Die Korinther. Nicole Kruska
seiner irre gewordenen Frau den Scheidebrief zu reichen. Nikos hörte seiner Mutter schon gar nicht mehr zu. Er hatte fast nur noch seine Arbeit im Kopf. Dennoch stand Kassandra zwischen den beiden, das war deutlich, auch wenn Nikos so tat, als ließe das Gezänke seiner Mutter ihn kalt. Phaistos überlegte sich, ob er Kynthia danach fragen sollte, aber sie kam ihm zuvor. Als hätte sie geahnt, was sonst gekommen wäre.
„Weißt du was!“
Phaistos schloss den Mund. Auch gut. Sicher wäre es kein angenehmes Gespräch geworden.
„Es ist wirklich an der Zeit, dass Danaë von alldem erfährt. Und Talaos und Lydias. Wir sollten sie zu uns einladen.“
Phaistos nickte langsam.
„Es wird bald Frühling. Sie wollten doch auf dem Weg nach Mégara ohnehin wieder hier vorbeikommen.“
Kynthia sah ihn prüfend an. Vermutlich zweifelte sie wieder einmal an Phaistos‘ Begabung zum Eheleben.
„Du willst sie doch immer noch heiraten, oder?“
Hätte er nur schneller nach Kassandra gefragt. Dieses Thema hasste er noch mehr. Er wusste einfach nicht, was seine Schwester von ihm erwartete. Die Vermählung lag noch weit in der Zukunft, und es war offenkundig, dass seine junge Verlobte dem Ereignis ebenso wenig entgegenfieberte wie er selbst.
„Ich werde sie heiraten, Kynthia. Ich habe mich immer an meine Versprechen gehalten und ich werde es auch weiterhin tun.“
Sie stand auf und ging zur Tür.
„Gute Nacht, Bruder“, sagte sie im Hinausgehen und er hob lächelnd und mühelos die linke Hand zum Gruß. Sie erwiderte sein Lächeln, empfand die Geste offenbar nicht als Beleidigung, nachdem er sie überzeugt hatte, dass an alldem Gerede über die schlechte, unglückliche linke Seite und ähnliche Dinge nichts, aber auch gar nichts dran sei. Gott hatte die Menschen mit einer linken und einer rechten Seite geschaffen, also waren beide Seiten gleich gut! Er musste sich zwar noch ein wenig an den Gedanken gewöhnen, aber er hörte Paulos und Silas gerne darüber reden, wie Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen hatte. Nachdem Kynthia gegangen war, blieb er noch ein wenig am Tisch sitzen. Er schob die Gedanken an Danaë beiseite und dachte über Kynthias Frage nach. Wie er sich so sicher sein konnte, dass Iesoús der einzige Gott sei. Und über seine Antwort. Ich weiß es einfach. War das nicht allzu schlicht? Nun, er würde wohl die Schriften noch eifriger studieren müssen. Eine derart einfältige Antwort gab er nicht gerne. Bevor er schlafen ging, nahm er, wie jeden Abend, eine seiner Wachstafeln aus dem Leinenbeutel, in dem er sie sammelte.
Gott schuf zwei große Lichter; das größere Licht für den Tag und das kleinere für die Nacht. Und Gott schuf auch die Sterne. Er setzte diese Lichter an den Himmel, damit sie die Erde erhellten, Tag und Nacht bestimmten und das Licht von der Finsternis unterschieden. Und Gott sah, dass es gut war. Und es wurde Abend und Morgen: der vierte Tag.
Phaistos ging zum Fenster und sah durch das Gitter in die Nacht. Noch leuchteten zahlreiche Fackeln in der Stadt. Er sah hinauf zum Akrokórinthos, der sich klar und streng gegen den abendlichen Himmel abzeichnete, sah über die Ausläufer der Stadt hinweg nach Westen, auf die Hügel der Korinthia, die sich an den Sternenhimmel schmiegten. Die Landschaft, die er schon so oft betrachtet hatte. Die einzige, die er kannte. Und die er nun ganz anders sah.
VI
Kynthia
Inzwischen waren einige Monate ins Land gegangen. Der Winter war vorüber, und der Prokonsul10 hatte den Geburtstag des Kaisers zum Feiertag ausgerufen. Niemand sollte arbeiten, der es nicht unbedingt musste.
„Wir feiern Taufe!“, hatte Priska strahlend den zehn Frauen verkündet, die sich jede Woche in der Wohnung der Zeltmacher trafen, während Aquila unten in der Werkstatt mit einer Gruppe von Männern über das Euangélion11 redete. „Die Gemeinde feiert ein großes Fest draußen am Fluss.“
Kynthia wusste es schon von Phaistos, und ja, sie wollte auch dabei sein. Gemeinsam mit ihrem Bruder wollte sie sich taufen lassen. Sie war so weit. Gleich nach der Versammlung würde sie es Priska sagen. Die Römerin umarmte Kynthia und küsste sie auf beide Wangen.
„Bring deine Familie mit! So ein Fest am Fluss, das ist doch etwas anderes als eine Versammlung in einem Haus. Ich werde dafür beten, dass sie sich einladen lassen.“
* * *
Kynthia lag auf dem Rücken neben Nikos im Bett, den Kopf auf ihrem Unterarm, starrte über ihn hinweg aus dem Fenster. Was sollte sie nur sagen? Die aufgehende Sonne färbte den Himmel über den Dächern des Nordmarktes zart orange.
Nikos, mir ist es sehr ernst mit meinem neuen Glauben. Ich möchte mich taufen lassen und wünsche mir, dass du bei dem Fest dabei bist. Das konnte doch so schwierig nicht sein!
Als Nikos sich bewegte, drehte sie sich schnell auf die Seite, heftete den Blick auf einen Riss im Putz an der Schlafzimmerwand. Sie würde schon noch die richtigen Worte und den richtigen Zeitpunkt finden.
„Was machst du morgen, Nikos?“, fragte Kynthia wie nebenbei, als sie später im Laden die Bestände prüften. Er zuckte die Schultern, sah auf seine Tafel und brummte:
„Wir könnten zum Meer gehen mit Leander. Und Mutter.“
Sie wusste, spürte genau, wie viel Überwindung ihn dieser Vorschlag kostete. Nikos hörte seiner Mutter schon gar nicht mehr zu, wenn sie über Kynthia schimpfte. Dennoch war zwischen ihnen nichts mehr wie früher. Kynthia hielt die Luft an. Nun konnte sie ja wohl schlecht vorschlagen, er solle seine Mutter zu Hause lassen und lieber mit ihr zur Tauffeier kommen.
„Zum Meer … das … hört sich gut an.“ Ihre Hände zitterten und sie stellte die Schüssel, die sie hielten, schnell zurück ins Regal.
„Ich … ehm.“ Sie zwang sich, ihn anzusehen. „Die Gemeinde feiert morgen Taufe. Am Fluss. Ich möchte mich auch taufen lassen.“
Er heftete den Blick auf den Stapel Amphoren zu seinen Füßen.
„Ja, dann musst du wohl dahin. Obwohl … Leander sich bestimmt gefreut hätte, wenn du mitgekommen wärst … ans Meer“, sagte er zu einem der Gefäße.
Was ist mit dir, Nikos, hättest du dich auch gefreut? Sag es, sag es, sieh mich nur an und sag es mit Blicken, aber sag es. Ich würde die Taufe verschieben. Paulos würde es gewiss verstehen. Vielleicht auch nicht, aber sei’s drum. Sag, dass du den Tag mit mir verbringen willst.
Immerhin, er sah sie an.
„Ich verstehe dich gut. Du hast es nicht leicht mit Mutter im Moment. Vielleicht haben wir wirklich alle mehr von dem Tag, wenn du ihn mit deiner Gemeinde feierst und wir drei allein zum Strand gehen.“
Kynthia schluckte.
„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst. Ich mache jetzt mit dieser Schüssel weiter.“
Sie nahm das feuchte Tuch von ihrer Arbeit, legte mit geschlossenen Augen beide Hände um den kühlen glatten Ton und blieb so stehen, bis sie aufhörten zu zittern. Dann arbeitete sie schnell, und es gelang ihr, sich in ihr Tun zu vertiefen. Am Abend war sie so erschöpft, dass einschlief, bevor Nikos ins Bett kam.
„Was ist mit dir, Schwester?“, fragte Phaistos, als er früh am nächsten Morgen neben ihr den Töpferhügel hinaufging. „Freust du dich nicht? Das wird ein wunderschönes Fest, du wirst schon sehen. Und der Herr segnet den Tag obendrein mit schönstem Sonnenschein.“
Sonnenschein! Es war Frühling! Was war daran ungewöhnlich? Wie konnte Phaistos sich darüber wundern, dass sie traurig war? Hatte er nicht einen Moment darüber nachgedacht, dass ihr Mann und ihr Sohn an ihre Seite gehörten? Vielleicht wäre er an ihrer Stelle nicht einmal auf die Idee gekommen, Nikos zu fragen. Ja, und vielleicht wäre das auch wirklich eine ganz dumme Idee gewesen. Gut, dass sie ihn nicht gefragt hatte.
Oben am Hügel wartete eine Gruppe von etwa zwanzig Geschwistern. Priska winkte ihnen schon von Weitem zu. „Kynthia!“, rief