Evelinas Katzenzauber. Camilla Gripe

Evelinas Katzenzauber - Camilla Gripe


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sein Bruder im Unglück, Ludwig, seufzt erschöpft. Die schreckliche Bedeutung von Doris’ Worten drängt sich langsam aber unerbittlich in ihre trägen Schleckermaulschädel.

      Die zwei, die in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan haben, als für sich selbst zu Schlemmerzwecken Süßigkeiten herzuzaubern! Nun will plötzlich ihr Frauchen etwas von ihnen, das Mut, List, Geschick und Entbehrung verlangt.

      „Hört auf, euch zu bemitleiden! Nun tut eure zwei Dickschädel zusammen, und vielleicht könnte euch dabei ein kleines helles Licht aufgehen – wenigsten wenn euch der Hunger überfällt. Es könnte für euch nur von Nutzen sein.“

      Doris nimmt ihren Umhang und marschiert aus der Küche.

      Es herrscht völlige Stille. Nur das Surren einer Winterfliege, die gerade aufgewacht ist, ist zu hören. Napoleon streckt vorsichtig seine Schnauze hervor, blinzelt ein paar Mal und verwandelt sie aus alter Gewohnheit in einen Klecks Leberpastete, während Ludwig, auch aus alter Gewohnheit, den Spruch für Pfefferminzbonbons daherleiert.

      Im nächsten Augenblick hat das faule Summen der Fliege an Stärke zugenommen, und zwei riesige, wütende Wespen kommen wie Geschosse dahergeflogen, die eine steuert Ludwigs Nase an, die andere hat Napoleons Schnauze als Ziel.

      So schnell ist Ludwig noch nie aus dem Sessel aufgesprungen, und Napoleon saust aus dem Zimmer. Sie stürzen aus dem Hexenhaus, und hinter ihnen hören sie Doris einen Gassenhauer grölen, mit einer Stimme, die Glas zerschmettern kann:

      „Oh my Darling, oh my Darling, oh my Darling, Clementajjjjn ...“

      Napoleon, der nie vorher auf einen Baum geklettert ist, jagt jetzt blind eine Fichte hoch, so daß Nadeln und Rinde um seine Krallen wirbeln. Ludwigs Kraftanstrengung fällt nicht so groß aus. Er läuft etwa hundert Meter zum Plumpsklo, zieht die Tür zu und legt den Riegel vor. Dann setzt er sich auf den Klositz und weint wieder vor Verzweiflung. Dies ist das Schlimmste, was er je erlebt hat.

      Eine kleine Waldmaus, Zeugin des schmählichen Abgangs der beiden, lugt nun vorsichtig aus ihrem Versteck unter einem verwilderten Stachelbeerbusch hinter dem Klohäuschen hervor. Ihre kleinen Schnurrhaare, die wie ein Heiligenschein um ihre Schnauze wachsen, zittern, als sie in alle Richtungen schnuppert.

      Nein, sie wittert im Augenblick keine Gefahr. Feind Nummer eins, der fette Kater, der einmal ihre Tante in Krabbenpastete verwandelt hat, sitzt erbärmlich jaulend oben in einer Fichte, und Feind Nummer zwei, der einst Großvater Maus lieber als Mohrenkopf sehen wollte, schnieft und jammert wie ein verlorengegangenes Kind.

      Die kleine Waldmaus wagt sich bis zur Klohäuschentür vor. Sie spitzt ihre runden Ohren und horcht auf die traurigen Geräusche von drinnen. Ihre Augen wandern zur Tür. Die ist geschlossen, von innen verriegelt. Aber der Riegel draußen, der Holzklotz, hängt frei. Wer draußen ist, kommt nicht herein, aber wer drinnen sitzt, kann hinaus ...

      Wenn nicht ... Aha ... Die kleine Waldmaus zählt eins und zwei zusammen und schätzt die Entfernung zu dem freien Holzriegel mit ihrem Pfefferkörnchenblick ab.

      „Er wird länger drinnen bleiben, als er sich gedacht hat“, piepst die Maus. „Damit er Zeit hat, seine Sünden zu bereuen.“

      Es dürfte nicht sehr schwierig sein, dies zu erledigen. Waldmäuse sind gut im Hüpfen und haben kleine, aber kräftige Krallen, um sich an Brettern festzuklammern.

      Die Gefahr besteht natürlich, daß der Riese da drinnen sie hört und Lust auf ein Bonbon bekommt. Aber auch ein winziges Tier kann ein Held sein. Da muß sie nur an ihre Tante und ihren Großvater denken, und ihr Beschluß wird in die Tat umgesetzt.

      Hüpf und hops – da ist sie fast oben am Riegel und braucht sich nur ein kleines Stückchen noch hinaufzuhieven. Mit ihren gelenkigen Vorderpfoten, fast wie Hände, erwischt sie den Riegel und packt zu. Eine halbe Umdrehung nach hinten und – festhalten, ausgehalten – der Klotz landet mit einem sehr leichtem „plick“ auf dem Nagel. Die Tür ist verriegelt. Auch von draußen. Rasch macht sie einen Sprung ins Gras und verschwindet wieder unter dem Stachelbeerbusch. Aber das Geräusch aus dem Klohäuschen ist das gleiche wie vorher, ein ewiges Jammerseufzen, Schniefen und Schnaufen. Der Feind hat nichts bemerkt.

      Und Feind Nummer zwei auf dem Gipfel der Fichte johlt himmelhoch und traut sich nicht, hinunterzuklettern. Die beiden Feinde sind im Augenblick kampfunfähig gemacht, und die flinke kleine Waldmaus verschwindet in ihr Loch. Sie hat Freunden und Verwandten einiges zu erzählen ...

      Ludwig ist bald vom Wimmern völlig ermattet. Als er bebend Luft einholt, hört er herzerbrechende Schreie von draußen. Es ist der arme Napoleon, der solche Höhen nicht gewohnt und dem furchtbar schwindlig geworden ist. Er klammert sich an den schmalen Ast und traut sich weder vorwärts noch rückwärts, geschweige noch hinunterzuschauen. Es ist eine ganz andere Sache, auf einen hohen Baum hinaufzurasen, wenn man außerdem noch von Wespen gejagt ist, als dann oben im Himmel zu sitzen und nur einen Abgrund unter sich zu haben.

      Ludwig versteht sehr gut, wie es ihm wohl ergehen mag, gefangen dort oben im Baum. Er kann sich wenigstens davonmachen, wenn er will (glaubt er) und festen Boden unter den Füßen spüren.

      Ludwig ist kein Held. Er kommt erst gar nicht auf den Gedanken, auf diese Fichte zu klettern, um Napoleon herunterzuholen.

      Aber er könnte sich gut vorstellen, sich unter den Baum zu stellen und beruhigende, sanfte und tröstende Worte an den Unglücksraben zu richten. Worte, die Napoleon vielleicht stärken, so daß er einen Abstieg wenigstens in Erwägung zieht.

      Unter Schluckauf und Weinkrämpfen richtet sich Ludwig schwerfällig vom Klositz auf. Auf dem Weg zur Tür fängt er etwas Spinnengewebe mit dem Zeigefinger auf und murmelt einen Spruch, um ein Stückchen erfrischender Lakritze herzuzaubern. Dumm genug! Ein Schwarm ekliger, sehr blutrünstiger Mükken steigt unmittelbar wie eine Wolke aus dem Spinngewebe auf und greift ihn von allen Seiten an. Er stürzt zur Tür, schiebt den Riegel zurück und drückt sich gegen die Tür, um in die Freiheit zu gelangen – aber die Tür bleibt zu – verriegelt wie sie ist, auch von außen.

      Ludwig brüllt und schlägt gegen die Tür.

      „Hilfe! Aufmachen! Mama! Ich bin eingeschlossen. Mach auf!“

      Aber das einzige, was er hört, sind das Sausen des Windes in den Baumwipfeln, das Jaulen eines Katers und das höhnische Krächzen einer aufgeschreckten Krähe. Da wirft sich Ludwig gegen die Tür und spürt zum ersten Mal in seinem faulen Leben ein klein bißchen Ärger in sich hochsteigen.

      „Blöde Tür! Verflixte, verfluchte, verblödete Misttür.“

      Aber die Tür bleibt dennoch genauso verschlossen.

      Er überlegt, ob er wieder auf den Klositz Platz nehmen und noch ein paar Tränen vergießen soll, aber irgend etwas sagt ihm, daß dies nur ermüdend und ziemlich sinnlos wäre. Als er fast ein bißchen wütend ist, bewegt sich tatsächlich die Tür ein paar Zentimeter nach draußen, bis sie von dem Holzriegel gebremst wird. Mit noch etwas mehr Wut, würde sie sich vielleicht noch etwas bewegen. Wenn da ein genügend großer Spalt entstände, wäre es nicht ganz unmöglich, einen Finger hindurchzustecken und den Riegel wegzustoßen.

      Währenddessen tanzen die Mücken um seine Ohren, summen ihre eintönige Melodie. Eine kriecht ihm direkt in den Gehörgang, sticht mit ihren Rüssel hinein und saugt eifrig. Ludwig spürt ein fürchterlich irritierendes, ungeheuerlich kitzelnden Jucken bis in die Haarwurzeln. Das macht Ludwig wild, denn er kommt mit seinem dicken Finger nicht ins Ohr, die Mücke kann ruhig in der gemütlichen, rosa Grotte sitzenbleiben und sich gütlich tun.

      Nun wird Ludwig halb verrückt und fuchtelt mit den Armen in der Luft. Er springt herum und kickt, bis er zufällig die Tür mit seinem Fuß trifft. Der verrostete Nagel, der durch den Holzklotz geschlagen ist, fliegt davon wie ein Pfeil, und die Tür geht auf. Ludwig fällt hinaus und rollt den Hang hinunter.

      In einem der wenigen Zimmer im Erdgeschoß des Hexenhauses steht Doris und späht durch ihr Fernglas aus Eulenaugen.

      „Das hätten wir“, stellt sie fest. „Nun ist er wenigstens draußen.“

      In


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