Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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begann er, meine Bewegungen zu parodieren. Er achtete penibel darauf, dass uns andere dabei nicht sahen.

      Wenn wir unbeobachtet waren, schlich er sich von hinten an mich heran. Er sagte dann Dinge wie: »Magst du die Natur noch? Nach allem, was sie dir angetan hat.«

      Er lachte niemals über seine eigenen Bemerkungen. Er sah mich nur an.

      Eines Tages folgte er mir aus dem Werkunterricht auf die Mädchentoilette. Er schob mich in eine der Kabinen. Plötzlich drängte er mich auf die Toilettenschüssel. »Wenn du schreist, sorg ich dafür, dass du ’nen Herzinfarkt bekommst. Wird keiner was merken, denn den kriegst du sowieso bald, hässliche Kröte!«

      Gerrit stand vor mir. Er öffnete seinen Hosengürtel und schob Jeans und Unterhose mit einem Ruck zu den Knien. Er wies auf sein Ding, das ihm wie ein Spargel aus dem dünnen Flaum zwischen seinen Beinen ragte. »Du darfst ihn mir lutschen«, forderte er mich mit rauer Stimme auf.

      Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Aus welchem schlechten Film hast du denn das?«, fragte ich ihn. »Und im Übrigen«, sagte ich langsam, während ich meine Lesebrille aus der Jackentasche nahm, mir vor die Augen hielt und damit sein Ding fixierte, »hast du vielleicht nicht noch was Größeres mitgebracht?« Den Satz hatte ich aus einem Film. Einem wirklich schlechten Film.

      Gerrit wurde tatsächlich rot. Aber er wurde auch schrecklich wütend. Er packte mich am Hals und begann, mich zu würgen.

      Auf dem Flur entstand mit einem Mal ein großer Lärm. Eine ganze Horde Achtklässlerinnen stürmte in den Toilettenvorraum. Die Mädchen füllten sich Wasser in die mitgebrachten Flaschen.

      Gerrit hielt mitten in der Bewegung inne.

      Ich wollte schreien, doch er presste mir seine schweißige Hand auf den Mund. Mit der anderen Hand versuchte er vergeblich, seine Hose hochzuziehen.

      Das Stimmengewirr hielt an. Türen schlugen. Toilettendeckel klappten hoch und wieder runter. Die Wasserleitungen rauschten.

      Mein Körper begann zu zittern. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment tatsächlich einen Herzinfarkt zu bekommen. Es war die gleiche, unkontrollierbare Panik, die mich immer dann befiel, wenn mein Herz plötzlich anfing, schneller zu schlagen. Das geschah in letzter Zeit immer häufiger. In dieser Situation war es meine Rettung.

      Während der Lärm um uns herum langsam aufhörte, ließ Gerrit von mir ab. Ich steigerte mich in meinen Anfall hinein. Als der Junge seinen Griff lockerte, ließ ich mich vom Toilettensitz auf den Boden rutschen. Ich streckte die Arme in die Luft. Mein Atem ging stoßweise. Ich konnte das gut.

      Gerrit wich zurück. Er starrte mich an. Seine dunklen Augen hatten den gleichen Blick wie im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof. In ihnen war keine Regung.

      Ohne jede Emotion sagte er: »Stirb doch. Stirb doch endlich, Monster!« Dann verschwand er.

      Und genau das war es, was ich mir in diesem Augenblick wünschte: zu sterben.

      Ich spürte, wie meine Hose nass wurde. Meine Arme und meine Beine fingen unkontrolliert an zu zucken. Panisch tastete ich nach meinen Medikamenten in dem kleinen Beutel, den ich immer um die Hüfte trug. Ich konnte nichts mehr sehen, doch meine Hände ertasteten die richtige Tablettenform. So, wie ich es in der Arztpraxis gelernt hatte.

      In meinen Ohren rauschte es. Nur um mich herum war eine gespenstische Stille. War es die dritte Schulstunde? Oder schon die vierte? Wann würde es zur Pause klingeln? Dann würden sie mich finden. Aber ich wollte nicht so gefunden werden.

      Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Vorsichtig setzte ich mich auf. Dunkelfeuchte Flecke zeichneten sich auf meiner Hose ab. Die Kabinentür stand offen. In der langen Spiegelreihe über den Waschbecken sah ich einen vergreisten Gnom auf der Toilettenschüssel sitzen.

      Das Bild verschwamm mir vor den Augen. Mühsam stand ich auf. Und wenn Gerrit hinter der Tür wartete? Ich starrte auf die hellbraune Maserung der Toilettentür. Alles, was dahinter lag, machte mir Angst.

      Ich konnte nicht zurück in das Klassenzimmer. Niemandem konnte ich sagen, was passiert war. Sie würden mir nicht glauben. Jemand anderem schon. Jemandem, der normal entwickelt war und der aussah wie ein zwölfjähriges Mädchen. Mir würde niemand glauben.

      Ich wollte nur weg. Und ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wiederzukommen.

      Vorsichtig öffnete ich die Tür. Der Flur lag verlassen. Hinter den Klassenzimmertüren raunten Stimmen. Über mir stampften Füße rhythmisch auf den Boden. Aus einem anderen Gebäudeteil kam Musik und Gesang über die Flure. Ich drückte mich an der Wand entlang in Richtung des Ausgangs.

      Als ich draußen war, versuchte ich, so normal wie möglich zu laufen. Aus den Augenwinkeln sah ich die Schüler einzeln oder in kleinen Gruppen an ihren Tischen sitzen.

      Es war einer der ersten warmen Frühlingstage. Das dünne weiße Licht des Frühlings befiederte Wege und Straßen.

      Ich war mir sicher, niemand würde mich finden. Hinter meinem Rücken würde es keine Spur mehr von mir geben. Ich staunte, wie still und leer es geworden war seit dem Morgen. Die wenigen Menschen, denen ich begegnete, erschienen mir wie gestrandete Reisende. Sie sahen mich kaum an.

      Immer wieder musste ich erschöpft anhalten. Mein Brustkorb schmerzte. Die Häuser und Straßen stahlen sich unmerklich aus dem Licht. Ich war noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen. Ich wurde ja immer direkt von der Schule abgeholt. Oder der Bus brachte mich nach Hause.

      Jetzt fühlte es sich an, als würde man der gleichen vertrauten Straße plötzlich links folgen, statt rechts abzubiegen. Bereits nach wenigen Metern war mir alles fremd. In konturenloser Schärfe sahen die Fassaden von Gründerzeitvillen auf mich hinab. Die Gehwege schimmerten in einem Licht, das aus den Tiefen der Häuser zu kommen schien.

      Ich konnte nur langsam laufen, weil mich jedes Gehen erschöpfte. Und weil ich nach den schrecklichen Minuten auf der Toilette das Gefühl hatte, wieder mit all dem konfrontiert zu sein, was ich sonst verdrängte.

      Insbesondere immer dann, wenn alles für eine kurze Zeit so funktionierte, wie es in einem anderen Leben vielleicht hätte funktionieren können.

      Unwillkürlich fing ich dann an, schneller zu gehen. Bis sich mein Körper zu verweigern begann.

      Nichts erkannte ich wieder. Das Gefühl, sich verlaufen zu haben, verursachte mir kein Unbehagen. Es war vielmehr so, dass ich mich auf eine kaum zu beschreibende Weise geborgen fühlte, obwohl ich dunkel begriff, dass ich ja eigentlich gerade dabei war fortzulaufen.

      In diesem Augenblick gab es nichts, was mich zurückgebracht hätte.

      Die Straße verengte sich. Eine Weile lief sie unter unbelaubten Bäumen dahin. Rechts und links der schmalen Gehsteige erstreckten sich uneinsehbare Gärten. Nur vereinzelt ragten die Schatten von Häusern aus dem flirrenden Grün. Die Straße endete in einer Sackgasse.

      Ich stand vor einem von hohen Eisenzäunen umschlossenen parkähnlichen Garten. Aus dem Grün ragte ein halb zugewachsenes Haus mit Spitztürmen und zinnenartigen Giebeln.

      Ungläubig stellte ich fest, dass ich mich doch an all das erinnern konnte. Dabei war ich niemals hier gewesen. Eine zerfallene Parkbank stand zwischen zwei Bäumen.

      Durch das offene, nur noch halb in den Angeln hängende Tor betrat ich den Garten. Die Überreste zerbrochener Skulpturen und Steinfiguren schimmerten aus dem verdorrten Gras. Die Wege waren verschwunden.

      Wie in einem Traum lief ich durch die Wildnis des Gartens auf das Haus zu. Der Garten war voller leiser Laute. Die Tür zur großen Eingangshalle stand offen. Aus der Ferne des Hausinneren schlugen die Töne einer Musik an die rissigen Wände. Im Haus war es kalt, als hätte der Winter sich hierher zurückgezogen.

      Ich rief nach jemandem. Meine Stimme hallte seltsam fremd zwischen den Wänden wider. Die Musik kam aus der oberen Etage des Hauses. Offenbar war die Treppe lange Zeit nicht mehr benutzt worden. Meine Schritte wirbelten Staub auf.

      Zögernd betrat ich den


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