Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones
jetzt waren Fächer wie Latein und Mathematik hinzugekommen – Fächer, für die ein wenig Fleiß nicht schlecht gewesen wäre. Doch ich war ein ziemlich faules Kind, und dementsprechend waren meine schulischen Leistungen dann auch eher mittelmäßig – außer in Englisch, denn da war ich immer mit großem Abstand Klassenbester. Und wenn ich mal mit einer schlechteren Note als einer zwei in einer englischen Klassenarbeit nach Hause kam, dann gab es von Seiten meiner Mutter ziemlichen Zoff. Für eine Eins hingegen gab es eine Belohnung von zwei Mark, für eine zwei immerhin noch eine Mark.
Ich entwickelte früh einen gewissen Geschäftssinn. Wenn die Einnahmen, die ich mit meinen Klassenarbeiten erzielte, auch relativ bescheiden waren, so fanden sich doch immer wieder kleinere Jobs, mit denen sich mein Taschengeld aufbessern ließ. Einer dieser Jobs war das Waschen von Autos. Das geschah mit einem Schwamm und einem Eimer Wasser, im Pferdestall nebenan fand sich ein Schlauch, und so wusch ich an den Wochenenden des öfteren das Auto meiner Eltern. Dafür gab es 3 Mark, später 4, was nicht schlecht war, denn für ein Auto benötigte ich eine gute Stunde. Die Reiter, die an den Wochenenden kamen, um ihre Pferde zu bewegen, sahen mich dann beim Autowaschen, und so manches Mal wurde ich gebeten, auch ihre Autos zu reinigen. So kam ich an manchen Wochenenden auf über 10 Mark, damals für mich eine Menge Geld. Einer der Reiter war ein gewisser Herr Dachser, der Inhaber der internationalen Spedition gleichen Namens – damals schon eine der größten in der Bundesrepublik. Dachser war ein untersetzter, stämmiger kleiner Mann, und er fuhr einen cremefarbenen Mercedes 190 SL mit roten Ledersitzen. Als er mich sah, kam er zu mir und fragte mich, ob ich ihm sein Auto waschen wollte. Ich sagte nur zu gern zu, denn bei einem so wohlhabenden Mann war ja mit einem dicken Aufgeld zu rechnen – und so nah an ein solches Traumauto zu kommen, sich vielleicht einmal da hineinsetzen – ich machte ja auch eine Innenreinigung – fand ich aufregend. Ich gab mir dann auch große Mühe, polierte die verchromten Spiegel besonders sorgfältig und achtete peinlich darauf, dass auch der Innenraum blitzsauber war. Ich nahm mir viel mehr Zeit als sonst – obwohl das Auto ja nur halb so groß war die Ford Taunus oder Opel Rekord, die ich sonst so wusch.
Als Dachser von seinem Ausritt zurückkam, präsentierte ich ihm stolz sein blitzsauberes Auto, das aussah, als sei es gerade erst zugelassen worden. Er inspizierte es sehr ausgiebig und griff dann in die Tasche, aus der er eine 50 Pfennig Münze hervorzauberte, die er mir gab mit dem Kommentar „ich hab‘ auch mal klein angefangen!“ Meine Wut war grenzenlos, und mir stiegen die Tränen in die Augen. Doch dies war mir eine Lehre – und künftig nannte ich immer meinen Preis, bevor ich einen Job annahm. Übrigens denke ich noch heute jedes Mal, wenn ich einen LKW von Dachser überhole, an den damaligen geizigen Chef der Firma – und die Sympathiewerte haben sich nicht verändert!
In der Sexta lernte ich meinen ersten Freund kennen, einen ziemlich dicken Jungen, dessen Eltern in Köln – Merkenich eine Bäckerei besaßen. Die Schule hat mich auf jeden Fall geformt und mir natürlich das an Bildung vermittelt, das ich mitnahm in mein späteres Leben. Aber einen ebenso großen Gewinn, den ich von dort mit hinausgenommen habe in mein Leben, war und ist die Freundschaft mit Karl–Heinz, dem dicken Jungen aus der Sexta, der sich heute Carlo nennt und noch heute mein engster Freund und Vertrauter ist. Längst ist er nicht mehr dick, und man kann sagen, dass wir in den vergangenen 60 Jahren miteinander durch Dick und Dünn gegangen sind. Als Junge war ich nicht sonderlich sportlich. Ich hatte auch überhaupt keinen Spaß an Bodenturnen oder Leichtathletik, und so versuchte ich, mich vor diesen Disziplinen zu drücken. Dazu war ein Besuch beim Schul- oder Amtsarzt jedoch unerlässlich. Ich hatte jedoch damals eine panische Angst vor Ärzten, und ich weiß noch, dass ich es mir reiflich überlegte, ob ich mich wirklich vom Sport befreien lassen sollte oder nicht. Doch Karl-Heinz war wegen seiner Leibesfülle bereits vom Fach ‚Leibesübungen(!)‘ befreit, und so wagte ich den Gang zu einem Kölner Schularzt. Meine Eltern wussten von all dem natürlich nichts. Als ich schließlich zum Gesundheitsamt am Neumarkt ging, war ich derart aufgeregt, dass ich gar nicht den vielen Kaffee hätte trinken müssen, um mein Attest zu bekommen, so schnell schlug mein Herz. Ich musste mich nackt ausziehen, der Arzt berührte mich an meinen intimsten Stellen, offenbar um festzustellen, ob ich eventuell eine Phimose hatte. Wozu er das bei meinen vorgeblichen Beschwerden, nämlich einem zu schnellen Herzschlag, wissen wollte, weiß ich bis heute nicht, ich kann es nur vermuten, aber darauf möchte ich jetzt nicht näher eingehen. Zumal ein weiterer Mitschüler beim selben Arzt demselben Handgriff unterzogen wurde. Jedenfalls attestierte er mir schließlich eine akute Tachycardie mit der Neigung zu Herzrhythmusstörungen, also einen viel zu schnellen Herzschlag und befreite mich mit sofortiger Wirkung vom Sport. Das bedeutete alle zwei Wochen einen gewonnenen freien Nachmittag, denn donnerstagnachmittags fand im 14-Tage-Rhythmus der Sportnachmittag statt – meist draußen im Stadion oder in einem Park. Und da Karl-Heinz und ich vom Sport befreit waren, gingen wir stattdessen fast immer ins Kino, manchmal auch gleich zwei Mal hintereinander. Er erzählte seinen Eltern dann immer, er sei bei mir zu Hause, während ich meinen Eltern erzählte, ich sei bei ihm zu Hause. Unsere Eltern haben die Wahrheit nie erfahren – zum Glück, denn ich glaube, die Strafen wären – wohl zu Recht - wahrscheinlich ziemlich drastisch ausgefallen!
Wir besuchten einander recht häufig – aber eigentlich besuchte ich Karl-Heinz öfter als er mich. Denn bei ihm zu Hause genossen wir mehr oder weniger absolute Freiheit. Seine Mutter stand von früh bis spät hinter dem Tresen der Bäckerei, während sein Vater, ein sehr fleißiger kleiner Mann, morgens um 4 seinen Arbeitstag begann und wenig später bereits in der Backstube stand. An den Wochenenden fuhr er mit seinem Opel Rekord Caravan „Teilchen“ verkaufen, so dass er eigentlich nie einen Ruhetag hatte. Abends gingen er und seine Frau daher immer schon gegen 20 Uhr ins Bett – und dann fing für Karl-Heinz und mich der Abend ja gerade erst an! Fernsehen war damals noch nicht so angesagt (im Gegensatz zu meinen Eltern hatten sie immerhin schon ein Gerät!), aber das Programm endete ja meist um 23 Uhr oder Mitternacht mit dem Testbild.
Manchmal zogen wir nachts auch durch Merkenich. Wir liefen einfach durch den Ort, achteten dabei allerdings immer darauf, dass uns niemand sah. Einmal kletterten wir über Gerüste hinauf auf die noch im Bau befindliche Leverkusener Autobahnbrücke, an der es noch keine Geländer gab und von der wir dann einen Sack Zement von ganz oben in den Rhein warfen, wobei wir darauf achteten, dass er nicht etwa auf einem unter uns dahinziehenden Schiff landete.
Oder wir verzogen uns ins Wohnzimmer. Dies war das größte Zimmer im Haus und wurde tatsächlich nur an besonderen Feiertagen benutzt. Es lag zur Straßenseite hin, während die Schlafzimmer hinten zum Hof ausgerichtet waren. Wir waren also ungestört und konnten laut Musik hören. Ich weiß noch, dass der Weihnachtsbaum bis kurz vor Ostern in diesem eisigen Raum stehenblieb und kaum nadelte, denn es wurde hier praktisch nie geheizt. Und wenn es doch einmal etwas wärmer sein sollte, entzündeten wir einen kleinen Ölofen in der Ecke. Normalerweise setzten wir uns, jeder in eine Decke gehüllt, einander gegenüber und tranken im Laufe der Nacht eine oder auch mehrere „Familienflaschen“, also große Flaschen Coca Cola aus, die wir im Laufe der Nacht dann wieder halbvoll pinkelten, da der Weg zur Toilette über knarrende Dielen und durch quietschende Türen am elterlichen Schlafzimmer vorbeiführte. Und seine Eltern wollten wir ja unter keinen Umständen wecken! Weiß der Himmel, was wir uns in diesen Nächten alles erzählt haben – ich kann es heute nicht mehr nachvollziehen. Uns ist jedenfalls nie langweilig geworden. Vielleicht rührt auch aus diesen langen Nächten unser bis heute erhaltenes tiefes Verständnis her, wer weiß!
Manchmal lasen wir auch eine Messe – einer war Priester, der andere der Ministrant. Als Kostüme dienten uns Tischdecken oder Betttücher. Wenn ich mich recht erinnere, lasen wir aber nie eine Messe zu Ende, weil wir irgendwann vor Lachen nicht weiterkamen. Und wir hörten – ich erwähnte es ja bereits – Musik. 1965 erschien „Siebzehn Jahr‘, blondes Haar“ von Udo Jürgens. Und diese Scheibe drehte sich in mancher Nacht in Merkenich stundenlang auf dem Plattenteller! In diesen Nächten schmiedete ich offenbar die Musik von Udo Jürgens um mein Herz. Auf jeden Fall wurde ich wohl so etwas wie ein glühender Fan dieses Musikers, und das hatte ich mit zahllosen Gleichaltrigen gemeinsam.
Nicht zu vergessen war das Frühstück in Merkenich. Neben den Eltern Kappes arbeiteten und wohnten mehrere Bäckergesellen im Haus. Für alle gab es um 6:30 Uhr immer ein großes Frühstück. Der köstliche Duft von Kaffee und frischgebackenem Brot war da schon seit Stunden durchs Haus gezogen. Nach