Die Korinther. Nicole Kruska

Die Korinther - Nicole Kruska


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von Tönen. Timotheos schloss die Augen und atmete tief durch:

      „Lobt den HERRN, all ihr Völker.

      Lobt ihn, alle Menschen auf Erden.

      Denn seine Gnade ist groß

      und seine Treue besteht für alle Zeit.

      Timotheos‘ Stimme klang geübt, die Töne makellos wie sein Gesicht. Die drei Männer wiederholten den Vers, und die meisten anderen sangen mit, einige laut und kräftig, andere eher zurückhaltend. Manche Männer und Frauen hatten die Augen geschlossen und die Hände im Gebet erhoben, auch die Sklaven. Die Versammlung sang den Vers noch einmal, dann ein drittes Mal. Paulos rief über den Gesang hinweg:

      „Halleluja, Herr, wir beten dich an. Wir rufen dich an, du Gott der Gnade, schenk uns deinen Segen für unsere Versammlung heute Abend. Segne unsere Versammlung und jeden Einzelnen von uns. Geist Gottes, leite und begleite uns. Lass uns teilhaben an deiner Weisheit, offenbare uns deinen heiligen Willen.“

      Der Geist Gottes. Er erinnerte sich, dass Silas ihm davon erzählt hatte, vom Geist Gottes. Aber er konnte sich darunter nicht so recht etwas vorstellen. Silas war von der Seite nah an Paulos herangetreten und flüsterte ihm ins Ohr. Timotheos beendete seinen Gesang im selben Moment, in dem Silas wieder von Paulos wegtrat, und einen Moment lang war es vollkommen still. Phaistos und Kynthia wechselten einen fragenden Blick: Phaistos spürte, dass Kynthia näher an ihn herangerückt war. Sie zupfte ihn am Ärmel, und er sah sie an.

      Komm, wir gehen, sagten ihre Lippen. Vorne hob Paulos wieder die Arme. „Hört her, Geschwister!“, rief er.

      Phaistos dachte einen Moment lang über Kynthias Bitte nach und schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte Silas ja etwas Wichtiges zu sagen. Er wollte es hören.

      „Unser Bruder Silvanus, der, wie viele von euch wissen, mit der Gabe der Prophetie gesegnet ist, hat euch etwas mitzuteilen.“

      Die Gabe der Prophetie. Was hieß denn das nun wieder? Phaistos hatte von den Propheten aus den Schriften der Juden gehört, hatte sogar vor einiger Zeit eine ihrer Schriften gelesen, aber so verwirrend gefunden, dass er sich nicht mehr weiter damit beschäftigt hatte. Es hieß, die Propheten hätten dem Volk Israel Gottes Willen verkündet. Hoffentlich würde Silas nicht auch so wirres Zeug reden. Dann würde es ihm aber wirklich reichen. Paulos trat zur Seite und Silas an seine Stelle. Phaistos musste einen Schritt nach links rücken, um ihn sehen zu können, und trat dabei seinem Nachbarn auf den Fuß. Hastig entschuldigte er sich, doch der Mann schien das gar nicht bemerkt zu haben. Aufgeregt wandte dieser sich nach allen Seiten um.

      „Hört zu!“ Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, um die Aufmerksamkeit eines Paares zwei Reihen hinter ihm zu bekommen. „Seid doch mal still. Der Herr hat zu Silas geredet.“

      Der Herr hat zu Silas geredet. War Silas also so etwas wie ein Orakel? Das hatte er ihm gestern gar nicht erzählt! Endlich wurde es ganz still im Raum. Phaistos stellte sich auf die Zehenspitzen. Silas wirkte ganz ruhig. Er war auch offensichtlich überhaupt nicht in Trance, wie man es von Orakeln kannte. Er stand dort vorne, als wolle er eine Rede halten.

      „Es ist heute Abend jemand hier, der schon sehr lange an einem Gebrechen leidet.“ Phaistos stockte der Atem. Schnell stellte er die Fußsohlen wieder ganz auf den Boden. Am liebsten hätte er sich klein gemacht und ganz hinter dem Glatzkopf versteckt, der vor ihm stand. „Wer du auch sein magst: Gott will dich heilen. Geh zu Paulos, damit er dir die Hände auflegen kann.“

      Dann wurde es wieder völlig still im Raum. Phaistos glaubte, sein Herz klopfen zu hören. Sein Mund war völlig trocken, und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Einige der Anwesenden drehten suchend die Köpfe nach allen Seiten. Phaistos hielt den Atem an. Irgendetwas in ihm drängte ihn vorzutreten. Konnte das sein? War wirklich er gemeint? Sicher bildete er sich das nur ein. Gleich würde jemand anderes nach vorne gehen. Der Gott, der hier angebetet wurde, kannte ihn doch gar nicht. Unmöglich, nein, es musste einfach jemand anderes gemeint sein. Kynthia hatte mit beiden Händen seine Linke ergriffen.

      „Phaistos, bitte, lass uns endlich gehen, das hier ist mir unheimlich“, flüsterte sie.

      Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. Nein, weggehen wollte er nicht, auf keinen Fall. Timotheos stimmte das Lied wieder an. Fast alle sangen leise mit.

      Paulos‘ Stimme tönte über den Gesang und die Menschenreihen vor ihnen hinweg:

      „Der Geist Gottes hat durch unseren Bruder gesprochen. Heute Abend will der mächtige Schöpfer des Alls an einem oder einer Anwesenden in diesem Raum, seine große Kraft und Liebe erweisen. Komm her zu mir, nimm an, was er dir schenken will.“

      Noch immer ging niemand nach vorn. Phaistos legte die freie Hand auf Kynthias Finger, die sein Handgelenk fest umklammerten.

      „Lass mich los“, zischte er ihr zu.

      Sie schüttelte den Kopf. Einige der Umstehenden hörten auf zu singen und drehten sich nach ihnen um. Eine Frau lächelte, nickte ihm zu, trat zur Seite und streckte den Arm aus, wie um ihm den Weg freizuhalten. Tatsächlich bemerkten die Umstehenden ihre Geste und bildeten eine Gasse, einige immer noch mit den Augen suchend, für wen sie gerade den Weg frei machten.

      „Ich glaube wirklich, dass ich gemeint bin. Lass mich los oder geh mit, aber halt mich nicht auf.“

      Kynthia wurde rot und starrte erst ihn an, dann spürte sie wohl all die Blicke, die nun auf sie beide gerichtet waren, und senkte den Kopf. Endlich gab sie seine Hand frei. Nun steigerte sich der Gesang wieder, blieb aber immer noch leiser als zuvor. Er ging voran, mitten durch die Menschenmenge hindurch auf Paulos und Silas zu. Blicke. Von allen Seiten Blicke. Neugierig, mitleidig. Sie bohrten sich in seine linke Schulter und wanderten den Arm hinunter bis zur Hand, dann zurück zu seinem Gesicht, dann weg von ihm. Konnte es wirklich passieren? Würde er nie wieder solche Blicke ertragen müssen? Was hatte er zu verlieren? Phaistos stand nun genau vor Paulos, sah aber zu Silas, der hinter dem Alten stand. Über Silas‘ Gesicht huschte ein freundliches Lächeln.

      „Phaistos“, sagte Paulos, als würde er ihn zum zweiten Mal begrüßen. Dann fasste er ihn sanft am rechten Ellbogen und fragte: „Willst du geheilt werden?“

      Wollte er das? Natürlich wollte er das. Sollte der Gott der Juden doch zeigen, ob er mehr konnte als alle anderen. Phaistos sah Paulos an, schluckte schwer und nickte. Der Gesang ging weiter, und Phaistos war sehr froh darüber. Jetzt konnte er seinen Herzschlag schon in den Ohren spüren.

      All diese Blicke. Er wollte sie nicht beachten. Paulos stand nun links neben ihm. Phaistos verstand die Frage in seinem Blick – Bist du bereit? – und nickte noch einmal. Der kleine Mann musste die Arme ein wenig heben, um ihm sanft beide Hände auf die Schulter zu legen. Phaistos überlegte, ob es unhöflich wäre, ihn zu unterbrechen, um zu fragen, ob er sich hinknien solle, aber Paulos hatte bereits die Augen geschlossen und das Gesicht nach oben gerichtet. Phaistos verschloss fest die Lippen.

      „Herr“, rief er, „du hast uns gezeigt, dass du Phaistos heilen willst. Schon so lange musste er mit diesem Leiden leben. Jetzt willst du ihn befreien. Halleluja, Herr, wir loben und preisen dich für deine Güte, deine Liebe, deine Kraft. - Im Namen unseres Herrn Iesoús Christos spreche ich dir, Phaistos, Heilung zu. Heilung von Gott, unserem allmächtigen Vater.“

      Dann bewegte er nur noch die Lippen, nein, er murmelte irgendetwas, aber Phaistos verstand kein einziges seiner Worte. Was, wenn nun gar nichts passierte. Doch, jetzt. Bildete er es sich nur ein? Weil er unbedingt wollte, dass etwas passierte? Allmählich breitete sich von der Schulter her eine kräftige Wärme in seinem Arm aus, durch den Ellbogen, das Handgelenk, bis in die Fingerspitzen hinein. In der Schulter aber blieb sie am stärksten. Phaistos nahm plötzlich wahr, dass Kynthia neben ihm stand, Paulos gegenüber. Die Hände vor dem Mund aneinander gelegt, die Augen weit aufgerissen, sah sie dem kleinen Mann ins Gesicht. Schließlich öffnete Paulos die Augen, nahm seine Hände von Phaistos‘ Schulter und nickte ihm zu.

      „Bewege deinen Arm.“

      Phaistos öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Paulos nickte ihm aufmunternd zu. Zögernd und mit zitternden


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