eigenen Schlüssel und jeder Besucher wäre mir durch Simon angekündigt worden. Hatte ich schon erwähnt, dass Großtante Betty stinkreich gewesen war und das Gebäude meiner schnuckeligen hundertfünfzig-Quadratmeter-Wohnung in Back Bay einen Concierge hatte? Da besagter Concierge sich jedoch nicht gemeldet hatte, schloss ich daraus, dass es nur der neue Nachbar sein konnte, der die Vorstellungsrunde durchs Haus drehte. Schweren Herzens ließ ich meine Müslischüssel stehen.
„Hast du ein Glück, dass ich tatsächlich keine Axt habe“, murmelte ich, während ich zur Tür ging und sie öffnete.
„Hi, ich wollte mich nur kurz vorstellen. Ich bin der neue Nachbar und ziehe in …“ Die Worte der tiefen, männlichen Stimme verloren sich, als ich die Tür vollständig geöffnet hatte. Die Worte einer Stimme, die mir seltsam bekannt vorkam. Ich hob den Blick und schaute zunächst auf einen breiten Oberkörper, über den sich ein grünes T-Shirt spannte. Die langen, muskulösen Beine meines neuen Nachbarn steckten in abgetragenen Jeans und endeten in schwarzen Lederstiefeln. Mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass ich diese Schuhe schon einmal gesehen hatte. Mein Blick zuckte höher zu den breiten Schultern und wagte es kaum, die restlichen Zentimeter bis in das Gesicht meines neuen Nachbarn zurückzulegen. Doch schließlich führte nichts mehr daran vorbei und ich blickte in tiefes Hellgrün. Oh. Mein. Gott. Sofort kniff ich die Augen wieder zusammen.
„Bitte, lass das einen Albtraum sein“, murmelte ich.
„Selbst, wenn Sie es sich noch so sehr wünschen: Ich verschwinde nicht einfach, wenn Sie die Augen wieder öffnen“, antwortete Zack Conner, mein neuer Nachbar.
„Einen Versuch war es immerhin wert.“ Ich öffnete erst das eine, dann das andere Auge, weil ich immer noch auf eine optische Täuschung hoffte. War ich im falschen Film? Zack Conner konnte unmöglich hier einziehen. Er war berühmt, was wollte er in einer Wohnung mitten in der Stadt? Sicher war das nur ein Scherz. Er hatte irgendwie herausgefunden, wo ich wohnte und wollte mir wegen unserer letzten Begegnung eins auswischen.
„Charmant.“ Er hob eine Augenbraue und musterte mich von Kopf bis Fuß. Sofort war ich mir meines Erscheinungsbildes unangenehm bewusst. Ungeschminkt, in alten Klamotten, unausgeschlafen. Zack dagegen sah genauso sehr nach Sexgott aus wie vor zwei Tagen, worauf mich das Ziehen zwischen meinen Beinen überdeutlich hinwies. Aber ich durfte mich nicht von ihm einspinnen lassen, nicht wie beim letzten Mal. Abstand war besser.
„Na, Sie müssen es ja wissen“, gab ich trocken zurück.
„Normalerweise bin ich sehr charmant und rücksichtsvoll.“
Ich schnaubte. „Ja klar, deswegen scheuchen Sie Ihre Nachbarn auch um acht Uhr aus dem Bett.“
„Andere Leute sind da schon längst wach.“
„Andere Leute kommen auch nicht erst nachts um halb vier von der Arbeit.“
Er öffnete den Mund, um etwas zweifellos Provozierendes zu erwidern, da mischte sich eine weitere männliche Stimme in unser Gespräch ein.
„Mister Conner, würden Sie sich das schnell ansehen?“ Einer der Handwerker stand in der Tür zur Nachbarwohnung und verlangte nach Zack. Damit hatte ich Gewissheit. Es war kein Scherz. Zack war tatsächlich mein neuer Nachbar.
„Na dann.“ Er stieß sich vom Türrahmen ab und wandte sich zum Gehen. „Auf gute Nachbarschaft.“
Nachdem ich schon mit der Situation abgeschlossen und Zack so gut es ging aus meinen Gedanken verbannt hatte? Jetzt, wo ich ständig an diesen Fauxpas vorletzte Nacht erinnert wurde, an die Energie zwischen uns, an seine Abweisung?
„Wenn die Hölle zufriert.“
Als ich die Tür schwungvoll zuwarf, konnte ich noch sein leises Lachen hören. Ich ging in die Küche und ließ mich dort am Tresen auf einen Hocker plumpsen. Das durfte doch nicht wahr sein. Ich rieb mir die Augen, kniff mich selbst in den