Die Korinther. Nicole Kruska

Die Korinther - Nicole Kruska


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aber sie drängten ihn in keiner Weise, das Ergebnis ihrer Bemühungen unter Beweis zu stellen. Sie mussten sich wohl sehr sicher sein. Die Stille in dem Raum, in dem so viele Menschen nichts weiter taten als abzuwarten, was mit ihm passierte, war kaum auszuhalten. Er selbst wollte es gar nicht mehr wissen. Am liebsten hätte er weiter einfach nur so dagestanden, in der hinteren Reihe, und zugesehen, wie das hier jemand anderem passierte. Nun trat Kynthia dicht vor ihn, sah ihm in die Augen und reichte ihm die linke Hand. Die Finger der rechten in den Stoff seiner Tunika gekrallt, hob er langsam die Schulter, beugte den Ellbogen und legte seine linke Hand in die seiner Schwester. Kynthia schrie leise auf.

      „Es geht“, sagte er ganz leise, dann noch einmal lauter und dann drehte er sich um und rief: „Ich kann meinen Arm bewegen! Zum ersten Mal seit ich vier Jahre alt war!“

      Er spürte Tränen aufsteigen und Paulos‘ Hand, die nun wieder auf seiner Schulter lag. Der Alte sah ihn gütig an.

      „Jeden Tag wird es ein bisschen leichter gehen, Phaistos. Und bald wirst du beide Arme gebrauchen können wie alle anderen hier.“ Dann wandte er sich der Versammlung zu, hob wieder beide Arme und rief laut:

      „Preist den HERRN. Er ist wunderbar.“

      Das Gemurmel im Saal verwandelte sich in Jubel und Beifall, vermischt mit Rufen. „Halleluja!“, riefen die Menschen. Was für ein wunderschönes Wort. Von hinten erklangen eine Schellentrommel und eine Flöte. Timotheos stimmte eine neue Melodie an und sang:

      „Halleluja, preist den Herrn. Preist den allmächtigen Gott und seinen Sohn Iesoús Christos!“

      Immer mehr Anwesende stimmten ein. Phaistos umarmte Kynthia, die lachend weinte. Immer wieder hielt er seinen linken Arm mit der rechten Hand fest aus Sorge, eine zu heftige Bewegung könnte die Heilung zunichte zu machen. Er lachte über sich selbst, lachte vor Freude, legte den rechten Arm um Paulos‘ Schulter und rief:

      „Danke“!

      Der streckte lächelnd die Zeigefinger beider Hände nach oben. Phaistos verstand und dann – dann streckte Phaistos das Gesicht in die Höhe, breitete langsam, ganz vorsichtig, beide Arme aus und rief:

      „Ich danke dir und preise dich, du einzig wahrer Gott! Ich preise dich, Iesoús Christos! Halleluja!“

      V

      Phaistos

      Wie jeden Nachmittag in den letzten Wochen machte sich Phaistos mit zwei Wachstafeln und einem Griffel auf den Weg in die Bibliothek. Es war gekommen, wie Paulos vorausgesagt hatte: Jeden Tag konnte er den linken Arm ein klein wenig besser bewegen. Nun war er schon beinahe so beweglich wie der andere. Inzwischen war der Strom der Neugierigen jeden Alters, die in der Werkstatt vorbeikamen, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass an Phaistos dem Keramikmaler ein Wunder geschehen war, so gut wie versiegt.

      Phaistos atmete auf, als die riesige Tür der Bibliothek hinter ihm zufiel und das Gedränge und den Lärm auf der Agorá aussperrte. Der Bibliothekssklave wartete nicht einmal seinen Gruß ab, sondern verschwand gleich zwischen den Regalen. Der Mann wusste bereits, welche Schriftrolle Phaistos wünschte. Dieselbe wie gestern, vorgestern und am Tag davor: Schriftrolle Nummer eins des ersten Buches der jüdischen Heiligen Schrift in griechischer Sprache. Nachdem Phaistos den Bericht von der Erschaffung der Welt und die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies einmal durchgelesen hatte, war er dazu übergegangen, ihn abzuschreiben. Jeden Nachmittag beschrieb er eine Tafel und vor dem Schlafengehen las er das Geschriebene noch einmal durch, um es sich einzuprägen.

      Paulos freute sich über seinen Eifer. Phaistos hatte seit jenem Abend, an dem er die Kraft des einzig wahren Gottes erfahren hatte, wie Paulos es ausdrückte, keine Versammlung ausgelassen.

      „Wie war es?“,

      empfing ihn Kynthia, als er nach Hause kam. Sie hatte in seiner Küche auf ihn gewartet und stellte gerade einen Krug mit frischem Wasser auf den Tisch in der Mitte des Raums.

      „Erbaulich, wie immer.“

      Auch dieser neu erlernte Ausdruck gefiel ihm.

      „Warum bist du nicht mitgekommen?“

      „Ich weiß nicht.“

      Phaistos nahm den Wasserkrug, füllte sich einen Becher und ließ sich an dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums nieder. Kynthia setzte sich ihm gegenüber, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die Risse in der Tischplatte. Ob sie bereits dabei war, wie nicht wenige, den neuen Glauben wieder aufzugeben? Er zwang sich, sie direkt anzusehen.

      „Du glaubst doch noch an Iesoús?“, fragte er.

      „Ja“, antwortete sie sofort. „O ja, ich glaube, dass es ihn gibt. Und dass er göttlich ist, glaube ich auch. Wie könnte ich nicht? Ich war dabei, als Paulos dich heilte.“

      „Als Gott mich heilte. Durch Paulos.“

      „Jaja, das meinte ich doch.“

      „Aber?“

      „Aber dass es nur einen Gott geben soll? Ich weiß nicht.“

      „Du solltest öfter mit zu den Versammlungen kommen.“

      „Bruder, woher willst du so genau wissen, dass Paulos und Silas Recht haben? Dass die Götter, mit denen wir aufgewachsen sind, und unsere Eltern und unsere Großeltern; die Götter, denen man überall in der Stadt Tempel und Schreine errichtet hat; denen so viele ihr Leben geweiht haben –“ Kynthia legte ihre Hand auf seine und sah ihm direkt in die Augen. „Wie kannst du auf einmal so sicher sein, dass sie alle gar keine Götter sind?“

      Phaistos öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie legte die Hand auf seine und redete weiter.

      „Stell dir vor, du kommst nach deinem Tod in die Unterwelt und stehst plötzlich doch vor Hades.“

      „Da höre ich doch Kassandra reden.“

      Phaistos entzog ihr Blick und Hand. Warum ärgerte er sich über Kynthia? Hatte er sich nicht dieselben Fragen auch schon gestellt?

      „Und was, wenn sie Recht hat? Und Paulos nicht?

      Phaistos, auch andere sind schon geheilt worden. Sie haben aber Asklepios geopfert oder Apollon angebetet und wussten nichts von Iesoús.“

      Er sah ihr fest in die Augen. „Sie sind alle nichts, Kynthia. Ich weiß es. Ich hatte noch nie in meinem Leben über irgendetwas Gewissheit. Bis jetzt. Wenn Iesoús göttlich ist, - und das ist er, da sind wir uns ja einig – dann können es die anderen nicht sein. Keiner ist wie er.“

      Kynthia lehnte sich zurück, legte die Hände in den Schoß und richtete den Blick auf den Schein der Öllampe, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand.

      „Du hast dich verändert, Phaistos. Du bist mit einem Mal so stark geworden.“

      Stark? Er und stark? Nein, es erschien ihm allzu fremd, so von sich zu denken. Er schüttelte den Kopf.

      „Komm wieder mit in die Versammlungen, Schwester. Nikos hat doch nichts dagegen.“

      Nikos war einmal mitgekommen, gleich nach der Heilung.

      „Du darfst meinetwegen weiter mit Phaistos da hingehen“, hatte er auf dem Heimweg gesagt. „Irgendetwas scheint ja dran zu sein an dem, was sie sagen. Aber für mich ist das nichts.“

      Das war es. Nikos hatte ihn und Kynthia hin und wieder geneckt, so wie er Kassandra neckte, aber er stellte sich seiner Frau nicht in den Weg. Phaistos fragte sich manchmal, ob sein Schwager froh darüber war, dass Kynthia sich mit diesem Götterfirlefanz beschäftigte. Damit er am Ende seiner langen Arbeitstage mit seinem Freund Demetrios – kannte Phaistos einen größeren Sünder? – unbehelligt von ihren vorwurfsvollen Blicken „feiern“ konnte. Irgendeinen Grund für Ausschweifungen fand dieser Arzt immer. Aber nun konnte Kynthia nur noch schlecht etwas dagegen sagen. Schließlich ließ er ihr ja auch die Freiheit, mit Phaistos zu diesen Kultveranstaltungen zu gehen. Ob er heute auch wieder mit diesem schrecklichen Mann unterwegs war? Hatte Kynthia deshalb hier


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