Die Korinther. Nicole Kruska

Die Korinther - Nicole Kruska


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Umarmung und das herzliche Lächeln der älteren Frau zurückhaltend. Priska ließ ihren Arm auf Kynthias Schultern liegen, während sie weitergingen, auf dem breiten Kiesweg hinaus aus der Stadt in Richtung Hügel.

      „Du wirkst bedrückt, meine Liebe.“ Flüchtig ließ die Römerin den Blick über die Gruppe wandern. „Nikos und Leander sind nicht dabei, oder?“

      Kynthia schüttelte den Kopf und erzählte ihr von dem Familienausflug. Priska zog die Stirn in Falten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Kynthia, was sie an Priska so sehr störte. Von Anfang an war ihr die Nähe der Römerin unangenehm gewesen, aber warum? Priska war immer gut aufgelegt. Ja, gestand sie sich ein, das war es wohl, was ihr an der Frau missfiel: Priska schien alles zu gelingen. Wie schnell hatte sie gemeinsam mit Aquila in Kórinthos eine neue und sehr erfolgreiche Zeltmacherwerkstatt aufgebaut. Das lag wohl unter anderem daran, dass sich das Ehepaar in kürzester Zeit die griechische Sprache angeeignet hatte. Bestimmt trug Paulos in den Stunden der gemeinsamen Arbeit dazu bei. Priska schien wirklich alles mühelos von der Hand zu gehen. Wie selbstverständlich gehörte sie als einzige Frau zu Paulos‘ engsten Mitarbeitern. Kaum einer anderen Frau in der Gemeinde wäre das möglich gewesen, selbst wenn sie Priskas vorbildlich starken Glauben und ihre überragende Auffassungsgabe in sich vereint hätten. Nur an einem fehlte es ihr: Die Ehe der Zeltmacher war kinderlos geblieben.

      „Jetzt endlich sehe ich einen Sinn darin“, hatte sie den Frauen bei einer Versammlung unter Tränen anvertraut.

      „Als Mutter könnte ich dem Herrn nicht mit voller Kraft dienen. Nicht auf die Art und Weise, wie ich es jetzt tue, meine ich“, hatte sie hastig hinzugefügt. „Jede Mutter, die ihren Kindern das Wort Gottes mit auf den Lebensweg gibt, dient dem Herrn. Für mich hatte Gott andere Aufgaben im Sinn. Und jetzt, nach vielen Jahren der Bitterkeit, kann ich ihm von Herzen dafür danken.“

      „Mir geht es gut, Priska, mach dir keine Sorgen“, sagte Kynthia und war froh, als eine Frau vor ihnen einen Gesang anstimmte, der ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich zog und das Gespräch beendete. Nach wenigen Takten setzten weitere Sänger ein. Kynthia erkannte sofort die fröhlichen und gleichzeitig sehnsuchtsvollen Klänge der Musik des jüdischen Volkes und auch die hebräische Sprache würde sie inzwischen wohl unter anderen erkennen, obwohl sie die Worte nicht verstand.

      „Was singen sie?“

      „Gefällt dir das Lied? Es ist ein Psalmvers von König David für die Pilgerfahrt nach Jerusalem:

      Wie schön und wie wunderbar ist es, wenn Brüder einträchtig zusammenleben!

      Immer wieder fingen die Sänger von vorne an, immer mehr Geschwister stimmten in die Melodie ein, die einen kraftvoll, die anderen zaghaft, andere, wie Kynthia, summten zuerst nur die Melodie mit. Geschwister waren sie, alle miteinander. So sehr sie sich auch voneinander unterschieden mit ihren persönlichen Geschichten und denen ihrer Völker, ihren Eigenarten, ihren Muttersprachen: Alle gemeinsam priesen Gott für ihre Gemeinschaft. Nach und nach schien ihr Lobpreis die ganze Landschaft zu erfüllen. Schon lange waren sie nicht mehr alle zusammengekommen, und Kynthia hatte gar nicht gewusst, wie viele sie inzwischen waren. Natürlich hatte Priska ihnen erklärt, dass sie sich deshalb inzwischen bei den Zeltmachern und in anderen Wohnungen trafen, weil selbst die große Villa des Titius Iustus längst zu klein war, um alle aufzunehmen. Jede Woche betete Priska mit den Frauen in der Werkstatt für die Neubekehrten und schon oft hatte sie gestaunt, wie viele Namen genannt wurden. Einmal sogar zwanzig in einer einzigen Woche. Aber erst heute, da sie alle zusammengekommen waren, wurde ihr klar, wie groß die Gemeinde geworden war.

      „Wir sind sein auserwähltes Volk!“, betonte Paulos immer wieder. „Nicht mehr nur wir Juden. Durch Christos gehört ihr nun auch dazu!“

      Was für ein Gedanke! Kynthia ließ ihn in sich Raum greifen, atmete ihn tief ein mit dem Duft der Frühlingsblumen ringsum. Wir, ja wir alle. Handwerker, Kaufleute, Reiche, Griechen, Juden, Fremde. Daran, dass Sklaven unter ihnen waren, und zwar nicht, um zu dienen, sondern um gemeinsam mit ihnen den Herrn anzubeten, hatte sich Kynthia noch immer nicht gewöhnt, aber Paulos wurde nicht müde, es zu sagen: Sie alle gehörten zusammen, keiner war besser als der andere, sie alle waren Kinder Gottes! Anfangs war ihr die Vorstellung schwergefallen. Sie, Kynthia, die Töpferin, ein Kind Gottes! Immer wieder hatte sie darüber nachgedacht, hatte versucht zu verstehen, was Paulos damit meinte. Heute, zum ersten Mal, begriff sie es, ohne darüber nachzudenken. Hier, mitten in den frühlingsgrünen Hügeln der Korinthia, erklang der Lobpreis der Kinder des Einen. Das Lied breitete sich in ihrer Seele aus, erfüllte sie von Kopf bis Fuß und mit ihm die Gewissheit: Gott, der große Gott, der einzig wahre Kyrios, der Herr der Herren, hat mich zu seinem Kind gemacht. Sie spürte Freude, echte, tiefe Freude. Alle diese Menschen hier waren ihre Geschwister! Nicht nur Phaistos, alle. Wie es ihr auch immer gehen würde: Sie war nicht allein. Jetzt summte sie nicht mehr. Sie sang aus voller Kehle wie schon sehr, sehr lange nicht mehr.

      Die Gemeinde wanderte noch ein ganzes Stück, bis endlich der Fluss in Sicht kam. Kynthia blieb stehen und betrachtete das schmale Band, das sich von Nemea herunter in Richtung Golf schlängelte. Würde sich wohl irgendetwas ändern nach der Taufe? Würde sie Iesoús dadurch näherkommen? Sich immer wie seine Jüngerin fühlen, so wie jetzt in diesem Augenblick? Würde sie ab heute nie wieder daran zweifeln, dass es richtig war, ihm zu folgen?

      * * *

      Die Geschwister, die zuerst am Fluss angekommen waren, hatten im klaren Wasser schon eine nicht zu seichte Stelle ausgemacht und sich am Ufer niedergelassen. Inzwischen stand die Sonne hoch darüber und ließ ihre Strahlen über die Wellen wandern. Kynthia holte tief Luft. Sie hatte ihr ganzes bisheriges Leben in Kórinthos verbracht, kannte aber diesen Teil der Korinthia nur vom Hörensagen, denn auf dieser Seite gab es weit und breit keine Töpferschlammgrube. Die Stadt mit ihrem Lärm und ihren Gerüchen war weit weg. Der Duft von Blüten war an ihre Stelle getreten, den Blüten der wilden Blumen und der Zitrus-, Oliven- und Weinplantagen. Das Gras war jetzt im Frühling noch grün, nicht braun und von der Sonne verbrannt. Kynthia zog die Sandalen aus, schloss die Augen und genoss das Kitzeln der weichen Halme unter den Sohlen und zwischen den Zehen.

      Der Klang vertrauter Stimmen ließ sie die Augen öffnen. Nicht weit entfernt standen Paulos, Silas und Timotheos und unterhielten sich gestenreich. Vermutlich planten sie den Ablauf der Taufe. Etwa fünfzig Geschwister wollten sich heute taufen lassen. Dennoch, das hatte er längst klar gestellt, überließ Paulos seit ihrer Ankunft das Taufen ganz den beiden jüngeren Männern. Wer von den beiden sie wohl taufen würde? Silas? Kynthia musste sich eingestehen, dass sie sich das wünschte. Sie hatte nichts gegen Timotheos, ganz und gar nicht, aber er war im Vergleich zu Silas und Paulos doch recht kühl und zurückhaltend. Sicher, er war noch sehr jung, jünger als Kynthia selbst, und gerade im Umgang mit Frauen recht unsicher. Sie dachte daran, wie seine Gesichtszüge allmählich weich wurden, wenn er die Gemeinde im Lobpreis anleitete. Wenn er sang, vergaß er vielleicht, darüber nachzudenken, was man vom ihm erwartete. So ging es ihr manchmal beim Töpfern, wenn die Zeit nicht drängte. Ganz gleich, ob sie an der Drehscheibe eine einfache Schüssel herstellte oder das Material zu einer Statue aufbaute, bei der es auf Feinheiten ankam: Hin und wieder vergaß sie den Auftraggeber und seine Anforderungen und versank ganz in ihrem Tun, spürte den feuchten Ton an ihren Händen und nahm wahr, wie er unter ihrem Druck seine Form veränderte. Womöglich sah sie dann auch so entspannt aus wie Timotheos, wenn er Psalmen sang. Sie zuckte zusammen, als sie den Blick des jungen Mannes auf sich spürte, freundlich aber fragend. Sie musste ihn angestarrt haben. Was mochte er jetzt von ihr denken? Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, nickte ihm lächelnd zu, was er erwiderte, und lenkte den Blick aufs Wasser.

      „Grüß dich, Kynthia!“

      Sie fuhr herum und ließ den Blick an der schlanken Figur der Sprecherin mit der jungen Stimme hochwandern.

      „Danaë! Talaos, du auch!“ Sie sprang auf und fiel den beiden um den Hals. Danaë hakte sich bei Talaos ein und seufzte.

      „Sie haben auf mich eingeredet, er und Papa, dass ich mich un-be-dingt taufen lassen soll. Wegen Phaistos. Weil sich das so gehört, meinen sie, dass eine Braut dieselben Götter verehrt wie ihr zukünftiger Mann. Da habe ich gesagt, lieber Bruder, wenn du dich taufen lässt, mache ich mit.


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