Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones
Verliebtheit einhergehen.
Mein erster Kuss hingegen nahm bestenfalls so viel Zeit in Anspruch, wie der geneigte Leser benötigt, um dieses kurze Kapitel zu lesen. Romantische Träume oder Sehnsüchte, die ich vielleicht vorher gehabt haben mag – all dies wurde innerhalb von Minuten über den Haufen geworfen bei diesem überaus sachbetonten Vorgang, der sich Kuss nennt und der in diesem Fall mitnichten ein Austausch von Zärtlichkeiten bedeutete.
Karneval in Köln – das ist so losgelöst von Normen und Zwängen wie das Münchner Oktoberfest. Nur dauern die Wiesn immerhin 2 Wochen; in Köln hingegen konzentriert sich alles auf die 6 tollen Tage, den Straßenkarneval. In dieser Zeit rastet dann allerdings die ganze Stadt aus – keine Kneipe, kein Viertel, in dem nicht bis in die Puppen gefeiert würde! Und wenn ich feiern sage, dann meine ich feiern!
Im zarten Alter von 14 oder 15 Jahren wurde ich von Wolfgang, einem Klassenkameraden, zu einer „Karnevalsparty“ eingeladen. Ich hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet mich dazu einlud – hatten wir doch ansonsten so gut wie keinerlei Kontakt. Aber ich sagte gerne zu. Auf eine Party zu gehen, war ja in diesem Alter und zu dieser Zeit an sich schon etwas Neues, Ungewohntes – fast schon Verruchtes! Und so fuhr ich also am Karnevalssamstag nachmittags – es sollte um 15 Uhr losgehen - mit der Straßenbahn zum Barbarossaplatz, wo mein Schulfreund wohnte.
Seine Eltern waren nicht zu Hause und hatten ihm die Wohnung überlassen – er hatte also sturmfreie Bude. Er öffnete, und ich trat ein. Es lief laute Karnevalsmusik, auf einem Tisch in der Diele standen Getränke – Säfte, Limo, Cola und Bier, und unter dem Tisch stand eine Flasche Schnaps. Außer mir gab es noch zwei weitere Gäste, einen Jungen in unserem Alter und ein Mädchen um die 16 mit langen schwarzen Haaren. Keiner von uns war irgendwie kostümiert, wir waren zu viert, und bei der Stimmung war noch viel Luft nach oben – man könnte auch sagen, dass sie auf dem absoluten Nullpunkt lag! Irgendwann begannen der fremde Junge und das Mädchen miteinander zu knutschen, sie saßen auf dem Sofa und küssten sich lange und hingebungsvoll. Wolfgang beachtete die beiden kaum, wir unterhielten uns auch nicht, wir hörten einfach Musik und tranken Bier. Von draußen drang durch die Fenster das Gejohle von Betrunkenen, die von Kneipe zu Kneipe zogen. Irgendwann sagte Wolfgang dann zu mir „jetzt bist du dran!“ Ich fragte mich – und auch ihn, wozu ich dran sei. Aber hier ging es um das Küssen! Das Mädchen – ich glaube, sie hieß Gabi, sollte uns allen dreien offenbar eine Kussstunde erteilen! Ich stand also auf, ging hinüber zum Sofa und setzte mich mit Herzklopfen neben sie. Sie kam mir nah und näher – ich hatte sie noch nie im Leben gesehen, geschweige denn ein Wort mit ihr gewechselt! Und dann spürte ich auch schon ihre Lippen auf meinen, und ihre feuchte Zunge ging auf eine Entdeckungsreise in meinem Mund. Ich hielt still – eine Stimmung zwischen Panik und Erregung hatte Besitz von mir genommen, die Augen hielt ich weit offen, um nur ja nichts zu verpassen. Plötzlich ließ Gabi von mir ab. „Du musst auch Deine Zunge bewegen – so wie ich!“ meinte sie – Gabi coachte mich sozusagen durch dieses semi-erotische Erlebnis! Nach einigen Momenten lief es offensichtlich viel besser ab – auch zur Zufriedenheit von Gabi. Mehr geschah nicht – weder von meiner noch von ihrer Seite – aber langsam begann mir das Spiel zu gefallen, und meine Aufregung tendierte hin zur Erregung. Aber Gabi ließ plötzlich von mir ab, ging zu Wolfgang und verabschiedete sich von ihm, so dass nur Wolfgang und ich zurückblieben. Der dritte Junge hatte sich während meiner Kussminuten davongemacht. Ich bemerkte, dass Wolfgang offenbar bereits ein oder zwei Bier zu viel zu sich genommen hatte, denn sein Blick war eher glasig, und er schwankte doch bedenklich. Daher ließ ich ihn auf dem Sofa, auf dem er es sich mittlerweile bequem gemacht hatte, zurück, verließ die Wohnung und zog die Tür leise hinter mir zu. Eigenartigerweise haben wir nie mehr über dieses seltsame „Fest“ gesprochen – es wurde einfach abgehakt. Dass ich überhaupt eingeladen worden war, lag wahrscheinlich daran, dass Wolfgang wohl zu wenige Zusagen bekommen hatte (was vielleicht schon eine Übertreibung war!) und auf seiner ersten Party nicht allein sitzen wollte! Dass daraus diese eigenartige Zusammenkunft mit Gabi wurde, war vielleicht nicht einmal geplant. Und dass mein erster Kuss derart unromantisch ablief – hatte ich mir nicht ausgesucht, aber als ich mich nach der „Party“ durch die Stadt treiben ließ, fühlte ich mich in meiner kindlichen Naivität einfach großartig – als wäre ich ein Stückchen erwachsener geworden!
Mobilität und erste Erfahrungen
Mit 15 machte ich meinen Führerschein Klasse V. Man musste dazu nur einen Fragebogen richtig ausfüllen und durfte dann mit diesem Schein Mopeds bis 50 cc fahren mit einer maximalen Geschwindigkeit von 40 km/h. Ich verbrachte fast meine komplette Freizeit in den Pferdeställen hinter unserem Haus. Dort wohnte mittlerweile ein älterer Mann in einem winzigen Zimmer. Herr Eichler war Kriegsversehrter, aber immer noch drahtig und sehr gut dabei. Er mistete die Ställe aus, pflegte das Anwesen und war so etwas wie Mädchen für alles. Und er hatte einen Rabeneick Motorroller, den er mich fahren ließ, so oft ich es nur wollte. Ich verbrachte Stunden mit ihm in seinem Zimmer. Immer saßen wir uns an seinem kleinen Esstisch gegenüber, und er erzählte mir aus seinem Leben als Angestellter bei der Post und natürlich von seinen Kriegserlebnissen, die er mir in allen Details schilderte. Auch von seinen Erlebnissen mit Frauen erzählte er, und das eine war für mich so interessant wie das andere. Heute frage ich mich, warum meine Eltern niemals irgendeinen Verdacht hegten, denn wenn mein Sohn lange Stunden bis in die Nacht bei einem älteren Mann verbringt, hätte das für mich auf jeden Fall Fragen aufgeworfen. Aber man war damals offenbar eben noch völlig unbedarft, was den Missbrauch von Kindern und Jungen im Speziellen anging. Wohlgemerkt – in meiner Beziehung zum Pferdepfleger Eichler lag absolut nichts Anstößiges – nicht einmal ansatzweise. Aber aus heutiger Sicht wundere ich mich doch, wie unbedarft meine Eltern – oder vielleicht sollte ich sagen, Eltern ganz allgemein in dieser Hinsicht waren. Nachmittags half ich beim Ausmisten der Boxen, ich fütterte die Pferde, striegelte sie und durfte hin und wieder auch ein wenig reiten. Und dann saß ich bis zum Abendessen bei ihm, und wir erzählten, was eher hieß, er erzählte – ich hörte zu.
Mit dem Motorroller erledigte ich Besorgungen, machte Spazierfahrten und genoss diese neue Freiheit, die mir meine größere Reichweite verschaffte. Und als Eichler sich für ein neues Gefährt erwärmte, eine Zündapp, schenkte er mir einfach seinen alten Roller. Da war ich 15 oder 16, und von diesem Tag an fuhr ich morgens mit meinem Roller in die Schule – beneidet von meinen Klassenkameraden, denn ein Motorroller war damals schon etwas Besonderes. Im Winter schützte ich mich vor der Kälte mit Zeitungen, die ich mir aufgefaltet unter die Jacke oder den Mantel schob – ein Tip meines Vaters, der ja auch jahrelang eine Goggo gefahren hatte. Vielleicht kam auch deswegen so wenig Gegenwehr von Seiten meiner Eltern, weil Daddy ja selber Rollerfahrer gewesen war. Dass Rollerfahren gefährlicher war und ist als Fahrradfahren, liegt auf der Hand. Und es gibt wohl kaum einen Motorradfahrer, der nicht schon einmal gestürzt wäre. Mir ist das zwei Mal passiert – zum Glück ohne größere Schäden – weder am Roller noch an meiner Gesundheit. Ich habe immer versucht, meine Kinder von motorisierten Zweirädern fernzuhalten, was mir bis heute gelungen ist. Vielleicht war ich auch durch einen Unfall traumatisiert, bei dem ein Motorradfahrer direkt vor unserem Haus zu Tode gekommen war. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine lange Nacht von Wehklagen seiner Frau und Töchter, die im Hotel nebenan – gleich auf der anderen Seite der Wand, an der mein Bett stand - den Tod ihres Mannes und Vaters beweinten.
Aber die Begeisterung über meine plötzliche Motorisierung überwog bei weitem die Ängste vor einem Unfall – so wie ich auch viele Jahre später immer noch oft eine gewisse Unbekümmertheit an den Tag gelegt habe – aber ich halte es auch heute noch für besser, spontaner und mit einem gesunden Bauchgefühl an so manche Situation heranzugehen, anstatt sie bis zum Ende durchzuplanen.
Karl-Heinz begleitete mich oft auf einer dieser Spritztouren. Dabei hatte der Rabeneick Roller dann doch mächtig mit dem erheblichen Zusatzgewicht zu kämpfen, so dass wir von der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von ohnehin nur 40 km/h meist weit entfernt blieben.
Ich war damals 16, er noch 15, und irgendwann wuchs in uns der Beschluss, dass wir unsere geschlechtliche Reife doch endlich einmal an den Mann, bzw. an die Frau bringen wollten. Karl-Heinz hatte mit dem anderen Geschlecht insofern seine Probleme, als er stark übergewichtig und daher eher komplexbeladen war, was es nicht eben einfacher machte, mit