Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones
Das ging sogar so weit, dass ich viele Jahre später Religionswissenschaft als eines meiner Studienfächer wählte, was ich niemals bereut habe. Vielleicht auch, weil ich mit einem gewissen Professor Fuhrmanns einen genialen Lehrer hatte – einen Querkopf, der keine Provokation ausließ und den auf Linie zu halten die katholische Kirche ihre liebe Mühe und Not hatte. In seiner ersten Amtshandlung hatte er als junger Priester die Vertretung eines erkrankten Kollegen übernehmen müssen und am 6. Januar, dem Dreikönigstag, im hohen Dom zu Köln die Messe gelesen. Eigenartigerweise ist dieser Tag in NRW – im Gegensatz zu Bayern und Baden-Württemberg – kein Feiertag, sind doch die Gebeine der drei angeblichen Könige in ihrem goldenen Schrein - einem Meisterwerk mittelalterlicher Goldschmiedekunst - im Kölner Dom aufbewahrt. Und die drei Kronen im Kölner Stadtwappen zeugen ja auch von ihrer Anwesenheit in der Domstadt. In seiner Predigt riss Fuhrmanns dann erst einmal alle Tabulinien, die es diesbezüglich in Köln gab: Er erklärte, dass es die drei Könige – so, wie in der Bibel beschrieben, höchstwahrscheinlich nie gegeben habe. Er machte gleich reinen Tisch mit Legenden, Märchen und den Wünschen, die Menschen in sie hineinprojiziert hatten. Doch er desillusionierte natürlich auch die zahllosen Gläubigen, die dieser Messe beiwohnten, darunter viele Schulklassen. Der Skandal war perfekt! Doch eigenartigerweise hatte dieser Einstand Fuhrmanns Karriere nicht sonderlich geschadet, er hatte ihr bestenfalls eine kleine Delle verpasst, was den späteren Professor nicht sonderlich störte. Hier war ein aufrechter Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, der offen kritisierte, was ihm unglaubwürdig oder falsch erschien. Seine Vorlesungen waren immer hoffnungslos überfüllt – es nahmen auch stets viele Studienfremde daran teil. Und zum Schluss gab es fast immer – so wie auch nach seinen Predigten in der Kirche – offenen und lang anhaltenden Applaus. Es war Fuhrmanns, der mich mit den Dogmen der katholischen Kirche konfrontierte, der Unfehlbarkeit der Päpste – eingeführt erst beim 1. Vatikanischen Konzil (1870), der Jungfrauengeburt Mariens – also war nach diesem Glauben Maria auch nach Jesu Geburt noch Jungfrau mit einem intakten Hymen, oder der Auferstehung Mariens mit Leib (!) und Seele, was noch heute vor allem in Südeuropa als der größte Feiertag nach Ostern und Weihnachten mit großem Pomp und Feuerwerk gefeiert wird! Glauben all die vielen Menschen auf der Straße, die die Prozessionswege säumen und ihre Häuser schmücken, an diese in grauer Vorzeit aufgeschriebenen Legenden, die sich auch aus der bunten Folklore Vorderasiens speisten? Oder feiert man, weil man das schon immer gemacht hat, unreflektiert und aus reiner Lust am Feiern und am Pomp, worin die katholische Kirche schon immer unübertrefflich war - man denke nur an die Amtseinführungen der Päpste - während man in Wahrheit eben die Wahrheit zu Grabe trägt? Je tiefer ich später in diese Thematik eintauchte, desto größer wurden meine Zweifel.
Ich will nicht so weit gehen und behaupten, dass mit der Erzählung meiner Tante über den Kardinal und seine Geliebte eine Weiche in meinem Leben gestellt wurde. Aber sie hatte jedenfalls einen sehr nachhaltigen Einfluss auf meine Einstellung zu den Konfessionen dieser Welt!
In den 60er Jahren ließ sich Tante Luise von ihrem Mann Alberto Marinucci scheiden. Das war damals noch ein Tabu – Scheidung! Doch Alberto hatte seine Frau mehrmals verprügelt und sie nach Strich und Faden betrogen. Die Ehe war zerrüttet, und jeder ging seiner Wege, Alberto wanderte mit dem gemeinsamen Sohn Fernando nach New York aus, Tante Luise zog es nach Südtirol, wo sie ihren späteren Mann Hans kennenlernte, bei dem sie allerdings vom Regen in die Traufe geriet. Hans war ein ehemaliger SS Mann, ein Baum von einem Mann, der sich mit den angeblichen Taten, die er im Krieg in Russland begangen hatte, brüstete. Das machte ihn nicht unbedingt sympathischer. Außerdem war er starker Alkoholiker und vom späten Nachmittag an nicht mehr ansprechbar. Er starb einige Jahre vor meiner Tante, die nach seinem Tod in Südtirol blieb.
Als einige Jahre zuvor Alberto in New York einem Schlaganfall zum Opfer gefallen war, war Tante Louise nach Amerika geflogen, um ihrem Sohn Fernando nah zu sein. Es gab eine Menge Erbrechtliches zu klären, und Alberto hatte verfügt, dass er unbedingt in Rom an der Via Appia beigesetzt werden solle. Doch wie sollte Tante Luise seine Asche – noch dazu in einer Urne – unbemerkt außer Landes schaffen und dazu noch nach Italien einführen? Das war damals nämlich verboten – ist es vielleicht auch heute noch. Man setzte sich also zusammen, überlegte und hielt Kriegsrat.
Alberto war ein kleiner, knochiger Mann gewesen, und seine Überreste machten in der vom Beerdigungsinstitut gelieferten Urne nicht allzu viel her. Man beschloss also erst einmal, die Asche in eine kleinere Urne umzufüllen. Aber auch dieses Exemplar konnte natürlich nicht unsichtbar bleiben. Da hatte Tante Luise die rettende Idee. Ich habe schon ihren sehr ausladenden Busen erwähnt, den sie in jüngeren Jahren gehabt hatte. Mittlerweile hatte er an Volumen und Straffheit altersbedingt erheblich eingebüßt. Meiner Mutter hatte sie einmal erzählt, dass sie ihre Brüste morgens immer aufrollte, um sie in einem BH unterbringen zu können. Beim Ausziehen rollten sie dann – der Schwerkraft folgend – wie ein Vorhang herab. Und in New York beschloss sie, die Asche ihres verstorbenen Exmannes sozusagen an ihrem Herzen heimzubringen nach bella Italia! Also setzte sie sich an den Küchentisch und rollte ihre Brüste auf diesem in voller Länge aus. Dann bepuderte sie die beiden Fleischlappen und streute Alberto vorsichtig auf beide Brüste. Diese rollte sie dann wieder zusammen und verstaute sie in ihrem BH. Nichts war zu sehen, und nichts kratzte – vielleicht dank des Puders, den sie vorher aufgetragen hatte. Aber sie meinte, die Asche sei so sanft gewesen wie der Puder selbst.
Ihr Rückflug nach Rom verlief reibungslos, und kein Zöllner wäre auch nur auf die Idee gekommen, den toten Alberto Marinucci oder irgendeine sonst zu deklarierende Ware im BH meiner Tante zu suchen! Tante Luise entsprach dem letzten Willen ihres verblichenen Exmannes und verstreute seine Asche an der Via Appia. Dann trat sie in ihr zweites Leben – wieder in Rom, wo auch ihr wildes erstes begonnen hatte. Aber nun war sie frei.
Weichenstellungen I
Zu Beginn der 60er Jahre gab es einen Mieterwechsel in unserer Nachbarschaft in Köln Dünnwald. Die Pferdeställe und zwei kleinere Räume hinter dem Haus gingen an einen 27jährigen Mann, der mit Hund und Pferd dort einzog. Der Hund mit Namen Gero war eine graue Bestie von Schäferhund, der eher aussah wie ein Wolf und der auf alles losging, das ihm zu nahe kam. Aber immerhin gehorchte er seinem Herrn aufs Wort. Eigenartigerweise hatte ich nie Angst vor diesem Hund, obwohl er sich einmal von hinten angeschlichen und mich völlig ohne Anlass in den Hintern gebissen hatte. Ich hatte damals einen eigenen Hund, einen kleinen Cockerspaniel, und die beiden waren einander in abgrundtiefem gegenseitigem Hass verbunden. Wenn sie am Zaun, der sie voneinander trennte, aufeinandertrafen, konnte einem angst und bange werden – so furchterregend waren das Zähnefletschen und Geifern und Knurren. Diese Abneigung brachte Gero auch mir entgegen. Ich kann daher auch nicht sagen, dass ich ihn wirklich mochte, denn er war schon ein linker Genosse. Aber er respektierte mich offenbar, und das war die Basis unseres Auskommens miteinander, das über die Jahre immerhin etwas freundlicher wurde.
Ich habe des Öfteren im Leben festgestellt, dass ein vermeintlicher Zufall sich Jahre später als Weichenstellung im Leben auswirkt; es ist mir jedenfalls einige Male so ergangen. Und dass Lothar Heubel unser neuer Nachbar wurde, sollte eine solche Weichenstellung für mich werden. Er war jovial, jugendlich und sehr gewinnend. Und er gab mir in den ersten Jahren regelmäßig Reitunterricht – gegen Bezahlung natürlich. Darüber hinaus unterhielten wir trotz unseres Altersunterschiedes von 15 Jahren ein freundschaftliches Verhältnis. Wie üblich verbrachte ich fast meine gesamte Freizeit in den Pferdeställen und auf den Wiesen hinter dem Haus und hatte dadurch regelmäßigen Kontakt zu Heubel. Der erwies sich als ein sehr umtriebiger Mann. Fast jeden Monat spannte er seinen Pferdeanhänger hinter seinen alten roten Mercedes 190 und fuhr nach Spanien, von wo er dann nach zwei oder drei Wochen voll beladen zurückkam. Er brachte alles Mögliche von dort mit – manchmal war der Anhänger bis unters Dach beladen mit Kupferkesseln und altem Bauerngerät, dann wieder mit Sitzkissen und Taschen aus Leder oder bunten Stoffen und mit Zierrat, den ich noch nie gesehen hatte.
Wie viele meiner Schulfreunde war auch ich immer auf der Suche nach irgendwelchen Jobs. Meine allererste Beschäftigung fand ich auf einer Baustelle, wo ich in den Osterferien für zwei Wochen arbeitete – für DM 2,50 (also € 1,25) die Stunde, was damals recht ordentlich war. Doch bald darauf bot mir Heubel, in dessen aufstrebender Firma ich ja als Nachbar ein- und