Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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nehme ich die Stufen ins Freie. Den Koffer ziehe ich hinterher. Mondlicht fällt auf den Schnee. Der Wald hinter den Wohnsilos ist schwarz, der Himmel leer und kalt.

      Zweifelnd denke ich, dass der Winter nicht gerade die ideale Jahreszeit ist, um von zu Hause fortzugehen. Aber man geht ja fort, wenn einem danach ist. Und nicht etwa, wenn das Wetter gerade schön ist.

      Solveig wartet wie verabredet.

      »Emelie!«, begrüßt sie mich.

      Sie ist die Einzige, die »Emelie« auf der letzten Silbe betont. Mit einer Bewegung greift sie nach dem Koffer, mit der anderen nimmt sie mich an die Hand.

      Solveig hat mich beim Kinderarzt kennengelernt. Da ist sie als Arzthelferin beschäftigt. Das ist jetzt mehr als zwölf Jahre her. Sie weiß alles über meine Krankheit. Der Arzt war damals ratlos. Die eigentliche Diagnose stammt von ihr.

      Sie sieht mich an. Ihr Blick zeigte vom ersten Moment an keine Abscheu. Kein Entsetzen. Nicht einmal Verwunderung.

      In dieser Nacht lässt mich Solveig in ihrem großen Bett schlafen. Vorher zeigt sie mir, dass der Himmel nicht leer ist. Wir löschen das Licht.

      Ich sehe durch das riesige Teleskop auf ihrem Vorstadtbalkon. Die Kälte hat den Nebel aufgesogen. Ich blicke in eine klare Februarnacht. Es ist das Jahr 2016. Am Südhimmel zeigt sie mir das große Wintersechseck um den Himmelsjäger Orion. Sie sagt mir, wie ich den drei Gürtelsternen nach links unten folge. So träfe ich auf den Großen Hund mit dem hell funkelnden Sirius.

      Ich lausche ihren leisen, fast geflüsterten Anweisungen. In der Gegenrichtung nach rechts oben erreiche ich den Stier mit dem rötlichen Aldebaran. Noch ein Stück weiter trifft mein Blick auf die Plejaden. Hoch im Osten leuchtet Jupiter. Im Nordosten balanciert der Große Wagen jetzt auf der Deichselspitze. Es ist so schön, dass ich nichts sagen kann. Auch weil es spät ist, reden wir nicht mehr. Solveig sagt sowieso, ich solle nicht nur reden. Reden sei wichtig. Aber noch wichtiger wäre es, alles aufzuschreiben.

      Ich frage sie nicht, für wen das wichtig sei. Am liebsten würde ich die Zeit mit ihr so verbringen, dass ich bei dem Gedanken daran nicht darauf käme, dass überhaupt Zeit vergangen ist.

      Als ich am nächsten Morgen erwache, sitzt sie bereits bei mir. An ihrem Blick sehe ich, dass sie schon lange dort wartet. Sie erzählt mir, was ich ihrer Meinung nach für die bevorstehende Reise alles wissen muss.

      »Solveig«, sage ich. »Ich bin doch nur drei Tage fort«. Das ist nicht die Wahrheit. Trotzdem kann ich sie ansehen, ohne dabei rot zu werden.

      »Aber du bist erst sechzehn«, entgegnet sie.

      »Schon sechzehn«, korrigiere ich.

      »Du hast recht«, sagt sie.

      Einen Augenblick lang ist es ganz still. Wir sehen uns an und wissen beide nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wir entscheiden uns für das Lachen.

      Solveigs Lachen ist hell. Es klingt nach den Windspielen, die mein Vater überall in unserem kleinen Schrebergarten in den Zweigen angebracht hatte, als ich ganz klein war. Mein Vater hat uns verlassen. Die Windspielzeuge sind geblieben. Und es klingt nach einem bestimmten Wind, der manchmal an einem Frühlingstag durch die Wipfel der Bäume streicht.

      Bei uns in Deutschland tragen die Winde keine Namen. Das ist schade, denn sonst hätte Solveigs Lachen jetzt einen Namen.

      »Wirst du deine Medikamente nehmen?«

      Ich nicke. Der Tag ist noch nicht alt und das ist jetzt bereits die zweite Lüge.

      »Du hast noch Zeit. Ruh dich aus«, sagt Solveig. Zwei Minuten später bringt sie mir doch das Telefon. »Deine Mutter«, flüstert sie verschwörerisch.

      Ich stelle mein Hörgerät lauter. Es ist das letzte Mal, dass ich mit meiner Mutter spreche. Sie kann es nicht wissen. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ich setze mich auf.

      Angestrengt sehe ich aus dem Fenster. Solveigs Wohnung liegt im achten Stock. Ohne Aufzug würde ich das nicht mehr schaffen. Der frühe Tag hat ein perlmuttfarbenes Licht angenommen. Heute erscheint mir der Blick über die Stadt, als ob man auf eine Leinwand sehen würde. Das Licht trifft Häuser und Straßen nicht von außen, sondern leuchtet aus deren Tiefe. So, wie auf einer Fotografie.

      Ich greife zu meiner Kladde. Mit zitterndem Stift schreibe ich auf, was ich bis hierher für meine Geschichte halte. Doch wozu? Meine Mutter hat mal gesagt, an der Vergangenheit hängt nur, wer keinen Mut für die eigene Zukunft hat.

      Ich weine lautlos.

      Am Tag meiner Geburt, am 11. August 1999, hörten plötzlich, mitten am Tag, die Vögel auf zu zwitschern. Die Blumen schlossen ihre Kelche. Ein kühler Wind wehte über das Land. Es herrschte augenblicklich finstere Nacht. An diesem Tag verfinsterte der Mond zum letzten Mal in dem Jahrtausend die Sonne. Durch die Bewegung des Mondes und der Erde raste der Schatten des Mondes mit einer Geschwindigkeit von maximal 7200 Kilometer pro Stunde über die Erdoberfläche. Zum ersten Mal seit 1706 verfinsterte sich die Sonne über Deutschland.

      Die alten Isländer glaubten übrigens, dass bei einer totalen Sonnenfinsternis ein Ungeheuer den roten Feuerball verschlingt.

      Nachdem der Schatten des Mondes von 11:30 Uhr bis 12 Uhr fast über den gesamten Nordatlantik gefallen war, erreichte er Deutschland um 12:30 Uhr. Um 12:33 Uhr wurde ich in Stuttgart geboren. So hat es mir meine Mutter erzählt.

      Ich konnte es später nachlesen, da sie alle Zeitungsberichte zu diesem Ereignis aufgehoben hatte. Ich weiß nicht, ob das ein schlechtes Zeichen war. Außerdem verlief meine Geburt ohne Komplikationen.

      Meine Eltern waren beide Anfang dreißig. Ihre Arbeitszeit als Hebamme hatte meine Mutter schon bald nach meiner Geburt reduziert.

      Mein Vater war Fotograf. Außerdem schrieb er Bücher. Er arbeitete viel. Meiner Familie ging es nicht schlecht. Wir wohnten damals in einer schönen Wohnung in Stuttgart-Kräherwald.

      Über die ersten zwölf Monate meines Lebens kann ich nicht viel sagen. Meine Mutter hat darüber nichts aufgeschrieben.

      Aufgrund der Ereignisse, die dann in mein Leben und damit auch in das meiner Familie traten, hatte sich meine Mutter wohl angewöhnt, eine Art Tagebuch zu führen. Ich möchte es einmal so ausdrücken: Ich hatte Gelegenheit, es vor meiner Abreise zu lesen. Damit möchte ich nicht sagen, dass das, worüber ich berichte, auch meine Sicht der Dinge ist. Es zeigt, wie meine Mutter die Ereignisse sieht. Bevor ich dann, im Alter von sieben Jahren, selbst angefangen habe, ein Tagebuch zu führen. Ein Heft für jedes Jahr.

      Irgendwann wusste ich, dass diese Sammlung klein bleiben würde. An meinem sechzehnten Geburtstag habe ich mein vermutlich letztes Buch begonnen.

      Aber man weiß nie.

      Ich schien ein ganz normales Kind zu sein, schrieb meine Mutter. Allerdings hatte ich schon nach einigen Wochen eine Blutinfektion. Meine Haut war plötzlich dünn und trocken. Ich aß nicht und nahm nicht zu.

      Als ich ein Jahr alt war, ernährte man mich über eine Nasensonde. Fünfmal am Tag 200 Milliliter. Meist erbrach ich mich nach den Mahlzeiten. Natürlich machten sich meine Eltern Sorgen. Immer und immer wieder wurde ich untersucht. Meine Mutter schrieb, dass sie sich oft die Ahnungslosigkeit dieser Zeit zurückwünsche. Die Sorge sei leichter zu ertragen gewesen als die Wahrheit.

      Unser Kinderarzt war ratlos. In der Klinik wusste man nicht weiter. Meine Haut wurde immer rauer und trockener. Deutlich konnte man die Venen darunter sehen. Ich war sehr mager. Mein Gesicht war klein. Die Nase ragte daraus hervor wie der Schnabel eines Vogels.

      Ich wuchs nicht. Mein Haar war fadendünn. Ich hatte nur ganz wenige feine, lange Haare, und sie fielen mir aus.

      Und eines Tages nahm Solveig in der Arztpraxis meine Mutter zur Seite. »Ihr Kind hat eine sehr ernste Krankheit«, sagte sie zu ihr. Sie zeigte ihr verschiedene Bilder. Dann überreichte sie meiner Mutter eine umfangreiche Mappe mit Unterlagen.

      Während eine Arzthelferin auf mich aufpasste,


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