Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones
aus der Backstube auf den langen Tisch in der Essküche, dazu gab es Butter, frische Wurst, Käse, selbstgemachte Marmeladen und Rübenkraut. Ich mag es selber kaum glauben, aber an einem Morgen verdrückte ich ganz alleine sage und schreibe 11 ½ Brötchen – mit Butter, Marmelade und Rübenkraut! Ich kenne niemanden, der so etwas geschafft hätte – weder damals, noch heute. Den Bus verpassten wir übrigens!
Fast jeder in meiner Klasse hatte einen Spitznamen. Das ging von „dä Deck“ (der Dicke) über Yogi, Wuzz usw. in alle Richtungen. Ich wurde eine Zeitlang „Casey“ genannt – nach der Fernsehserie „Casey Jones, der Lokomotivführer“. Aber das hielt nicht lange an, und ich blieb eigentlich immer „der Jones“, manchmal auch so gesprochen, wie man es schreibt. Von Seiten der Lehrer war ich in dieser Hinsicht ohnehin Ungemach gewohnt, da nicht alle Lehrer des Englischen mächtig waren. Da hörte ich dann schon mal „Schonns“, oder Schonnes“, Johns (deutsch gesprochen!) und vieles mehr.
Ein Junge in meiner Klasse, Norbert Mertens, wurde „Führer“ genannt. Er war nach außen ein strammer Rechter, aber das täuschte und war offenbar nur eine Fassade, die er vor sich hertrug. In Wirklichkeit war Norbert ein in sich gekehrter tief religiöser Mensch, aber das wussten wir damals nicht. Er erzählte mir, dass er in einer „Hausaufgaben - Gemeinschaft“ sei und lud mich ein, da doch mal mit hinzukommen. Meine Leistungen in der Schule ließen in diesem Jahr ohnehin zu wünschen übrig, und ich sagte daher gerne zu und fuhr irgendwann zum ersten Mal in die alte Jugendstilvilla nach Köln Lindenthal, in der diese Gruppe arbeitete. Norbert verbrachte jeden Nachmittag dort – Schulaufgaben wurden unter der Aufsicht von Studenten gemacht, die uns jederzeit helfen konnten, wenn wir nicht weiterwussten. Und es gab ständig mehrere Priester im Haus – junge Männer, die meisten aus Spanien. Einer, Pater Martinez, genannt Don Jesus (spanisch gesprochen), war besonders freundlich und beliebt. Man blickte zu ihm auf, obwohl er in meiner Erinnerung kleiner war als wir, und er war ein hervorragender Motivator und ein sehr warmherziger, empathischer Mann. Er führte längere Gespräche mit mir, und so langsam wurde mir klar, wo ich da gelandet war – das Haus gehörte der katholischen Kirche und wurde vom Opus Dei geführt, dem man zumindest damals nachsagte, dies sei so etwas wie ein Geheimdienst der Kirche. Die Hausaufgabengruppen waren damals auch ein Mittel, um Nachwuchs für das „Werk Gottes“, was „Opus Dei“ übersetzt heißt, anzuwerben. Man begrüßte sich mit „Pax“, und der Begrüßte erwiderte den Gruß mit einem „in aeternum“, also: Friede in Ewigkeit. Vollmitglieder lebten priesterähnlich im Zölibat, gingen aber weltlichen Berufen nach und brachten sich irgendwie im Werk ein. Und es gab auch Halbmitglieder, die nicht im Zölibat leben mussten. Das Opus hatte es bald auf mich abgesehen, und die Gespräche mit Don Jesus führten immer wieder in diese Richtung. Norbert war bereits Vollmitglied, und auch er versuchte mich von meinem Heilsweg zu überzeugen, der mich als Vollmitglied erwarten würde. In diesem Jahr verfehlte ich das Klassenziel, wurde also nicht versetzt, was damals eine ziemliche Schande war – und heute muss ich sagen, es war in der Tat eine Schande, denn dass ich nicht versetzt wurde, lag ganz allein an meiner unglaublichen Faulheit! Das Opus, in dem ich zu der Zeit regelmäßig verkehrte, konnte den Negativtrend dann doch nicht mehr umkehren, dazu war ich wohl zu spät dazugestoßen.
Man hatte dort für die Hausaufgabengruppe eine Osterfahrt nach Rom organisiert, auf die sich alle natürlich mächtig freuten. Als klar war, dass ich das Klassenziel nicht erreichen würde, zogen meine Eltern die Erlaubnis zu dieser Osterfahrt zurück – irgendwie sollte ich schließlich für meine schlechten Leistungen bestraft werden. Da kam dann doch noch einmal Don Jesus ins Spiel, denn er lud meine Eltern in das herrschaftliche Haus nach Lindenthal ein und besprach sich lange mit ihnen. Und offenbar hinterließ er einen derart positiven Eindruck bei Mama und Daddy, dass ich dann doch mitfahren durfte in die Ewige Stadt.
Es ging mit dem Zug in etwa 20 Stunden von Köln nach Rom. Dort standen die üblichen Besichtigungsprogramme an, sowie die Entgegennahme des österlichen Segens durch den damaligen Papst Paul VI auf dem Petersplatz. Das war dann schon anstrengender, denn der Rummel dort erinnerte mich ziemlich an den Kölner Rosenmontagszug. Jeder Ländergruppe wurde eine Fläche zugewiesen, so dass alle Ausländer jeweils mit ihren Landsleuten zusammenstanden. Das riesige Areal war gefüllt mit einer unüberschaubaren Menge von friedlichen und gutgestimmten Menschen - es gab damals noch nicht die Ängste, die bei solchen Versammlungen im 21. Jahrhundert aufkommen sollten.
In Rom erfuhr ich auch von der Kraft und der Wirkung der Musik. Einer unserer Schüler, Michael Kürten, ein Neffe meines späteren Musiklehrers Gerold Kürten (der Mann meiner Klavierlehrerin), hatte einen ausgeprägten Bariton und konnte jede Menge italienischer Arien singen wie ein Opernsänger, und so manches Mal unterhielt er uns mit seiner Kunst. Das war dann für uns Zuhörer durchaus exotisch, denn wir zählten ja nicht unbedingt zu den klassischen Hörern von Opern! Wir wohnten am Stadtrand von Rom in einem von Nonnen geführten Kloster, wo es feste Essens- und Ruhezeiten gab. Gefrühstückt wurde jeweils von 7 – 8, Mittagessen um 12, und Abendessen um 18 Uhr. Die Pforte wurde um 22 Uhr geschlossen, und wir wurden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nach 22 Uhr keinen Einlass geben werde, und wer zu spät komme, der müsse die Nacht halt draußen verbringen – was nicht unbedingt erstrebenswert war, denn auch in Rom können die Aprilnächte durchaus kühl, wenn nicht kalt sein. Aber Wissen war eines, Tun etwas anderes. Und eines Abends kamen wir tatsächlich erst eine gute Zeit nach 22 Uhr am Kloster an. Dabei waren wir nicht etwa irgendeinem unseriösen Zeitvertreib nachgegangen – wir hatten ja ständig eine oder auch mehrere Aufsichtspersonen dabei – Studenten, die Mitglieder des Opus Dei waren, und da wäre ein Zug durch Roms Kneipen ohnehin nicht angesagt gewesen! Wir hatten uns halt irgendwie verschätzt, was die lange Busfahrt in den Vorort von Rom betraf, und nun standen wir vor einer fest verschlossenen Tür. Auf unser Läuten erfolgte – wie erwartet – keinerlei Reaktion. Wir schlichen uns daraufhin um das Kloster herum, um zu sehen, ob es nicht irgendwo eine Stelle gab, an der wir die hohe Mauer, die das Kloster und seinen großen Garten einfriedete, überwinden konnten. Doch da war nun einmal nichts zu machen. Wir standen also ziemlich ratlos auf der Straße und wussten nicht weiter. Da fing unser Sänger Michael plötzlich an, aus Leibeskräften das Ave Maria von Franz Schubert zu singen. Ich weiß nicht, ob er im Sinn hatte, die Nonnen damit zu wecken, oder ob er es einfach sang, um uns zu unterhalten und bei Stimmung zu halten. Doch er hatte kaum den ersten Durchgang beendet, als oben im Haus ein Licht anging. Und wenig später drehte sich ein Schlüssel in der Eingangstür und – was Wunder! – uns wurde geöffnet! Hinter der Tür standen mehrere Nonnen in ihren langen weißen Nachthemden, teils belustigt, eine oder mehrere waren in Tränen aufgelöst, und man bat Michael, eine Zugabe zu geben. Dieser Aufforderung kam er gerne nach, und so konnten wir dann doch noch in unseren Betten schlafen. Am nächsten Tag sagten uns die Nonnen, dass noch nie die Tür nach 22 Uhr geöffnet worden war, aber bei den Klängen des Ave Maria sei ihnen das Herz übergelaufen und der Herr habe die Hand mit dem Schlüssel gelenkt! Von diesem Tag an musste Michael jeden Abend vor dem Zubettgehen singen. Ich war mir damals ziemlich sicher, dass es nicht der Herr war, der uns aufgeschlossen hatte, sondern die Musik hatte ganz einfach ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie hatte eine Tür geöffnet!
Nach der Rom – Reise ließ mein Kontakt zum Opus Dei nach, denn ich war ja nicht versetzt worden, und in meiner neuen Klasse, der Obertertia, die ich ja nun zum 2. Mal machen ‚durfte‘, waren meine Leistungen schließlich absolut korrekt. Ich brachte gute bis sehr gute Noten nach Hause, und die Hausaufgabenüberwachung war nicht mehr erforderlich. Außerdem schien mir ein Leben im Zölibat, wie man es von mir erwartet hätte, wäre ich jemals Mitglied geworden, nicht nur wenig erstrebenswert, sondern völlig unmöglich. Ich war mit meinen 14 oder 15 Jahren gerade in der Pubertät, und unter den Hormonstürmen eines aufwachenden Jungen gingen meine Interessen und Intentionen genau in die dem Zölibat entgegengesetzte Richtung!
Erster Kuss
Wer kennt das nicht – die überraschend hereingebrochenen Momente erster Verliebtheit, das erste Erleben sexueller Anziehung, das Verklären des oder der Angebeteten – dies alles und mehr lösten auch bei mir die ersten Tsunamis des im Überfluss produzierten pubertären Testosterons und Adrenalins aus. Doris, Cornelia, Romy, Ellen oder Waltraud – wie immer sie auch hießen, sie waren die Göttinnen meiner Imagination – unerreichbar und vielleicht auch