Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones
im Sterben lag, mussten in den Nachrichtenredaktionen Sonderschichten gefahren werden, weil man ja ganz nah an den aktuellen Geschehnissen dran sein wollte bzw. musste. Der magenkranke Papst hatte mehrere Schlaganfälle erlitten, und nun zog sich sein Sterben über Tage und Wochen hin. Als dann eines nachts einem Gerücht aus Castel Gandolfo zufolge sein Tod eingetreten war, wurde dieses Gerücht nicht etwa verifiziert, sondern mit einem „endlich“ dankbar aufgenommen, und der Tod des Papstes wurde in einer Sondermeldung der Deutschen Welle in die Welt gesendet. Der Papst lebte dann allerdings noch 2 weitere Wochen, bevor er sich in die ewigen Jagdgründe aufmachte.
Manchmal blieb ich auch im Funkhaus in dem kleinen Büro meines Vaters sitzen, während er die Nachrichten las, die er dort vorher übersetzt hatte und die über einen Lautsprecher direkt in eben dieses Büro übertragen wurden. Von diesem Büro ging der Blick bis hinüber zum Dom, und ich liebte es, dem Treiben um die Kathedrale zuzusehen. Straßenbahnen zogen vorbei, einige wenige Autos und erste Touristen waren damals unterwegs, die Domplatte war ja noch nicht gebaut, und während er heute in großer Erhabenheit seine Türme in den Himmel reckt, stand der Dom damals noch gleichsam mitten im Stadtgewühl auf einem kleinen mit Gras bewachsenen Hügel. Dann kamen die Nachrichten, erst das Sendezechen der „Welle“, wie man den Sender nannte, die klaren, weichen Celesta Klänge „es sucht der Bruder seine Brüder“ aus Beethovens Fidelio. Hierauf die vertraute Stimme meines Vater – „this is the news…“. Es folgten die belanglosen Meldungen aus aller Welt – nichts Bedeutendes war passiert in den Stunden zuvor. Und dann, am Ende eines Satzes, laut und deutlich „hello Dettie“! Er hatte es gewagt, mich in seiner Nachrichtensendung einfach zu begrüßen! Das war eigentlich ein unerhörter Vorgang, der ohne weiteres zumindest eine Rüge hätte nach sich ziehen können. Doch es war ja ein Sonntagvormittag, und mein Vater vertraute wohl auch darauf, dass zu diesem Zeitpunkt keiner der Rundfunkräte ihm zuhören würde. Diese kleine Einlage blieb ohne irgendwelche Konsequenzen – wenn man von meiner Begeisterung einmal absieht. Wenn Daddy fertig war mit seiner Arbeit – die letzten Nachrichten waren gelesen, der Schreibtisch wieder aufgeräumt, liefen wir hinüber zum Hauptbahnhof, wo er sich täglich – und zwar bis an sein Lebensende – seine „Daily Telegraph“ kaufte. Dies war für ihn mehr als ein Ritual. Er sagte immer, dass er die englische Zeitung brauche, um sprachlich am Ball zu bleiben. Denn Sprache ändere sich, sei dynamisch, und wenn man nicht achtgebe, könne man sich von seiner eigenen Sprache entfernen, spreche nicht mehr zeitgemäß, und das sei immer zu hören! Und da Sprache schließlich sein Beruf war, kann ich das auch heute sehr gut nachvollziehen. Viele Jahre später bezeichnete ihn der bekannte englische Sprachwissenschaftler Richard D. Lewis in seinem Buch „The Road from Wigan Pier“ als einen brillanten Linguisten – und ich denke, da hatte er wohl recht!
Es kam nicht selten vor, dass Daddy unangemeldete Gäste mit nach Hause brachte. Einmal waren es zwei Afrikaner – wenn ich mich recht erinnere, waren sie aus Uganda. Sie waren wie mein Vater Sprecher bei der Deutschen Welle. Der Sender strahlte seine Programme auch in die entlegensten Regionen der Welt in den jeweiligen Landessprachen aus, wozu er eben Sprecher auch dieser Länder beschäftigte. Beide waren in weiße Tücher gekleidet – so kam es mir zumindest vor – und sie hatten Gesichter mit langen Narben, die ihnen in der Kindheit gemäß ihrer Stammeszugehörigkeit geritzt worden waren. 1954 sah man in Deutschland nie einen „Neger“ – so wurden sie damals ohne schlechtes Gewissen genannt – ich glaube, den Ausdruck „Farbiger“ oder „Schwarzer“ – die gab es damals noch gar nicht! Sie brachten mir einen Brieföffner aus Elfenbein mit, den ich noch heute aufbewahre. Die Kollegen meines Vaters waren ein bunter verschworener Haufen, und wenn sie abends bei uns zu Besuch waren, was nicht selten vorkam, dann ging es immer hoch her – es wurde ausgelassen getrunken und gegessen und gelacht. Dies waren die Jahre, als Deutschland wieder einmal wie ein Phoenix aus der Asche stieg. Aus Trümmerbergen wuchsen Häuser, die bittere Armut der ersten Nachkriegsjahre nahm langsam, aber sicher ab, und der neue Wohlstand brach sich unaufhaltsam Bahn. Daddy bekam zunehmend Aufträge für Film- und Sprachproduktionen und war viel in Deutschland unterwegs.
Irgendwann brachte er abends einen sympathischen Engländer mit einer prägnanten Stimme mit nach Hause. Er war relativ klein und drahtig und hatte einen sonnigen Humor, und ich erinnere mich sehr gut, dass wir vor Lachen kaum essen konnten, so lustig war er. Er hatte während der letzten Jahre neben diversen Moderationsjobs den Deutschlandspiegel übersetzt und gesprochen – eine Wochenschau, die von der Bundesregierung finanziert wurde und in vielen Sprachen in der ganzen Welt zur Aufführung kam. Chris Howland – das war der Name des Engländers, hatte aber mittlerweile vom neuen WDR in Köln das Angebot bekommen, eine wöchentliche Musiksendung zu moderieren. Dieses Angebot wollte er gerne annehmen, suchte aber vorher noch einen Nachfolger für den Deutschlandspiegel. Und mein Vater war nur zu gerne bereit, Chris Howlands Erbe bei dem in Hamburg produzierten Magazin anzunehmen! So kam es, dass Daddy alle zwei Wochen für zwei Tage nach Hamburg flog. Mama und ich brachten ihn meist zum Flughafen nach Wahn, und einige Male trafen wir dort auch Chris Howland, mittlerweile Moderator von „Studio B“ – wohlgemerkt der Radiosendung, über die heute so gut wie nichts mehr zu erfahren ist, da man nur noch von der Fernsehsendung mit demselben Namen hört. Offenbar hatte der zuständige Redakteur des Senders sich heillos mit Howland zerstritten und als Racheakt sämtliche Bänder aller Sendungen zerstört – ein unerhörter und beispielloser Vorgang. Das Fernseh – Studio B wurde dann aber ebenfalls von Mr. Heinrich Pumpernickel, wie sich Chris auch zu nennen pflegte, moderiert, der schon bald einer der ersten großen Stars in Deutschland werden sollte – wenn man so will, war er der erste DJ überhaupt, ein Pionier der ersten Tage! Wenige Wochen vor seinem Tod hatte ich noch – oder besser: wieder Kontakt zu ihm; er schrieb mir eine e-mail, auf der er sich „anhörte“ wie vor 60 Jahren. Er wollte mich treffen und in seine Sendung „Spielereien mit Schallplatten“ einladen, die er immer noch oder wieder moderierte. Aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen.
Mein Vater war ein überaus empathischer Mensch. Familie bedeutete ihm alles, und er war der liebevollste Vater, den man sich denken kann. Er hatte immer Zeit für mich, obwohl er schon damals ziemlich viel für seine Film- und Sprachproduktionen unterwegs war. Ich kann mich an kein böses Wort aus seinem Mund erinnern. Er suchte immer die positiven Seiten in den Menschen und versuchte, auch den negativen Dingen oder Niederlagen noch eine positive Seite abzugewinnen. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die schon ziemlich aufbrausend sein konnte und ein eher südländisches Temperament hatte (sie behauptete immer, sie habe italienische Vorfahren, was sie allerdings nie belegen konnte), war mein Vater immer die Ruhe selbst, ein Fels in der Brandung und insofern auch ein Vorbild, an dem ich mich orientieren konnte, das sich vor allem auch zur Orientierung eignete! Manchmal nahm er mich mit auf einen seiner vielen Spaziergänge durch unseren Wald, den er so liebte. Jeden Morgen machte er sich auf seinen „early morning walk“ und marschierte strammen Schrittes mit seinem Spazierstock den Weg gegenüber von meinem Schlafzimmer in den Wald hinein. Oft verfolgte ich ihn mit meinem Blick, bis er hinter Bäumen und Büschen verschwand. Wenn er dann eine gute halbe Stunde später wieder zurückkam, sein Gesicht kalt von der Morgenluft, empfing Oma ihn immer – jeden Morgen! – mit den Worten „wie isset draußen?“ Das wurde später ein standing joke in der Familie. Dann hatte Oma schon das Frühstück zubereitet, Speck brutzelte, und sie schlug ein Spiegelei in die Pfanne. Der Duft durchzog jeden Morgen die Wohnung, und wenn ich heute daran denke, läuft mir immer noch das Wasser im Munde zusammen, obwohl mein Frühstück in der Regel mittlerweile wesentlich schmäler ausfällt! Oder vielleicht gerade deswegen? Aber damals bekam mein Vater fast jeden Tag sein „full English breakfast“ mit Spiegeleiern auf Toast, vorher einen Porridge und danach zwei Scheiben Toast mit bitterer Orangenmarmelade. Ich sah oft fasziniert zu, wie die Milch, die er sich über seinen Porridge goss, die ausgelöffelten Stellen weiß füllte. Mein Vater war der Einzige, der ein solch opulentes Frühstück zu sich nahm – wir Kinder, meine Mutter und auch Oma hatten sich mit einem Brötchen oder einer Scheibe Brot und Marmelade zu bescheiden.
Wir waren einmal an einem Sommertag im Wald unterwegs – nur Daddy und ich, und wir setzten uns an einer mächtigen alten Tanne ins Gras. Hier - mitten in der Natur, die Welt weit weg, umgaben uns der Duft der Farne und Bäume und das Zwitschern der Lerchen. Und er erklärte mir die Welt, so wie er sie sah – er meinte, dass keine Kathedrale dieser Welt je die Schönheit und Erhabenheit der Natur wiedergeben könne – dieser Baum,