Kämpfen im Geiste Buddhas. Jeff Eisenberg

Kämpfen im Geiste Buddhas - Jeff Eisenberg


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klar, dass sich dieses wirklichkeitsfremde Training in einer kritischen Alltagssituation als nutzlos erweisen musste. Weder sein Kontrahent noch er selbst hatten sich auf »echte« Kampferfahrungen stützen können.

      Nach diesem Vorfall veränderte Bruce seine Denkweise und sein Training. Er verabschiedete sich von der überholten Ausschließlichkeit der traditionellen Einstellung »Mein Stil ist der beste« und ging zu einem aufgeschlossenen, wissbegierigen Training über, indem er Techniken aus vielen verschiedenen Kampfstilen übernahm. Dazu zählten auch das westliche Boxen und das europäische Fechten. Ihm wurde klar, dass er das Training fortwährend daraufhin überprüfen musste, ob das, was man früher für effizient gehalten hatte, überhaupt irgendwann effizient gewesen war oder den heutigen Maßstäben noch genügte.

      In einer von Bruces berühmtesten Filmszenen sehen wir beispielsweise einen Kampf, bei dem er durch seine praktische Erfahrung einem traditionell kämpfenden Gegner eine Lektion erteilt. Höflich sieht Bruce zu, wie ein Mann mehrere Bretter durchschlägt. Danach wendet sich dieser Mann in aggressiver Körperhaltung Bruce zu. Offensichtlich glaubt er, unseren Helden eingeschüchtert zu haben. Doch Bruce knurrt einfach: »Bretter … schlagen nicht zurück!« Und dann macht er sich daran, den Mann zu Brei zu schlagen.

      In Sekundenschnelle begreifen wir alles. Bruce nimmt uns die Ehrfurcht vor raffinierten Kunststücken und ersetzt sie durch das Erfassen einer realen Situation. Das Zertrümmern von Brettern hat seinem Gegner nicht die unmittelbare Erfahrung vermittelt, die er für die Anwendung seiner Fähigkeiten in Situationen des wahren Lebens benötigt. Er weiß nur, wie man Bretter durchschlägt, was allerdings rein gar nichts mit Kämpfen zu tun hat, wie er auf schmerzhafte Weise feststellen muss.

      Das war eine wichtige Lektion. Doch obwohl sie so leicht nachzuvollziehen war, verstanden sie nur wenige. Die meisten Schüler des Kampfsports waren immer noch wie besessen von der mystischen Aura des Übernatürlichen, die damals die Kampfkünste umgab. Sie machten sich selbst vor, eine besondere Fähigkeit zur Durchführung übermenschlicher Kunststücke erwerben zu können, und begriffen nicht, dass die Ausbildung in den Kampfkünsten etwas ganz anderes beinhaltet: die Entwicklung einer realistischen, praktischen Anwendung körperlicher Fähigkeiten durch unglaublich harte und sich ständig wiederholende Arbeit an sich selbst. (An dieser Stelle muss ich anmerken, dass es vor allem die Lehrer der Kampfkünste und des buddhistischen Dharma selbst waren, die das Klischee der mystischen Aura aufrechterhielten, doch dazu später.)

      Bruce Lees Erkenntnis und die Richtung des Trainings, die er daraufhin einschlug, veränderte den Kampfsport für alle Zeiten. Alle Kampfsportler müssen ihm für seine innovativen Vorstellungen und Theorien, soweit sie das praktische Training betreffen, äußerst dankbar sein. Doch Bruce blieb in diesen Vorstellungen und Theorien stecken, perfektionierte sie in einer kontrollierten Umgebung und setzte sie nie Tests in Alltagssituationen aus. Soweit es das Training betraf, wurde er zu einem Experten, aber nicht in dessen realer Anwendung.

      Der Buddhismus weist auf ein solches Problem mit dem Ratschlag hin: »Sobald dein Boot das andere Ufer erreicht, steige aus, gehe an Land und weiter, denn jetzt brauchst du das Boot nicht mehr.« Leider blieb Bruce auf seinem Boot und betrat niemals das andere Ufer. Er revolutionierte das Training, doch verwechselte er das Boot – das Transportmittel zu neuen Ufern – mit dem Ufer selbst.

      Auf dieses Dilemma stößt man nach wie vor in zahlreichen Dojos und Zendos. Viele Kampfsportler sind Meister der Trainingsmatte und Opfer der Straßenkämpfe – manchmal in körperlicher Hinsicht Opfer, jedoch stets in geistiger Hinsicht (mehr dazu später). Und viele Menschen, die meditieren, sind Roshis auf dem Sitzkissen, leiden aber sehr im wahren Leben. In beiden Fällen beherrschen sie ihre Übungen meisterhaft, können sie jedoch im Alltag nicht anwenden. Niemals haben sie ihre meisterlichen Fähigkeiten einer wirklichen Härteprobe ausgesetzt. Sehr schade, dass auch Bruce es nicht getan hat.

      Zu Zeiten von Bruce Lee (Anmerkung für die jüngeren Leserinnen und Leser: also in den uralten Zeiten der 1960er und 1970er Jahre) erregte auch ein anderer Kampfsportler, Joe Lewis, mein Interesse. Joe war ein großer, starker Kriegsveteran, der in Übersee einen Schwarzen Gürtel erworben hatte – vor allem dadurch, dass er alle anderen »zu Brei« schlug. Nachdem er in die USA zurückgekehrt war, begann er an Karatewettkämpfen teilzunehmen (die, zumindest damals noch, ohne Schutzvorrichtungen stattfanden, das heißt die Teilnehmer schlugen wirklich aufeinander ein). Im Ring wurde Joe Lewis zu einer Sensation, da er fast jeden Gegner förmlich auseinander nahm. Wenn er wirklich einmal einen Kampf verlor, dann deshalb, weil er Zurückhaltung zeigen und sich an bestimmte Regeln halten musste. Es lag nicht etwa daran, dass sein Gegner bessere Kampffähigkeiten besessen hätte. Joe kannte den Unterschied zwischen einem Kampf im Ring und dem Kampf in einer realen Situation. Und denjenigen, die ihn im Ring tatsächlich mal auf die Matte legen konnten, war bewusst, dass Joe ihnen in einem Straßenkampf den Kopf abreißen würde, sofern er das wollte.

      Joe erschütterte die Welt der Kampfkünste, als er in einem Interview erklärte, Bruce Lee und er seien Freunde und er habe großen Respekt vor Bruces Neuerungen, soweit sie das Training beträfen. Doch ein wahrer Kämpfer sei Bruce nicht. Er habe sich selbst niemals beweisen müssen, da er seine Fähigkeiten nur unter kontrollierten Trainingsbedingungen vorgeführt habe, wobei ihm seine Gegner »in den Hintern gekrochen« seien.

      Als Bruce Lees jugendliche Fans als Reaktion auf Joes Erklärung darauf hinwiesen, dass Wettkämpfe zwar keine Messlatte für wirkliche Kampffähigkeiten bieten könnten, Straßenkämpfe jedoch sehr wohl (angeblich hatte Bruce als Teenager in Hongkong zahlreiche Straßenkämpfe ausgefochten), erwiderte Joe: »Ich bin ein Kriegsveteran, der ein Meter dreiundachtzig groß ist und mehr als neunzig Kilo wiegt. Bruce ist zirka ein Meter siebzig groß und wiegt etwa sechzig Kilo …«

      Joe forderte seinen Freund niemals offiziell heraus, und Bruce reagierte niemals auf Joes Erklärung zu seinen Fähigkeiten. Es war klar, was nach Meinung von Joe passieren würde, sollten sie tatsächlich einmal in einem Straßenkampf gegeneinander antreten. Und Bruce war nicht besonders scharf darauf, das herauszufinden.

      Die Welt der Kampfkünste rastete geradezu aus. Joes Erklärung kam einer Gotteslästerung gleich! Und so wurde er in dieser Welt gehasst wie kein anderer. Bruce Lees Anhänger bauten sozusagen eine »Wagenburg« rings um ihr Idol auf, um »den Meister zu schützen« und zu verteidigen. Sie rechtfertigten Bruce, versuchten zu begründen, warum Joe so falsch daran getan hatte, diese öffentliche Erklärung abzugeben, und Bruce so richtig daran getan hatte, Joe nicht praktisch zu widerlegen.

      Ich war damals völlig fassungslos. Wie konnte jemand, dessen ganze Karriere, sein guter Ruf und selbst sein Leben darauf beruhten, dass er nicht nur eine neue Kampfordnung geschaffen, sondern auch neue, individuelle Kampftechniken entwickelt hatte, es ablehnen, sie unter Beweis zu stellen? Wie war es möglich, dass Bruce Lees Unterstützer das nicht nur akzeptierten, sondern sich um ihn scharten und seine Kampfunwilligkeit billigten – wobei sie alle typischen, im Kampfsport verbreiteten Rechtfertigungen dafür ins Feld führten? (Mehr dazu später.)

      Bevor alle Bruce-Lee-Fanatiker unter euch jetzt einen Killer auf mich ansetzen, muss ich an dieser Stelle erklären, dass ich nach wie vor ein Riesenfan von Bruce Lee bin! Geändert hat sich lediglich, dass ich ihn und das, was er geleistet hat, mittlerweile aus einer anderen Perspektive betrachte. Immer noch bewundere ich seine großartige Weitsicht, seine Trainingsmethoden, sein sportliches Können und natürlich auch die Filme, in denen er seinen Gegnern in den Hintern tritt. Noch vierzig Jahre später schaue ich sie mir immer wieder an! Wäre es mir lieb gewesen, hätte Bruce sich dem Kampf mit Joe gestellt? Ja. Werfe ich es ihm vor, dass er es nicht getan hat? Nein. Ich werfe ihm nur vor, dass er nicht ehrlich und in aller Bescheidenheit erklärt hat, warum er es nicht getan hat.

      Da ich mich so ausführlich über Kämpfe im wirklichen Leben ausgelassen habe, mag es ein bisschen heuchlerisch klingen, wenn ich mich an dieser Stelle nicht weiter um Bruce Lees Gründe dafür kümmern möchte, dass er sich vor einem Beweis seiner Fähigkeiten in einem realen Kampf gedrückt hat. Ich will euch aber auch davon abhalten, eurem Ego nachzugeben und euch auf gefährliche Situationen einzulassen. Als Kampfsportler sollten wir alle wissen, dass jede Menge übler Kerle unterwegs sind, die uns windelweich schlagen könnten – und bei passender Gelegenheit auch tun werden.


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