Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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habe. Sie fragt und fragt.

      Ich bin erleichtert, dass der Fernbus pünktlich ist. Das Warten ist das Schlimmste. Dann starren sie dich an. Die Schüler zeigen mit dem Finger auf dich. Die Erwachsenen glotzen. Die religiös Getrösteten schenken dir mitleidige Blicke. Und die, die so tun, als wärst du normal für sie, bleiben mit ihren Blicken auf deiner Haut kleben, obwohl sie vorgeben, durch dich hindurchzusehen.

      Du selbst kannst nur so tun, als würde dich das alles überhaupt nichts angehen. Als wärst du beschäftigt. Ich sehe dann immer auf meine Armbanduhr. Oder auf die Tafeln mit den Busfahrplänen. Oder ich suche mir einen Punkt auf den Hausfassaden. Auf dem Asphalt der Straße. Irgendwie ist der Himmel immer zu hoch.

      Wenn ich abends in meinem Bett lag und daran zurückdachte, weinte ich. Meine Mutter bot mir immer wieder an, mich zur Schule zu bringen.

      »Du musst nicht mit dem Bus fahren, Emelie«, sagte sie. Aber eigentlich wollte sie sagen, dass ich mir das nicht antun müsse. Sie, die mich jahrelang versteckt gehalten hatte, glaubte zu wissen, was ich an den hundertfünfundneunzig Schultagen im Jahr auszuhalten hatte. Aber sie war ahnungslos.

      Der Fahrer starrt mich einen Augenblick fassungslos an. Er will etwas sagen, aber dann gibt er mir nur einfach schweigend das Ticket zurück.

      Ebenso wortlos schiebt er meinen Koffer in den Laderaum. Die beiden Studentinnen, die vor der Fahrertür warten, begrüßt er mit einem Spruch, von dem er glaubt, dass er besonders cool sei: »Also bei mir kann jeder sagen, was ich will.«

      Die Studentinnen lächeln gequält. Manche Leute, denke ich, muss man nur anschauen, um zu verstehen, warum es Klettverschlüsse für Erwachsenenschuhe gibt.

      Solveig besteht darauf, mich zu meinem Platz zu bringen. Wir steigen hinten ein. So brauche ich nicht durch alle Sitzreihen zu gehen. Die hinteren Plätze sind fast alle noch leer. Ich wähle einen Fensterplatz. Da der Sitz neben mir sowieso meist unbesetzt bleibt, kann der kleine Rucksack, den Solveig auf den Nachbarsitz stellt, dort bleiben. Darin sind meine Bücher. Mein iPad. Meine Medikamente. Und ein Vorratspack Granatapfelriegel.

      Solveig sieht mich zögernd an. Sie nimmt mich in den Arm. Sie flüstert mehr, als dass sie es sagt: »Pass gut auf dich auf, meine Kleine.« Dann verschwindet sie. Sie dreht sich nicht noch einmal um.

      Ich frage mich, ob sie etwas ahnt.

      Der Bus setzt sich in Bewegung. Es ist, als ob die Häuser, Parkplätze, Einkaufsmärkte und graufleckigen Parkanlagen wie auf einem Laufband an mir vorbeigezogen werden, während der Bus sich nicht von der Stelle zu bewegen scheint. Erst auf der Autobahn verschwindet diese Empfindung.

      Ich genieße das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Die hohen Sessellehnen schützen mich vor den Blicken der anderen. Das ist der Vorteil, wenn man nur einhundertfünfzehn Zentimeter groß ist.

      Über die Bildschirme flackert eine amerikanische Teenagerkomödie. Es ist stockfinster. Offenbar liegen zwei Teenager zusammen im Bett.

      »Ich liebe dich«, sagt der eine.

      »Ich dich auch.«

      »Ich begehre dich.«

      »Ich dich auch.«

      »Übrigens, ich heiße Ed.«

      »Ich auch.«

      Niemand lacht.

      Zweifel steigen in mir auf. Werde ich den Bus so einfach verlassen können? Wird der Junge, mit dem ich verabredet bin, auch wirklich da sein? Und was dann?

      Ich weiß, dass mein eigenes Leben langsam vor meinen Augen verschwindet. Ich muss an Jasper denken und daran, wie plötzlich er nicht mehr da war. Und nach einem Jahr ist es schon ein bisschen so, als wäre er niemals hier gewesen.

      Ich kann es sehen, wie auch mein Leben verschwindet. Aber noch bin ich da. Ich bin nicht nur da. Ich falle auf. Doch was unterscheidet mich von den Menschen, die den Anschluss an ihr eigenes Leben längst verloren haben? Die nichts mehr erkennen können? Am allerwenigsten sich selbst oder die anderen? Sind sie nicht auch längst verschwunden?

      Zumindest werden sie von niemandem mehr bemerkt. Vielleicht sind es einfach zu viele. Ein riesiges Heer Unsichtbarer.

      Man denkt, es sind immer nur die anderen. Man denkt nicht, dass einem das auch passiert. Plötzlich die Arbeit zu verlieren. Den Freund oder die Freundin. So krank zu werden, dass einen nichts auf der Welt mehr gesund machen kann. Über Nacht alt zu werden. Von einer Minute auf die andere allein zu sein.

      Und wie macht man dann aus Unsichtbaren wieder Menschen, die einander plötzlich sehen, fühlen und vielleicht sogar verstehen können?

      Ich weiß es nicht.

      Ich schalte das Hörgerät aus. Eine Wolke aus halbem Schlaf umfängt mich, bis ich nichts mehr fühlen kann. Gar nichts mehr. Das FTI macht mich so müde. Doch wenn ich es nicht nehmen würde, wäre ich vielleicht schon tot.

      Im Halbschlaf erinnere ich mich am besten. Während der Bus in die grauen Schlieren des immer wieder aufsteigenden Nebels fährt, setze ich in meiner Erinnerung eine Sequenz an die andere. Schreibe sie auf. Bestimmte Ereignisse nehme ich mir immer wieder vor. Ich füge sie neu zusammen. Vertausche deren Chronologie. Werde jünger. Werde älter. Und manchmal sterbe ich.

      Das ist doch keine Erinnerung, sage ich mir, das ist Erfindung. Was spielt das schon für eine Rolle, wenn ich am Ende weiß: So war es. Es ist, als bräuchte ich meine ganze Fantasie, um das Narbengewebe zu durchstechen, was mich von mir und dem, was ich einmal erlebt, gefühlt und gedacht habe, trennt. Das ist Lichtjahre entfernt. Viel weiter als bei anderen Menschen, weil ich nicht daran erinnert werden möchte.

      Die Erfindung macht mir klar, wie es wirklich gewesen ist. Ich sehe dann alles vor mir wie auf einer Fotografie. Und dann weiß ich, dass es sich so zugetragen haben muss.

      Die geträumten Bilder verschwinden. Und ich erlebe alles noch einmal wie in Echtzeit. Es gibt keinen Punkt, an dem ich Stopp sagen könnte. Selbst im Augenblick der Erfindung kann man die Wahrheit sagen.

      Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich zum wiederholten Male einfach fortgelaufen war.

      In den Wochen vorher war ich krank gewesen. Es kam oft vor, dass meine Kraft nicht reichte, um in die Schule zu gehen. Nachdem ich gerade erst eine Bronchitis überstanden hatte, fesselten mich rheumatische Anfälle an mein Zuhause. Das kalte Februarwetter ließ mich die Arthrose in meinen Knien spüren. Das Rheuma zog in meinen Schultern. Es war schlimmer als sonst.

      Ich war zwölf Jahre alt und besuchte die siebte Klasse. Doch in diesem Schuljahr war ich nur wenige Wochen in der Schule gewesen. Vor allem die Gelenkveränderungen machten mir zu schaffen. Knochen und Blutgefäße schienen mit einem Mal noch rascher zu altern.

      In der Schule hatte das keine Folgen. Alles war mit den Ärzten, den Lehrern und meinen Eltern besprochen. Ich, das Greisenkind, hatte hier eine Gnadenzeit. Ich würde niemals einen Abschluss erreichen. Wozu auch?

      Also brauchte sich auch niemand über Fehlzeiten und nicht erbrachte Leistungsnachweise Gedanken machen.

      Erst im April, nach den Osterferien, konnte ich wieder in die Klasse zurückkehren. Jedes Mal war es dann wieder da. Das staunende Entsetzen beim Anblick von dem, was in der Natur nicht vorgesehen war. Das unter dem Mantel der erlernten Umgangsformen nur mühsam verborgene Erschrecken. Wer mir ins Gesicht blickt, schaut in seine eigene Zukunft.

      Wenn ich nach längerer Abwesenheit ins Klassenzimmer trat, war dieses Erschrecken da. Nach einem, manchmal zwei Tagen verschwand es wieder.

      Aber diesmal war es anders. Das lag daran, weil in meiner Zeit des Fernbleibens ein neuer Schüler in die Klasse gekommen war. Er war aus Hessen zu uns gewechselt. Groß und schlaksig saß er mit angegelten Haaren und spöttischem Gesichtsausdruck in der letzten Reihe am Fenster. Er hörte nicht auf, mich anzustarren. Er tat dies ohne Ausdruck, als betrachtete er ein interessantes Insekt oder einen Vogelkadaver.

      Nach zwei Tagen war die Atmosphäre in der Klasse wieder so, als wäre ich niemals fortgewesen. Nur Gerrit, der Neue, ließ mich nicht


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