Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones

Auf dem Weg durch die Zeit - Detleff Jones


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waren nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein amouröses Abenteuer! Und in letzter Konsequenz blieb nur – zumindest aus unserer damaligen Sicht – ein Besuch im Freudenhaus. Ich behaupte, dass 16jährige 1966 wesentlich kindlicher waren, als sie es heute sind. Wir hatten jedenfalls einen Heidenbammel, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Doch es bot sich immer donnerstags eine Gelegenheit – wenn wir uns gegenseitig besuchten – was zumindest unsere Eltern glaubten. An einem Oktobertag war es schließlich soweit: Nachmittags vertrieben wir uns die Zeit in irgendeinem Kino, wahrscheinlich waren wir sogar auch noch in einem zweiten Film. Ob wir etwas gegessen haben an diesem Abend, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich waren wir aber viel zu aufgeregt. Irgendwann am späteren Abend parkten wir den Roller direkt vor der Schule und machten uns auf den Weg. Das Dreikönigsgymnasium war damals noch in der Stadtmitte am Thürmchenswall, nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt im Eigelsteinviertel mit seinem mittelalterlichen Stadttor gelegen. Eigentlich ein urkölsches Viertel, und auf dem Eigelstein, der Straße, die vom Stadttor in Richtung Dom führt, wurde damals nur reinstes Kölsch gesprochen und in den Kneipen nur Kölsch getrunken. Eine kleine Gasse führte vom Eigelstein ab (das tut sie im Übrigen noch heute) – der Stavenhof, heute eine schöne, sehr atmosphärische, gepflasterte alte Straße mit ein paar Kneipen und Galerien. 1966 allerdings zählte der Stavenhof zu den Gassen, die man besser mied. In mehreren Häusern ging man dem ältesten Gewerbe der Welt nach, aber die Damen dort waren nun einmal die, die in der Brinkgasse in der Nähe des Neumarktes - dort, wo der Hauptbordellbetrieb in Köln damals ablief – keine Chance mehr gehabt hätten. Die Brinkgasse – heute gibt es dort Geschäfte und elegante Galerien, denn das horizontale Gewerbe ist längst aus der Stadtmitte ausgelagert worden – war für uns Jungs ein besonderer Anziehungspunkt. Sie war kaum 100 Meter lang und an beiden Enden durch geteilte Sichtmauern vor den Blicken der Außenwelt abgeschirmt. Die Immobilien dienten ausschließlich der Ausübung der Prostitution, und die Straße selbst war so etwas wie der Kontakthof. Manchmal liefen wir nach der Schule dorthin, um diesem Treiben dort zu zuzusehen, und einmal sah ich sogar einen Lehrer unserer Schule in einem der Häuser verschwinden – wohl nicht, um Deutschunterricht zu geben! Der Eigentümer dieser Häuser und damit der Vermieter war übrigens – die katholische Kirche!

      Aber zurück zum Stavenhof. Wenn man vom neonhellen Eigelstein in den Stavenhof einbog, umfing einen die Dunkelheit dieser fast schon gespenstischen Gasse. Vereinzelte Gaslaternen verbreiteten ein gelblich fahles Licht. Und vor einigen Häusern standen Frauen, deren Alter man nur schwer einschätzen konnte, aber vor denen ich wohl davongerannt wäre, wenn ich ihnen allein im Wald begegnet wäre! Sehr wahrscheinlich waren sie mindestens so alt, dass sie unsere Mütter hätten sein können. „Kommste mal mit?“ war der übliche Spruch. Ein Mann, der vor uns herlief, fragte nach dem Preis. „Fuffzig Mark“. „Und ohne Pariser?“ „Da kannste deine Omma poppen!“ Eigentlich war dies alles zum Davonlaufen, aber wir hatten einen Entschluss gefasst, und den setzten wir nun auch um. Wir hatten verabredet, dass wir uns als Seeleute ausgeben, die zu Besuch in Köln waren – dies nur für den Fall, dass sie uns nach unserem Alter fragen sollten. Aber dies hier war ja keine Kinokasse mit Ausweiskontrolle, sondern ein Puff – und dazu noch einer der alleruntersten Kategorie. Und daher fragte natürlich auch niemand nach unserem Alter. So, wie wir aussahen, war ohnehin klar, dass wir noch halbe Kinder waren! Irgendwann schleppten uns dann zwei dieser Schlachtschiffe ab – ausgesucht hatten wir sie ganz bestimmt nicht – dazu waren wir viel zu aufgeregt! Und vielleicht zehn Minuten, nachdem wir das nach Urin, Fäkalien und Fäulnis stinkende Haus betreten hatten, standen wir auch schon wieder auf der Straße – abgefertigt und wieder ausgespuckt in die Nacht. Aber wir fühlten uns so stark wie noch nie! Wir waren beide entjungfert worden – die widerlichen Umstände waren schnell vergessen, und wir glaubten, nun richtige Männer zu sein! Oh je – wie war es damals um unsere Wertvorstellungen bestellt! Es war mittlerweile ziemlich spät geworden – so spät waren wir noch nie durch die Straßen der dunklen Stadt gezogen. Wir liefen zurück zu meinem Roller und versteckten uns unterwegs hinter parkenden Autos vor vorbeifahrenden Streifenwagen, um nur nicht kontrolliert zu werden. Aber die lange Nacht hatten wir ja noch vor uns. Wir konnten natürlich weder zu meinem Freund noch zu mir nach Hause. Ein Hotel kam auch nicht in Frage, denn kein Hotelier hätte junge Burschen wie uns akzeptiert, und außerdem hätten wir uns das ja ohnehin nicht leisten können. Also fuhren wir hinaus an den Stadtrand, dorthin, wo ich wohnte und mich auskannte, in den Dünnwalder Wald. Mitten im dunklen Wald bog ich ohne Licht von einer einspurigen Straße ab auf einen engen Pfad. Der Pfad führte in ein Dickicht, wo wir nach ein paar Metern anhielten. Ich legte den Roller auf die Seite und deckte ihn mit Zweigen ab, um ein Reflektieren der Chromteile zu vermeiden, falls das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos uns erfassen sollte. Und dann saßen wir dort in der kühlen Oktobernacht, froren, erzählten, ich glaube, wir sangen auch ein paar Lieder – alles, um uns die Zeit bis zum Morgengrauen zu vertreiben, die immer länger zu werden schien – aber vor allem froren wir! Allerdings hielt die Euphorie des überstandenen Abenteuers an, und im Morgengrauen machten wir uns dann endlich auf den Weg, um irgendwo zu frühstücken. Aber zu dieser Zeit war dort draußen halt noch nichts geöffnet. Wir fuhren schließlich zurück in die Stadt, kauften uns am Hauptbahnhof etwas zu essen, und irgendwann ging es dann auch schon wieder in die Schule.

      Tante Luise

      Ich erwähnte schon die gelegentlichen Besuche von Kollegen meines Vaters aus Afrika, Asien und aus dem Nahen und Fernen Osten. Natürlich hatte auch meine Mutter gelegentlich Besuch von alten Freundinnen oder Verwandten. Eine sporadische Besucherin ist mir in besonderer Erinnerung geblieben, denn sie war eine sehr emphatische Frau mit einem Herzen aus Gold und lebte ein in meinen Augen sehr abenteuerliches Leben, aus dem sie gerne und viel und sehr bildhaft erzählte.

      Obwohl ich sie relativ selten zu Gesicht bekam, war sie eine meiner Lieblingstanten. Tante Louise war eine Cousine zweiten Grades meiner Mutter und lebte in den frühen 60er Jahren in Rom, später in New York. Sie kam ursprünglich aus Köln, was man ihr immer sehr deutlich anhörte und hatte auf einer Urlaubsreise nach Rom ihren späteren Mann Alberto Marinucci kennengelernt. Tante Luise sah aus wie eine rassige waschechte Italienerin, hatte schwarze Haare und einen Riesenbusen, und sie sprach perfekt Italienisch. Sie war sehr temperamentvoll und sprühte vor Witz und Humor. Als 14- oder 15-jähriger verbrachte ich mal die Winterferien bei ihr in Sillian in Südtirol, wo sie damals für ein paar Jahre mit ihrem zweiten Mann lebte. Ich war dort keinerlei Reglements unterworfen – ich durfte rauchen, Bier und Wein trinken und abends ins Bett gehen, wann ich wollte. Sie hatten keinen Fernseher, aber das vermisste ich auch nicht, denn Tante Luise unterhielt uns abends nach dem Essen bei einem Glas Wein häufig mit Anekdoten aus ihrem schillernden Leben.

      Ihr erster Mann Alberto hatte einen sehr angesagten Damenfriseursalon in Rom. Als gelernte Friseurin arbeitete sie dort immer mit und kannte so die meisten der Kundinnen.

      Eines Tages fuhr eine schwarze Mercedes Limousine mit einem Kennzeichen des Vatikan vor. Ihr entstiegen ein Kardinal und eine junge Frau. Der Kardinal war in Rom damals offenbar ziemlich bekannt, und Tante Luise begrüßte ihn. „Erfüllen sie meiner Nichte bitte alle Wünsche – die Rechnung geht dann bitte an mich“ meinte der Kardinal, bevor er sich wieder in den Fond des Mercedes fallen ließ und davonrauschte. Die attraktive junge Blondine, die er im Salon zurückgelassen hatte, bekam einen Stuhl zugewiesen. Tante Luise sollte sie behandeln. Auf dem Weg zu ihrer jungen Kundin streifte sie eine Vase, die auf einem Sockel mitten im Salon stand, und die Vase fiel krachend zu Boden, wo sie in tausend Scherben zerbrach.

      „Leck misch in der Täsch, nä, dat mir dat passiere muss!“ fluchte Tante Luise in breitem Kölsch. Worauf die Nichte des Kardinals sich erstaunt umdrehte und fragte „Küsste och us Kölle?“ (Kommst du auch aus Köln?) Da hatten sich also zwei kölsche Mädscher gefunden, und sie vertieften sich gleich in eine ausgedehnte Unterhaltung, in deren Verlauf die Nichte meiner Tante erklärte, dass sie keineswegs die Nichte des Kardinals sei, sondern seine Geliebte. Er habe ihr eine Wohnung hier in Rom gemietet, und immer wieder komme sie für ein paar Wochen hierher, wo sie und der Kardinal dann unerkannt wie Mann und Frau zusammenlebten – so gut es eben ging. Ein katholischer Priester – ein Kardinal! – und seine Geliebte! Und diese Kirche wollte dem normalen Bürger Regeln auferlegen, die mit Moral und Sexualität zu tun hatten? Ich hatte nie etwas Verlogeneres gehört!


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