Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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verbrachte ich im Spielraum und in der kleinen Sporthalle. Dort wurden Märchenspiele, Ballsportturniere und Theaterworkshops veranstaltet. Wir machten einen Ausflug in ein nahegelegenes Bergwerk. Wir gingen ins Kino und besuchten ein großes Volksfest.

      Auf dem ersten dieser Ausflüge geschah es.

      Nachdem wir das Bergwerk verlassen hatten, lief ich im Übermut voraus.

      In der plötzlichen Helligkeit verlor ich die Orientierung. Ich verlief mich. Ich landete im Gastraum eines am Parkplatz gelegenen Cafés. Eine Frau starrte mich an. Kinder sprangen auf. Die Kellnerin, ein junges hübsches Mädchen, sah mich entgeistert an. Das Tablett zitterte in ihren Händen. Es war, als hätte ich in einen Zerrspiegel geblickt. Als hätte ich eine bislang verborgene Tür geöffnet.

      Einen Augenblick lang herrschte Stille. Das Leben schien auf die merkwürdigste Art eingefroren. So, wie auf einer alten Fotografie.

      Danach teilte ich mein Leben in die Zeit vor diesem Ereignis und in eine Zeit danach ein. Zumal die Jahre bis zu diesem Tag für mich nur aus der Überlieferung meiner Mutter wiederherzustellen sind. Von diesem Tag an führte ich, ich konnte bereits seit einem Jahr lesen und schreiben, ein eigenes Tagebuch. Aber eigentlich ist das eine Legende. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass ich angefangen hatte, Tagebuch zu schreiben, als mein Vater uns verließ. Die Wahrheit ist: Sie hat dieses Tagebuch für mich geschrieben und es mir später gegeben.

      Mein Vater, der mit meiner Krankheit nicht zurechtkam, war eines Nachts einfach fortgegangen. Das Einzige, was von ihm noch da war, war das Geld, das er jeden Monat für mich auf Mutters Konto überwies.

      Tagebuch zu schreiben, war nicht einmal ein festes Vorhaben. Oder etwas, das ich schon lange geplant hatte. Ich schrieb von nun an einfach nur auf, was ich erlebte.

      Ich hatte bisher nicht begriffen, dass ich in diesen Tagen ja ständig mit Menschen zusammen war, die mein Schicksal als Betroffene oder Angehörige teilten. Jetzt aber begegnete ich der Welt, vor der mich meine Mutter bisher verborgen gehalten hatten.

      Meine Mutter gab zu, mich in mein Zimmer gesperrt zu haben, wenn Besuch kam. Oder lange von einer schweren ansteckenden Krankheit gesprochen zu haben. Außer Solveig und ganz engen Verwandten wusste niemand von meinem Schicksal. Die anderen, so musste ich denken, vergaßen meine Existenz allmählich.

      Jetzt aber musste ich lernen, dass es um mich herum eine Unzahl neuer und unbekannter Menschen gab. Und dafür war ich nicht aufnahmefähig.

      Schon als kleines Kind fürchtete ich, mich in dieser Menge zu verlieren. Das blieb ein Gefühl, das nie mehr von meiner Seite wich. Etwas, das bisher nur in mir geschlummert hatte, wachte in diesem Moment auf und rief in meinem Charakter Veränderungen hervor, die mir unter anderen Umständen wohl erspart geblieben wären.

      Die plötzliche Begegnung mit der Außenwelt führte dazu, dass ich nun häufig nicht sagte, was ich dachte. Ich verhielt mich nicht so, wie ich mich vielleicht hätte verhalten sollen.

      Mir erschien es wie eine Ewigkeit, bis sich das Bild in diesem Café vor mir aufzulösen begann. Bis ich wieder anfangen konnte zu atmen. Bis meine Glieder anfingen, sich aus ihrer Starre zu lösen. Das Café war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Alle starrten mich an, während sie langsam dazu übergingen, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Ich aber blieb stehen. Unfähig, mich zu rühren. Oder fortzulaufen. Oder etwas anderes zu tun.

      Nur, in mir schrie etwas und hörte nicht auf zu schreien. Die Begegnungen, denen ich bis zu diesem Tag mehr oder minder zufällig oder auch bewusst, wie etwa bei unseren Besuchen in der Arztpraxis, ausgesetzt war, hatten mir nicht einmal eine Ahnung vermittelt, welch ungläubige Abscheu, welch widerwilliges Erstaunen und spürbares Unbehagen meine Erscheinung bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen auslöste. Ich würde nie mehr so in den Spiegel blicken können wie früher.

      Irgendwann nahm mich jemand bei der Hand und führte mich hinaus. Man setzte mich in den Bus zu den anderen Kindern und den Betreuern. Auf der Rückfahrt war es ungewöhnlich still.

      Am nächsten Tag ging das Treffen zu Ende. Wir fuhren nach Hause.

      Es war merkwürdig, doch nach der Woche mit dem Progerie Family-Circle behandelte mich meine Mutter anders. Sie kam nicht mehr auf die Idee, mich zu verstecken.

      Meine Mutter erzählte mir mit leuchtenden Augen von einem neuen Medikament. Es schien, als sei die Möglichkeit meines baldigen Todes etwas, das sie nicht mehr unmittelbar betraf. So wie der Tod immer etwas war, das unendlich weit weg schien.

      Auch die Tatsache, dass sie die Gelegenheit genutzt hatte, sich mit den anderen Familienangehörigen und den anwesenden Ärzten über alle möglichen Therapien auszutauschen, bekam ich in nächster Zeit deutlich zu spüren.

      Ich ging noch häufiger zur Physiotherapie als bisher. Das sollte die Durchblutung verbessern und steifen Gelenken vorbeugen. Badezusätze und Lotions halfen, meine empfindliche Haut zu schützen.

      Meine Mutter reagierte nicht mehr so ängstlich, wenn mein Blutdruck dramatisch stieg. Sie schaffte es, mich zu beruhigen, wenn ich plötzlich panisch schrie, weil mein Herzschlag zu rasen begann.

      Und ich erhielt ein neues Medikament. Neben Statin, mit dem normalerweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen behandelt wurden, bekam ich schon länger ein Bisphosphonat. Das wird bei Knochenschwund verschrieben. Zusätzlich erprobten die Ärzte einen sogenannten Farnesyl-Transferase-Inhibitor, den man kurz FTI nennt, an mir. Eigentlich ist FTI ein Krebsmedikament. Studien an Mäusen hatten gezeigt, dass FTI die Symptome der Progerie hinauszögern und die Lebenserwartung erhöhen kann.

      Das mit den Mäusen hatte man mir erzählt. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ich bin doch keine Maus. Die Ärzte sagten, das Medikament könne dafür sorgen, dass mein Gewicht wieder zunähme. Dass ich besser hören würde. Dass ich eine stabilere Knochenstruktur bekäme und elastischere Blutgefäße.

      Ich glaube, das Wichtigste an dem ersten Progerie-Treffen war aber, dass niemand von uns mehr das Gefühl hatte, allein zu sein.

      Für meine Mutter war es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass es irgendwo in Europa jemanden gab, den sie anrufen konnte. Jemand, der sie verstand, weil er in der gleichen Situation war wie sie.

      Und ich? Ich hatte das Gefühl, meine Mutter war froh, etwas gefunden zu haben, das sie von dem Gedanken ablenkte, ihr Kind könne vor ihr sterben. Aber das würde ich ja. Ich wusste es einfach.

      Von dieser Zeit an fühlte ich mich meiner Mutter überlegen. Sie musste mich nicht mehr trösten oder sich schuldig fühlen. Ich war es ja, die sie trösten musste. Möglicherweise war das Leben von diesem Punkt an etwas unkomplizierter. Das änderte sich nicht einmal, als ich in die Schule kam. Meine Mutter entschied, dass ich die Freie Waldorfschule Kräherwald besuchen würde. Ich sollte einen normalen Schulalltag führen. Sie lehnte es ab, mich in eine spezielle Einrichtung zu schicken, wie es die Ärzte empfohlen hatten.

      Kinder sind besonders im Umgang mit Phänomenen wie mir. Ihr Erstaunen, von anderen Gefühlen ganz zu schweigen, hält nicht an. Mein erster Anblick hatte die anderen Kinder und die Lehrer erschreckt. Die Kinder trauten sich nicht, mit mir zu spielen. Sie schauten mich immer nur an. Doch das ging schnell vorbei. Es dauerte zwei Tage, bis ich eine von ihnen war. Für sie war es nicht weiter verwunderlich, dass meine Kraft und mein Atem nur für die wenigsten Spiele reichten. Wenn es um Schnelligkeit ging, zog ich immer den Kürzeren.

      Dafür konnte ich bereits flüssig lesen. Und ich konnte schreiben. Auch die meisten Aufgaben im Unterricht stellten mich vor keinerlei Probleme.

      Der Stift in meinen Händen zittert nicht mehr. Ich sitze immer noch hier in Solveigs Zimmer, das Heft auf meinen Knien.

      Solveig wird mich bald zum Bahnhof bringen. In meinen Ohren rauscht es. Wenn ich allein im Zimmer bin, schalte ich das Hörgerät meistens aus. Ich lausche dann diesem Rauschen nach wie einer fernen Brandung. Oder dem Wind in den Bäumen. Erst als ich aufstehe, merke ich, dass Solveig in der Türöffnung lehnt. Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort steht. Ihre Lippen formen meinen Namen. Emelie, sagt sie. Emelie.


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