Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones

Auf dem Weg durch die Zeit - Detleff Jones


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lebendig sei. Als klassischer Pantheist sah er Gott in dieser Welt – sein Gott lebte hier in der Natur, die ihn mit einem tiefen inneren Frieden erfüllte. Wenn ich mir seine Sicht dieser Dinge auch nie völlig zu eigen machte, so hat sie mich doch bis auf den heutigen Tag sehr nachhaltig beeinflusst.

      Dieser Spaziergang damals hatte einen besonderen Grund. Ich ging in die katholische Volksschule Leuchterstraße in Köln – Dünnwald, und unser Religionslehrer, ein Kaplan Helmig, sah in mir den geborenen Messdiener – also Ministranten. Ich war auch keineswegs abgeneigt, diese Aufgabe anzunehmen – stellte sie doch in den Augen der Kinder durchaus ein Privileg dar – man war dem Altar näher, durfte Messgewänder, Kelche und das riesige Messbuch, das sogenannte Missale, berühren. Doch was heißt schon berühren – der Messdiener hatte während der Messe, die damals – vor dem 2. Vatikanischen Konzil - noch auf lateinisch gelesen wurde, dieses schwere Messbuch von links nach rechts und wieder zurückzutragen, wobei ich schon mehrmals kleine Jungen habe straucheln sehen! Wir wohnten allerdings gut 3 Kilometer von der Kirche entfernt, und so manche Messe wurde schon um 5 Uhr morgens gelesen, so dass ich als Ministrant um 4 Uhr hätte aufstehen müssen – und meine Mutter oder mein Vater ebenfalls, denn man wollte mich ja schließlich so früh morgens nicht allein mit dem Fahrrad durch den Wald nach Dünnwald fahren lassen. Daddy arbeitete bei der Deutschen Welle im Schichtdienst, d.h. er kam manchmal erst früh morgens nach Hause, weil die ganze Nacht über Nachrichten gesendet wurden. Und daher war es meinen Eltern einfach zu viel, mich einmal pro Woche in aller Herrgottsfrühe in die Kirche zu bringen – zumal vor allem mein Vater ohnehin kein großer Freund von Institutionen – welcher Art auch immer – war, und zu denen zählte er auch die Kirche. Er wurde daraufhin von Kaplan Helmig zu einem Gespräch in die Pfarrei gebeten. Dieses Gespräch endete in einem Fiasko – mein Vater wurde des Hauses verwiesen und blieb, solange Helmig in Dünnwald war, persona non grata. Und darauf war er sehr stolz! Denn er hatte Helmig, der offenbar versucht hatte, meinem Vater mächtig zuzusetzen und ihn mehr oder weniger beschimpfte, die Stirn geboten und ihm gesagt, er solle nicht glauben, dass sein Gott ganz allein in seinem Backsteinbau zu finden sei, worauf Helmig ihn kurzerhand rausschmiss. In der Folgezeit bekam ich die Ablehnung des Kaplans mehrfach zu spüren, aber irgendwann verschwand er sang- und klanglos; auf Grund mehrerer Beschwerden von verschiedenen Eltern war er versetzt worden.

      Meine Achtung vor Daddy war mächtig gestiegen – er hatte der allmächtigen Kirche die Stirn geboten, und die hatte ihm mit ihrem Kaplan Helmig keine Argumente entgegensetzen können. Die stärksten Argumente lieferte mein Vater - nämlich als wir unter der mächtigen Tanne im Gras saßen und er mir sein Verständnis von Gott und der Welt erklärte.

      Wenn er sich danach fühlte oder er mich beschäftigen wollte, gingen Daddy und ich in den Wald, um Fußball zu spielen. Es gab in der Nähe eine Lichtung mit mächtigen alten Buchen. Wir nannten diesen Ort die „dicken Buchen“, und 4 Bäume mussten für die beiden Tore herhalten, zwischen denen wir den Ball hin und her kickten, wobei mein Vater eher ungelenk an den Ball trat, lebte er doch nach Churchills Devise: no sports! Ich schätzte diese Aufenthalte in meinem geliebten Wald umso mehr, wenn mein Vater mit von der Partie war. Meist war ich allerdings alleine unterwegs, streifte durchs Gebüsch, kletterte bis hoch in die Wipfel der Bäume oder baute mir Unterstände oder „Lager“, wie wir sie nannten. Dort lebte ich in meiner eigenen Fantasiewelt - ich war Krieger, Fallensteller, Indianer – was immer mir gerade einfiel. In den Ferien stand ich manchmal in aller Frühe auf, meist um 4 Uhr - und lief in den noch dunklen Wald, wo ich auf Jägerstände kletterte, von denen aus ich Rehe beobachtete, Füchse und Wildschweine, während das erste Licht in den Himmel kroch. Und wenn ich um 7 wieder nach Hause kam, schlich ich mich zurück in mein Bett, so dass meine Eltern meist nichts von meinen Eskapaden bemerkten. Bei all dem war ich eigentlich immer alleine, ohne mich einsam zu fühlen. Ich hatte meinen Rückhalt zu Hause, und meine Freunde waren neben meinem Teddybär, den mir mein Patenonkel zur Geburt geschenkt hatte und den ich noch heute hüte, die Tiere im Wald und meine Fantasie, die allerdings ziemlich lebhaft war. Ich horchte dem Gesang der Vögel, den ich mir in Sprache übersetzte, um so mit diesen kleinen Sängern zu kommunizieren. Und als ich alt genug war, begann ich zu lesen. Meine ersten beiden Bücher waren „Old Surehand“, beide Bände, von Karl May. Die hatte ich im Bücherschrank meiner Eltern entdeckt, weil sie kleiner waren als alle anderen Bücher. Ich schlug einen Band auf und tauchte ein in die Fantasiewelt des Autors. Meine Eltern verbaten mir die Lektüre – weiß der Himmel, warum. Vielleicht meinten sie, ich sei mit meinen 8 oder 9 Jahren noch zu jung für die Brutalitäten des Wilden Westens! Was sie wohl empfunden hätten, wenn die sie heute einen Film von Quentin Tarantino hätten ansehen müssen! Aber ich las die Bücher natürlich dann heimlich, nachts im Schein meiner Taschenlampe unter der Bettdecke und wann immer sich die Gelegenheit bot.

      Und in der Folge las ich dann auch fast den kompletten Rest – die meisten der 70 Karl – May -Bücher, wie so viele Leser vor und nach mir. Meine Eltern hatten natürlich bald nachgegeben, und es gibt ein Foto, das mich Weihnachten 1960 mit meinen Geschenken zeigt: mehrere Bände von Karl May – zusammen mit einem Flugticket nach London. Ich durfte mit meinem Vater ein paar Tage in England verbringen, und drei Tage später sollte es losgehen. Dies war das zweite Mal, dass ich fliegen würde – das erste Mal war 1954 gewesen, zur Goldenen Hochzeit meiner Großeltern – der Eltern meines Vaters. Hierzu waren wir von Düsseldorf nach Birmingham geflogen – mit einer Elisabethan der BEA, der British European Airways. Meine Mutter litt damals unter panischer Flugangst, und um sich zu beruhigen, hatte sie ein ganzes Fläschchen Klosterfrau Melissengeist getrunken. Daher war sie wahrscheinlich mehr oder weniger vom Alkohol benebelt, als wir unsere Plätze einnahmen. Wir saßen uns zu viert in Zweiersitzen an einem Tisch gegenüber. Und als die Stewardess kam und Mama fragte, ob sie ihren Kaffee schwarz oder weiß haben wollte („would you like your coffee black or white?“) verstand meine Mutter „are you feeling all right“ und antwortete mit „yes, thank you“!

      Für meine Eltern hatte diese Reise einen ganz besonderen Stellenwert, und sie war wesentlich wichtiger, als wir Kinder das wahrnehmen konnten: Es ging nicht nur um die Goldene Hochzeit meiner Großeltern; für meinen Vater war dies nach vielen langen Jahren auch die erste Reise zurück in seine Heimat. Zum ersten Mal nach fünfzehn Jahren würde er seine Eltern wiedersehen, nach all dieser Zeit, in der so unglaublich viel geschehen war – der Holocaust, ein grausamer Krieg, der weite Teile Europas nahezu verwüstet hatte, die Hochzeit meiner Eltern, der Kampf ums Überleben, meine Schwester und ich wurden geboren, und nichts war mehr so wie zuvor. Bei vorher geplanten Reisen war der Krieg dazwischengekommen, und während des 2. Weltkrieges gab es natürlich keine Reisemöglichkeiten zwischen den verfeindeten Ländern England und Deutschland. Nach Kriegsende hatte es dann andere Probleme gegeben, und die waren für meine Eltern zutiefst Besorgnis erregend. Mein Vater war am 15. Mai 1945 in der Nähe von Oldenburg, wo meine Eltern das Kriegsende erlebt hatten, von anrückenden kanadischen Soldaten verhaftet worden. Sie handelten auf einen von den Engländern ausgegebenen Haftbefehl und übergaben den Gefangenen noch am selben Tag an eine englische Einheit. Man warf ihm „Kooperation mit dem Feind“ vor, was mit Hochverrat gleichzusetzen war, denn er hatte für den deutschen Reichs-Rundfunk gearbeitet, wo seine Aufgabe darin bestanden hatte, die Nachrichten in englischer Sprache zu verlesen (zu seinem Glück nicht, sie auch zu verfassen!). Sein Chef beim Reichs-Rundfunk war ein gewisser William Joyce, der auch die „englische Stimme Hitlers“ genannt wurde. Bekundungen meines Vaters zufolge hatte er Joyce lediglich einmal kurz getroffen und ihn dabei als eher unangenehm empfunden; zusammengearbeitet hatte er nie mit ihm. Joyce – wegen seiner markanten Aussprache in England auch Lord Haw Haw genannt - war Verfasser zahlloser antisemitischer Pamphlete und Autor einer unsäglichen Propaganda für die Nazis gewesen, und seine Wortbeiträge, deren Inhalt mitunter an das Geschrei des berüchtigten deutschen Propagandaministers Joseph Goebbels erinnerten, wurden über das Radio in ganz England gehört. Doch für die englische Bevölkerung war Joyce eher ein Clown; richtig ernst genommen wurde er zumindest von der breiten Bevölkerung wohl nicht. Joyce war nach Kriegsende in einem Wald bei Flensburg ebenfalls festgenommen worden und wurde später im Gefängnis von Wandsworth südlich von London nach einem stark umstrittenen Verfahren hingerichtet. Umstritten, weil Joyce womöglich ein englischer Doppelagent war, der den englischen Behörden in seinen Radioberichten angeblich codierte geheime Mitteilungen hatte zukommen lassen


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