Untergärig und Dunkel. Horst Dornbusch
in der Tat doppelt so viel Getreide ernteten, als sie konsumieren konnten. Somit standen die Sumerer zum ersten Mal vor einem Problem, welches den Nomaden in der Urzeit vollkommen unbekannt war, nämlich der Frage, wie man überschüssige Körner als Rücklage gegen Missernten aufbewahren kann, ohne dass sie verderben. Diese neue Problematik führte schließlich zu zwei umwerfenden neuen Errungenschaften in der Lebensmittelverarbeitung, dem Backen und dem Brauen! Diese beiden Künste der Haltbarmachung von Getreide gelten heute als wichtige Triebkräfte der menschlichen Evolution, denn sie trugen damals dazu bei, uns als kulturelle Kreaturen zu definieren.
Die gesellschaftsbildenden Auswirkungen des Getreideüberschusses
Mit der Sesshaftigkeit und der relativ gesicherten Versorgung mit Nahrungsmitteln änderte sich auch das soziale Gefüge der Sumerer. Allmählich entwickelten sie neue Wege der Zusammenarbeit in allen Lebensbereichen. So kooperierten sie bei Gemeinschaftsprojekten wie der Trockenlegung von Feldern und der gezielten Bewässerung, um reichliche Ernten zu erzielen. Gleichfalls entwickelten sie die soziale Arbeitsteilung und die berufliche Spezialisierung, welche nicht nur zu einer Erhöhung der kollektiven Produktivität, sondern auch zur Grundlage einer wirtschaftlichen und sozialen Schichtung führte.
Sobald die Sumerer nicht mehr von der Hand in den Mund lebten, wuchsen ursprünglich zerstreute Wohnstätten zu organisierten Wohngruppen im Umkreis öffentlicher Plätze und Gemeinschaftseinrichtungen zusammen. Das sesshafte Zusammenleben förderte die Entwicklung sozialer Normen und Bräuche, sowie religiöser Rituale und Praktiken. Es bildeten sich ganze Städte als Wirtschaftsund Kulturzentren mit Planungs- und Verwaltungsspezialisten sowie einer damit verbundenen politischen Machtverteilung. All diese soziologischen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen führten dazu, dass spätestes um 3500 v. Chr. die Jungsteinzeit in Mesopotamien in die Bronzezeit überging.
Als die sumerische Gesellschaft immer komplexer wurde, brachte sie auch immer mehr wegweisende Innovationen hervor. So entwickelten die Sumerer handwerkliche Manufakturen wie Webereien, Gerbereien, Ziegeleien, Kupferschmelzen und Töpfereien; und mit der Einführung der Töpferscheibe gab es endlich ausreichende Mengen an Tonbehältern, die für viele Zwecke, einschließlich der Herstellung und Lagerung von Bier, verwendet werden konnten. Allmählich etablierte sich das Konzept des Privateigentums, was ein Rechtssystem zur fairen, gewaltlosen Beilegung von Streitigkeiten nach sich zog. Das wiederum brachte die Notwendigkeit einer Schrift zur Aufzeichnung urkundlicher Vereinbarungen mit sich sowie deren Bewahrung in öffentlichen Archiven. Bereits um 3000 v. Chr. – also etwa zeitgleich mit der Einführung des Wagenrades – entwickelten die Sumerer das älteste uns bekannte Schriftsystem, die Keilschrift. Die Zeichen waren eine Weiterentwicklung von Piktogrammen und anderen Symbolen, die Handelswaren und Vieh darstellten. Umso mehr sich die Sumerer auf die Erzeugung, Lagerung und Verteilung ihrer pflanzlichen und tierischen Lebensmittel sowie ihrer handwerklichen Produkte konzentrierten, umso mehr führte schließlich der Handel zu den Anfängen einer Geldwährung, die den Tausch als Bewertungsmethode im Waren- und Dienstleistungsverkehr ersetzte.
Die sumerische Art des Brauens
Aufgrund des Funds einer Tontafel mit Keilschriftzeichen von etwa 1800 v. Chr. haben wir eine Vorstellung davon, wie die Sumerer Bier herstellten. Archäologen haben die Schrift als Ode entschlüsselt, der sie den Titel „Hymne an Ninkasi“ gaben. Im sumerischen Jenseits war Ninkasi die Hauptgöttin. Ihr Name bedeutet "diejenige, die die Münder der Götter (mit Bier) füllt“. Ninkasi war für die Fruchtbarkeit, die Erotik, das Getreide und damit auch für das Bier verantwortlich, weshalb einer der angesehensten Berufe im blühenden sumerischen Gesellschaftsgefüge der Brauer war – oder besser gesagt, die Brauerin, denn die meisten sumerischen Bierhersteller waren Frauen. Nicht nur war Brauen bei den Sumerern primär Frauensache, sondern auch das Führen von Kneipen.
Diese mesopotamische Tontafel von etwa 3100 bis 3000 v. Chr. ist heute im Britischen Museum in London zu sehen. Die Keilschriftzeichen wurden auf nassem Ton mit einem Stift aus Schilf eingeritzt, bevor die Tafel in der Sonne getrocknet wurde. Experten interpretieren die Zeichen als eine Auflistung täglicher Gerstenbierrationen für Tempelarbeiter.
Die Hymne an Ninkasi leitet uns Schritt für Schritt durch die Herstellung mesopotamischer Biere. Die Sumerer verwendeten praktisch alle ihnen verfügbaren Getreidesorten – wahrscheinlich vornehmlich Gerste und Dinkel, aber auch dessen genetische Vorläufer, Emmer und Einkorn. Mit diesen Cerealien buken sie Bappir, eine Art von ungegangenem, hartem Zwieback, den man gut lagern konnte, ohne dass er verschimmelte. Nach unserem besten Verständnis stellten die Sumerer ihre Biere aus einem Gemisch aus eingeweichtem Bappir-Brot und luftgetrocknetem und damit hellem Grünmalz verschiedener Getreidesorten her. Enzyme waren den Sumerern natürlich unbekannt, jedoch verstehen wir heute, dass die aktiven Malzenzyme in diesen Mischmaischen sowohl die Getreide- als auch die Bappir-Stärken in vergärbare Zucker umwandelten – genauso wie selbst heute noch moderne Großbrauereien in vielen Ländern die Stärken von Malzersatz-Produkten wie Reis- und Maisflocken mit Hilfe von Enzymen sechszeiliger Gersten abbauen.
Manchmal veredelten die Sumerer ihre Maischen auch geschmacklich mit Trauben, Datteln und Honig, also mit Zutaten, welche bestimmt lebhafte Kolonien von S. cerevisiae beherbergten. Die Sumerer kochen ihre Maischen offenbar nicht und läuterten sie auch nicht ab. Stattdessen wurden die kompletten Maischen in großen Töpfen vergoren. Am Ende der Gärung zogen die Sumerer einfach die nun alkoholische Flüssigkeit aus der Maische über einen Spund am Boden des Gärbehälters in Amphoren ab. Dabei blieben das ausgelaugte Malz und die Bappir-Überreste als Treber zurück. Das fertige Bier, welches bestimmt trübe und kaum rezent war, tranken die Sumerer dann mit langen Strohhalmen direkt aus den Amphoren.
Es gibt praktisch keine Zutaten oder Verfahrensweisen, die bei dieser sumerischen Bierherstellung als Farbquellen hätten dienen können, mit Ausnahme vielleicht der zugegebenen Früchte oder einer kleinen Portion schwarzer Gerste, von der bekannt ist, dass sie in der Antike im Fruchtbaren Halbmond (wie auch am Ufer des Nils in Ägypten) angebaut wurde. Schwarze Gerste konnte jedoch in den Brauhäusern der Menschheit nicht Fuß fassen – nicht wegen Darwins Theorie der natürlichen Selektion, sondern wegen der praktischen Auswahl der Brauer. Schwarze Gerste ist nackt, das heißt, sie ist spelzenlos. Daher stammt auch ihr wissenschaftlicher Name, Hordeum vulgare nudum. Eine Maische aus spelzenlosem Getreide hat jedoch den Riesennachteil, dass man sie kaum effizient abläutern kann. Aus allen uns überlieferten sumerischen Quellen können wir daher schließen, dass die meisten antiken Biere im Fruchtbaren Halbmond mit großer Wahrscheinlichkeit helle Biere waren. Diese waren auch ungehopft, denn die Entdeckung des Hopfens als Bierzutat war eine Errungenschaft der mittelalterlichen Klosterbrauer in Mitteleuropa. Weiterhin ist es nicht sicher, welchen Alkoholgehalt sumerische Biere hatten, aber es gab bestimmt eine große Streuung dieser Variable, je nachdem bei welchen Temperaturen die Maischen zufällig angestellt und damit die entsprechenden stärke-konvertierenden Enzyme aktiviert wurden.
Dieses Modell einer altägyptischen Bäckerei-Brauerei kurz nach 2000 v. Chr. wurde im Grab von Meketre, einem hohen Beamten im alten Ägypten gefunden.
Die Ausbreitung der sumerischen Braukunst
Auch die Ägypter waren frühe Brauer; und es ist wahrscheinlich, dass sie spätestens zum Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. die Braukunst den Sumerern abgeschaut hatten. Sie brauten genau wie die Sumerer sowohl mit Brot als auch mit gemälztem Getreide, was zahlreiche Darstellungen des ägyptischen Brauens auf Wandgemälden in Gewölben, Pyramiden und Opferkammern aus der Pharaonenzeit zu bestätigen scheinen. Ein besonders aufschlussreiches Artefakt über das ägyptische Brauen stammt aus dem Grab von Meketre, einem Hofverwalter unter König Mentuhotep