Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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      EMELIE. WENN MICH jemand bei meinem Namen nennt, sollte ich eigentlich reagieren. Das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht habe ich durch ein Nicken des Kopfes angezeigt, dass ich verstanden habe.

      Vielleicht habe ich ein Ja gemurmelt. Vielleicht schaue ich mein Gegenüber so an, dass er oder sie denken muss, ich höre zu. Vielleicht laufen wir schon längst durch das Treppenhaus. Oder sitzen in Solveigs Wagen, auf dem Weg zum Busterminal. Das Wort Emelie hallt in meinem Kopf. Es übertönt alles.

      So wie das Rauschen in meinen Ohren. Vielleicht kommt das vom Blutdruck. Oder den Medikamenten. Oder weil ich viel zu lange versucht hatte, wie eine Muschel zu leben.

      Das Rauschen, das beständig in meinen Ohren tönt, erinnert mich an eine Geschichte, die mir meine Mutter einmal erzählt hat. Ich hatte ein Bild in der Zeitung gesehen. Es faszinierte mich gleich, und ich hatte mit den Händen darauf gezeigt. »Was ist das?«, fragte ich sie.

      Die Fotografie zeigte eine Muschel. Ihre Haut war weißlich bis bräunlich mit dunkler, schwärzlicher Außenhaut und konzentrisch feinen Riefen. Die Schale war dick und rund. Vor der Mitte trug sie nach vorne weisende Wirbel.

      »Das ist das älteste Lebewesen der Welt, Emelie. Eine Islandmuschel.«

      Meine Mutter wollte früher einmal Meeresbiologin werden.

      »Islandmuscheln leben dicht unter dem Meeresboden eingegraben. Du findest sie in etwa zwanzig bis vierhundert Metern Wassertiefe.«

      »Wie alt werden sie?«

      »Na, die hier ist fünfhundertsieben Jahre alt.«

      Ungläubig sah ich sie an.

      »Man kann das so genau feststellen«, beeilte sie sich zu erklären«, weil die Muschelschalen solche Jahreslinien oder Tageslinien bilden. Du kannst dir das als eine Art Kalender vorstellen. Diese Muschel hat eine biologische Uhr wie wir auch. Warum wachen wir morgens auf und warum werden wir abends müde? Bei der Islandmuschel ist der Auslöser für das jährliche Unterbrechen des Wachsens der Schale die Temperatur im Meer. Wenn sie am höchsten ist, hört die Muschel auf zu wachsen. Sie zählt die Tage nach dem Temperaturmaximum und gibt dann Eier und Spermien ins Wasser ab. Die Schalen der Muscheln verraten den Forschern alles.«

      »Werden alle Muscheln so alt?«

      »Nein. Nur ganz wenige. Die Fischer zerstören die meisten mit ihren Schleppnetzen. Aber ihre Schale kann Millionen Jahre alt werden.«

      »Können wir nicht von der Muschel lernen und auch viele Jahrhunderte alt werden?«

      Meine Mutter lachte. »Bloß nicht. Nein, so einfach ist das nicht. Die Islandmuschel«, erklärte sie mir, »nutzt das Atmen gleich zum Fressen. Sie hat Kiemen. Und aus dem Wasser, das da durchströmt, filtert sie ihre Nahrung. Manchmal graben sie sich tagelang in den Schlamm auf dem Meeresgrund ein. Dabei sinkt die Frequenz ihres Herzschlags auf ein Zehntel. Die Islandmuschel hat sogar einen Fuß, mit dem sie sich gern im Meeresboden verankert. Dann wartet sie. Oft Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Das können wir nun mal nicht, Emelie.«

      Später musste ich noch oft an dieses Gespräch denken. Ich stellte mir vor, dass diese Muschel, deren Bild in der Zeitung abgedruckt war, schon lebte, als Vasco da Gama 1499 den Seeweg nach Indien fand. Die Muschel hatte den Dreißigjährigen Krieg überlebt. Sie war ein Zeitgenosse Goethes. Sie blieb von den Wirren der Französischen Revolution verschont. Sie hatte zwei Weltkriege überstanden. Vielleicht war ihr Erfolgsrezept, dass sie einfach abtauchte, wenn man sich ihr näherte. In unregelmäßigen Abständen schloss sie ihre Schale und grub sich in den Untergrund. Irgendwann tauchte sie wieder auf. Und sah immer noch genauso aus wie vorher.

      Das ließ mir keine Ruhe. Ich las alles über arctica islandica, was ich irgendwo finden konnte. Ich sehnte mich danach, ihre porzellanartige Schale zu berühren. Ich wollte sie unbedingt nur einmal sehen, das älteste höher entwickelte Lebewesen der Welt.

      Ich erzählte der Biologielehrerin von meiner Entdeckung. Sie freute sich, dass ich mich für ihr Fachgebiet interessierte. Sie setzte sich nach dem Unterricht mit mir vor das Aquarium. Erst jetzt bemerkte ich, dass hinter den hohen Glaswänden nicht nur Fische schwammen. Im Sand waren auch Muscheln vergraben.

      »Muscheln sind einfach überall«, erklärte sie mir. Je nach Standort liefern sie uns wichtige Informationen darüber, wie sich das Klima entwickelt. Sie zeichnen Vulkanausbrüche auf Island oder einen Hurrikan in Amerika auf. Stell dir vor, sie können uns sogar verraten, ob die frühen Indianervölker an der kanadischen Westküste Muscheln bei Vollmond oder Neumond gesammelt haben! Und bei Umweltverschmutzung wachsen ihre Schalen langsamer, denn Muscheln sind äußerst empfindlich.«

      »Aber ist das nicht ziemlich langweilig? Das ganze Leben im Schlick zu verbringen, Wasser zu filtern und zu hoffen, dass einen kein Fischer fängt?«

      »Tja, Emelie. Das ist genauso wie bei uns Menschen. Der erste Eindruck täuscht. Während die Muschel im Schlamm ist, vollbringt sie Unglaubliches.«

      Meine Lehrerin fügte an dieser Stelle eine effektvolle Pause ein.

      »Sie hat ihre Alterung aufgehalten. Wenn die Muschel ihre Schale schließt, bekommt sie keinen Sauerstoff mehr. Du kannst dir vorstellen, dass das für die meisten Tiere ein Todesurteil wäre. Für diese Muschel ist es eine Verjüngungskur. Denn die Islandmuschel kann ihren kompletten Stoffwechsel – du erinnerst dich an den Unterricht vor den Ferien? – umstellen. Und zwar so, dass sie ohne Sauerstoff auskommt.« Sie sah mich einen Augenblick nachdenklich an. »Was vielleicht noch ganz interessant ist, in dieser Phase kann auch nichts ihr Erbgut schädigen.«

      »Da kann man ja neidisch werden.«

      »Könnte man. Aber auch für Islandmuscheln ist das Leben nicht immer gerecht. Denn vor der Küste von Island können die Tiere durchaus mal zweihundert Jahre und älter werden. In der Ostsee dagegen wird kein Tier älter als vierzig. Daran siehst du, dass die Herkunft über das Schicksal der Muscheln entscheidet.«

      »Das heißt, wenn man ganz alte Muscheln finden möchte, muss man nach Island.«

      Meine Lehrerin lachte. »Vermutlich. Die Ostsee ist einfach ein noch junges Meer, in dem Salzgehalt und Temperatur schwanken. Für die Islandmuscheln bedeutet das Stress. Sie lieben aber die Geruhsamkeit.«

      »Lebt die Muschel allein?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sie lebt in Kolonien mit vielen tausend anderen Muscheln. Allerdings bleibt jede Muschel in der Masse für sich allein, zwischen ihre beiden Schalen geklemmt. Und sie pflanzt sich ungeschlechtlich fort.«

      »Isst sie auch jeden Tag dasselbe?«

      »Tagein, tagaus Zooplankton.«

      Die Schulglocke klingelte. Ich war schon an der Tür, als ich mich noch einmal umdrehte. »Ist nicht unbedingt toll, so lange zu leben, oder?«

      »Für uns Biologen schon, Emelie. In der Schale der Muschel lesen wir wie in einem Buch aus alten Zeiten.«

      Ich las alles über arctica islandia. Ich versuchte, möglichst lange und überall zu schlafen, tief eingegraben in Kopfkissen und Bettdecken. Als könnte ich den Verlauf meiner Krankheit aufhalten. Viele Wochen lang versuchte ich, wie die Muschel zu leben. Zumindest das Rauschen in meinen Ohren konnte ich hören. Offenbar enthielt ihre Art zu existieren doch das Geheimnis ewiger Jugend. So erschien es mir jedenfalls.

      »Emelie«, sagte meine Mutter eines Tages zu mir, »du solltest das lassen. Du bist nun mal keine Muschel.«

      »Warum werden wir überhaupt älter?«, fragte ich sie.

      »Es ist nun mal eine Tatsache, dass jedem physischen Organismus ein Ende gesetzt ist. Auch deine Muschel hat kein ewiges Leben. Es ist eine Tatsache, dass wir alt und krank werden und sterben. Und wenn man älter wird, bemerkt man, welche Probleme das mit sich bringt. All das Hässliche. Und wie man mit zunehmendem Alter immer teilnahmsloser und unsensibler wird. Vielleicht merkst du«, fügte meine Mutter an und lachte, »dass ich über Großmutter spreche. Das Alter wird zum Problem, wenn man nicht zu leben versteht. Vielleicht hat man auch nie


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