Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones
Er war eigentlich Amerikaner, der die deutsche Nationalität angenommen hatte. Meinem Vater drohte derweil in England ebenfalls die Todesstrafe – denn man warf ihm genau das vor, was Joyce an den Galgen gebracht hatte. Barry Jones wurde in ein englisches Militärgefängnis nach Brüssel gebracht, während meine Mutter, damals mit meiner Schwester hochschwanger, in ein ehemaliges KZ gebracht wurde, in dem man sie ohne Angabe eines konkreten Grundes über mehrere Wochen hinweg internierte. Dieses KZ wurde von Kanadiern als Gefängnis genutzt, und das Einzige, was meine Mutter jemals erfuhr, war der Vorwurf, einen Engländer geheiratet zu haben, der als Verräter angeklagt werden würde.
Der Vorwurf des Hochverrats auf Grund seiner beruflichen Tätigkeit beim Rundfunk ließ sich zum Glück jedoch nicht erhärten und beweisen schon gar nicht, aber die englischen Behörden ließen nicht locker. Sie versuchten schließlich meinem Vater nachzuweisen, dass er seine Nationalität während des Krieges geändert hatte, und nicht – wie er bei den Verhören stets behauptet hatte – bereits vor dem Krieg, nämlich im Juli 1939. Aber auch dieser Versuch, ihn eines Aktes des Hochverrats zu überführen, führte aus Sicht der Engländer zu nichts, denn in einem der letzten Luftangriffe auf Berlin hatten sie selbst alle entsprechenden Archive, in denen man möglicherweise hätte fündig werden können, in Schutt und Asche gelegt. Und so wurde mein Vater nach über fünf Monaten wieder auf freien Fuß gesetzt – allerdings mit der Auflage, nie mehr englischen Boden zu betreten. Bei Zuwiderhandlung wäre er beim Versuch der Einreise umgehend verhaftet und möglicherweise wieder angeklagt worden.
Meine Großeltern hatten ziemlich weitreichende Verbindungen bis ins englische Unter- und Oberhaus und hatten Gott und die Welt angeschrieben und Petitionen eingereicht, um eine Aufhebung des Reiseverbots gegen meinen Vater zu erreichen. Mein Großvater bombardierte das englische foreign office mit zahllosen Briefen und Dokumenten, die die Unschuld meines Vaters belegen sollten. Diese Initiativen meiner Großeltern gingen bis hin zur Familie des ehemaligen Premierministers Neville Chamberlain. Viele dieser hochangesehenen Personen waren zum Tee im Haus meiner Großeltern eingeladen – noch heute zeugt davon eine weiße Tischdecke, auf der meine Großmutter die Signaturen ihrer Gäste sammelte, die sie dann mit blauem Faden nachstickte. Und tatsächlich – irgendwann geschah das nahezu Unmögliche: England gab nach und erlaubte ab 1954 meinem Vater, England für 2 Wochen pro Jahr zu besuchen – vorausgesetzt, der Aufenthalt im Vereinigten Königreich diente allein dem Besuch seiner Eltern. Laut Unterlagen des englischen Geheimdienstes MI5, die heute einsehbar und frei verfügbar sind, nachdem sie während der vergangenen Jahrzehnte als „TOP SECRET“ klassifiziert gewesen waren, dauerte die Überwachung meines Vaters durch eben diesen Geheimdienst immerhin ziemlich genau 44 Jahre, nämlich von 1939 bis zum Februar 1983! Bis zu diesem Zeitpunkt stempelte man ihm bei jeder Einreise ins Vereinigte Königreich jeweils die Anweisung in seinen Pass, dass er nicht länger als 2 Wochen bleiben dürfe. Ich frage mich nicht nur, wie es zu dieser Paranoia kommen konnte, sondern auch, ob es nicht Wichtigeres für diese Institution gegeben hat, als die Bewegungsprofile eines nachweislich unschuldigen, politisch nicht aktiven und über jeden Verdacht erhabenen Menschen – noch dazu deutscher Nationalität – aufzuzeichnen und zu überwachen!
Jedenfalls befanden wir uns nun nach äußerst bewegten und aufregenden Zeiten auf dem Weg nach England. Professor Bumm hatte darauf bestanden, uns seinen Mercedes 300, den sogenannten „Adenauer“ - Mercedes mitsamt Chauffeur für die Fahrt zum Düsseldorfer Flughafen zur Verfügung zu stellen. Und so saßen wir in den blauen Samtfauteuils dieser Luxuslimousine und rauschten zum Flughafen nach Lohausen. Dort sah uns eine in Duisburg lebende Cousine meiner Mutter von der Besucherterrasse aus, wo sie sich zufällig mit ihrem Sohn aufhielt, dem sie den Flughafen zeigen wollte, aus dem Auto klettern und wie unser Chauffeur Herr Krimann in grauer Uniform unser Gepäck in den Flughafen schleppte. Sie verbreitete daraufhin das Gerücht, wir hätten offenbar im Lotto gewonnen und seien jetzt „reich“ – ein Gerücht, das sich jahrelang hartnäckig hielt und der Wahrheit nicht weniger hätte entsprechen können. Doch halt: reich waren wir ja eigentlich, denn wir waren eine glückliche Familie, und wirtschaftlich ging es auch aufwärts - das Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre hatte auch an unsere Haustür geklopft.
Nun flog ich also sechs Jahre später zum zweiten Mal – diesmal mit einer Viscount der Lufthansa. Kurze Zeit vor unserem Flug, den mein Vater und ich am 27. Dezember 1960 antraten, hatte es mehrere Flugunfälle und Abstürze gegeben, was zu einem massiven Rückgang der Passagierzahlen führte. Demzufolge war das Flugzeug fast leer. 1960 – das war noch Jahre vor den ersten Flugzeugentführungen, und die Welt hatte ihre Unschuld sozusagen noch nicht verloren. Daher durfte ich das Cockpit aufsuchen und mich zwischen die beiden Piloten stellen. Der Kapitän erklärte mir alles, was ich wissen wollte, und mit Sicherheit war es auch auf diesem Flug, dass meine Flugbegeisterung weiter angekurbelt wurde und dass ich mir den „Bazillus Aviaticus“, wie die Flieger sagen, einfing – der mich im Übrigen nie mehr loslassen sollte. Denn noch heute schaue ich Flugzeugen hinterher, und immer wieder fasziniert mich die Physik eines Flugzeuges, das mit seinen Riesengewichten die Kräfte der Erde überwindet und sich in die Lüfte erhebt. In meinem Lied „Nimm mich mit“ habe ich viele Jahre später versucht, das zum Ausdruck zu bringen, und insofern ist jede Zeile dieses Songs auch heute noch absolut authentisch. Der alte Traum vom Fliegen – ich finde, er hat noch nichts von seiner Faszination eingebüßt, und wenn ich heute ein Flugzeug besteige, dann liebe ich alles daran bis hin zu seinem Geruch. Der mag heute etwas klinischer und neutraler geworden sein; in früheren Jahren rochen, nein: dufteten Flugzeuge nach Öl und Kerosin, nach Leder auch und den verarbeiteten Metallen – ähnlich einem alten Auto, einem Oldtimer – die riechen nämlich ganz ähnlich. Überhaupt die Gerüche – ich richtete mir meinen Mikrokosmos schon als kleines Kind nach olfaktorischen Gesichtspunkten ein. Ich erwähnte ja schon meine Begeisterung für Landluft. Aber auch bei alltäglichen Dingen spielte der Duft für mich eine entscheidende Rolle. Meine Eltern erzählten immer, dass ich schon als Kleinkind an jedem Spielzeug immer erst schnupperte, bevor ich mit ihm spielte. Und wenn der Duft mir nicht passte, dann rührte ich es nie wieder an! Als mein Vater irgendwann mit einem nagelneuen VW Käfer nach Hause kam, setzte ich mich so manches Mal nachmittags einfach ins Auto, nur um mich am Duft des Neuwagens zu ergötzen. Damals dufteten Autos ja noch – zumindest nahm ich den Geruch immer als Duft wahr. Heute erzählt man mir, dass diese Düfte immer schon synthetisch waren und dass man heute auf vielfachen Kundenwunsch darauf verzichtet – was mir sehr Leid tut, denn diese Cuvée von frischem Lack, von Ölen und Gummimatten, Leder oder Polsterstoffen fand ich immer absolut betörend. Mit dieser Wahrnehmung bin ich offenbar nicht alleine, denn in Amerika sind mittlerweile Sprays im Handel, die – einmal im Auto versprüht - die Illusion eines Neuwagens vermitteln sollen – zumindest, was dessen Geruch angeht!
Meine ersten 4 Schuljahre verliefen relativ reibungslos. Ich war in diesen Jahren immer Klassenbester – vielleicht könnte man aber auch sagen: Einäugiger unter Blinden, denn das allgemeine Niveau war eher rustikal. Die Lehrerin sagte meinen Eltern, dass sie sich nur bei zwei Schülern sicher sei, dass sie das Zeug zum Abitur hätten, und das war neben mir meine spätere erste Liebe Christel. Doch bis dahin dauerte es noch ein paar Jahre…
1960 wurde ich nach bestandener Aufnahmeprüfung in das Staatliche Dreikönigsgymnasium, die älteste Kölner Jungenschule, eingeschult. Mama hatte mich dort angemeldet, weil das DKG, wie es bis heute genannt wird, damals in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ursulinenschule lag, einer Klosterschule für Mädchen, auf die meine Schwester Sylvia ging. Das DKG war hingegen eine reine Jungenschule. Dadurch konnten wir beide zusammen zur Schule gebracht, bzw. abgeholt werden und den Schulweg miteinander unternehmen, wann immer es möglich war.
Vielleicht lag es an meinem knallroten Blazer, den ich an meinem ersten Tag im Gymnasium trug – vielleicht auch daran, dass ich die Klasse gleich nach einer Stunde wechselte – man suchte einen Freiwilligen, der wechseln wollte, weil eine Klasse zu groß und die andere zu klein war, und ich hatte mich gemeldet – jedenfalls wurde ich gleich an diesem Tag zum Klassensprecher gewählt, und das blieb ich fast die gesamte Zeit bis zum Abitur. Wir waren in der Sexta mehr als 40 Schüler; beim Abitur waren es dann noch 25, aber dazwischen lagen lange Jahre, die aus heutiger Sicht spielerisch an mir vorbeizogen. Aber ich weiß sehr wohl, dass ich während meiner Schulzeit die ersten Kontakte zum Stress erlebte, Schulstress und auch Frust. Bis