Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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      Am Ende sagte sie ihr, dass ich unter Progerie litt.

      Meine Mutter wurde am nächsten Tag sehr krank. Sie war viele Wochen nicht in der Lage, arbeiten zu gehen.

      Progerie ist ein Krankheitszeichen verschiedener Erbkrankheiten. Die führen zu einer vorzeitigen Vergreisung der betroffenen Kinder. Diese äußerst seltene und unheilbare Krankheit hat zur Folge, dass viele Organe im Zeitraffer altern. Die Glieder versteifen sich. Auf der Haut zeigen sich braune Altersflecken. Die Augen treten hervor.

      Es war sicher, dass meine Eltern erfahren würden, was die Natur eigentlich ausgeschlossen hat: das eigene Kind vergreisen zu sehen.

      Die betroffenen Kinder leiden unter Krankheiten, die sonst eher alte Menschen haben. Arthrose, Osteoporose und Arterienverkalkung treten häufig auf. Außerdem liegen häufig Fehlstellungen der Gelenke vor. Die Kinder, die erkrankt sind, werden meist nicht größer als einen Meter. Selten erreichen sie das achtzehnte Lebensjahr.

      Im Durchschnitt werden Kinder, die unter Progerie leiden, dreizehn Jahre alt. Einige wenige erreichen auch das Erwachsenenalter. Zu den häufigsten Todesursachen gehören Herzinfarkt und Schlaganfall.

      Der Kinderarzt empfahl uns, um endgültige Gewissheit zu haben, eine genetische Analyse vornehmen zu lassen. Noch immer missdeuteten viele Ärzte die Symptome als Wachstumsstörung oder Mangelernährung.

      Als meine Mutter Solveig fragte, wie sie auf die Diagnose gekommen sei, zeigte sie ihr die Röntgenaufnahmen, die man schon früh von mir gemacht hatte. Da seien ihr, als sie die Bilder mit denen von Gleichaltrigen verglichen habe, die typischen Veränderungen am Schlüsselbein und an den Handknochen aufgefallen. Das sei symptomatisch für Progerie-Patienten.

      Meine Mutter wollte von ihr wissen, warum sie sich denn ausgerechnet für diese seltene Krankheit interessiere. Solveig habe sie nur ausdruckslos angesehen und geschwiegen.

      Auch in den folgenden Jahren hatte sie den Eindruck, dass es da etwas gab, über das Solveig nicht sprechen wollte.

      Die genetische Untersuchung, die meine Eltern dann in der Klinik vornehmen ließen, brachte die Bestätigung. Ich litt unter dem Hutchinson-Gilford-Syndrom, also dem Progerie Typ I.

      Meine Mutter und mein Vater versuchten, alles über die Krankheit in Erfahrung zu bringen.

      Meine Mutter begann ein eigenes Tagebuch für meine Krankheit. Sie nannte es Emelie. Es gab nichts, was sie dort nicht aufgeschrieben hätte. Das schönste Geschenk ist die gemeinsame Zeit. Denn keiner weiß, wie viel uns davon bleibt, schrieb sie gleich auf der ersten Seite. Das war so eine Art Programm, denke ich.

      Die Wiedergabe wissenschaftlicher Fakten wechselte mit der für mich quälenden Wiedergabe ihrer Gefühle, ihres Schmerzes. Ihrer Verzweiflung. Als ich es las, fragte ich mich oft: Das soll ich sein?

      Meine Mutter begann stets ganz nüchtern. Indem sie zum Beispiel feststellte, dass es zu Progerie durch Veränderungen im menschlichen Erbgut komme. Davon betroffen sei das Lamin A-Gen. Ich war mir sicher, dass meine Mutter keine Ahnung hatte, was das Lamin A-Gen war. Dieses Gen sei zuständig für die Herstellung des Proteins Lamin A. Zu dessen Funktionen gehöre es vor allem, die Zellkerninnenseiten zu stabilisieren. Lamin A reguliere zudem das Ablesen des Erbguts und habe Anteil an der Zellteilung.

      Die Progerie sorge nun dafür, dass es zum Vertauschen einer Base innerhalb des Lamin A-Gens komme. Nicht mehr als eine Verwechslung. Nur: Diese Verwechslung hat zur Folge, dass mein Körper eine unzureichende Version des Eiweißes herstellt. Diese Veränderung aber führe nun zu einer Schwächung der Zellkernhülle, was wiederum Auswirkungen auf die Zellteilung habe. Und genau dieser Vorgang ist verantwortlich für den vorzeitigen Abbau der Erbinformation.

      Und das bedeutete, dass ich fünf- bis achtmal schneller alterte als andere Menschen. Ich alterte im Zeitraffer.

      Natürlich hatten meine Eltern die stärksten Schuldgefühle. Was hatten sie falsch gemacht?

      Es wurde auch nicht besser, als sie in Erfahrung brachten, dass die Veränderungen des Erbgutes beim Hutchinson-Gilford-Syndrom zufällig entstehen. Man weiß bis heute nicht, wodurch es zu einer Mutation des Gens kommt.

      Doch ganz gleich, was sie herausfanden, es blieb die entsetzliche Tatsache, dass ich bald sterben würde.

      Ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter mit all der Anhäufung von Fakten versuchte, dem für sie unbegreiflichen Geschehen einen Sinn zu geben.

      Was mein Vater wirklich fühlte und dachte, fand ich nie heraus. Ich glaube, er hatte Angst vor dem, was vor seinen Augen mit seinem Kind geschah. Meine Mutter behauptete, deshalb habe er uns verlassen.

      Sie begann ihr Tagebuchritual manchmal nur mit einer einzigen Passage wie »Eine Heilung der Progerie ist nicht möglich. Daher beschränkt sich die Therapie auf die Behandlung der Symptome«. Sie ging dann dazu über, unseren Tagesablauf zu schildern. So, als sei sie jemand anderes und ich nur ein Kind in Pflege. Unvermittelt beschrieb sie dann ihre Gefühle. Sie fand niemals eine Mitte zwischen diesen Ebenen.

      Bis ich, im Alter von fünf Jahren, in die Schule kam, wusste ich nur, dass ich »krank« war.

      Mit drei Jahren hatte ich die Größe und das Gewicht einer Einjährigen. Ich konnte nicht mehr als fünfzehn Schritte laufen, ohne außer Atem zu geraten. Ich fiel ständig hin. Bereits mehrfach hatte ich mir Arme und Beine gebrochen. Ich hatte keine Haare, keine Augenbrauen, keine Wimpern mehr. Unter meinen Augen hingen große, faltige Tränensäcke. Mein Aussehen glich dem einer achtzigjährigen Greisin.

      Dennoch hatte ich Bedürfnisse wie andere Kinder auch. Meine Mutter versuchte, sie zu erfüllen, so gut es eben ging.

      In den ersten Jahren versteckte mich meine Mutter vor der Öffentlichkeit. Ich ging niemals mit einkaufen. Wir verbrachten keinen Urlaub mehr in fernen Ländern. Wenn ich etwas von der Welt sah, dann nur durch die getönten Scheiben unseres Autos, mit dem mich meine Mutter durch die Stadt und über das Land fuhr. Ich kannte nichts anderes. Dir wird ein Ausschnitt der Welt gezeigt, und du musst es für die Welt halten.

      Meine Mutter versuchte, mich vor etwas zu schützen. Oder versuchte sie, die Welt vor mir zu schützen?

      Es war wieder Solveig, die sie davon überzeugte, dass es nicht sinnvoll sei, mich zu verstecken. Sie überredete meine Mutter, mit mir andere Progerie-Kinder und deren Familienangehörige zu treffen.

      In Deutschland gebe es einmal im Jahr ein Europa-Treffen des Progerie Family Circle. Dort träfen sich Progerie-Kinder mit ihren Eltern. Meist wären es nur die Mütter, Geschwister und Ärzte, um sich kennenzulernen und miteinander zu spielen. Am wichtigsten aber wäre die Erfahrung, nicht alleine auf der Welt zu sein.

      Von meinem zweiten Lebensjahr an versuchte Solveig, meine Eltern von der Wichtigkeit dieses Treffens für uns alle zu überzeugen. Aber erst als ich vier Jahre alt geworden war, überwand meine Mutter ihr Zögern.

      Meine Mutter und ich fuhren das erste Mal auf ein Treffen. Mein Vater war da schon aus meinem Leben verschwunden.

      Es war ein kleiner Ort irgendwo in der Eifel. Den Namen habe ich vergessen. Auch, wenn mein Gedächtnis gut funktioniert und meine Intelligenz weit über der gleichaltriger Menschen liegt, kann ich mir Namen nicht merken. Vielleicht ist es auch so, dass ich mir sie nicht merken möchte.

      Ich war vier, und ich kann das alles ja nur aus der Perspektive meiner Mutter wiedergeben.

      Zum ersten Mal in meinem Leben fand ich dort einen Freund. Er hieß Jasper. Jasper ist im November letztes Jahr gestorben. Kurz vor seinem zwölften Geburtstag. Und es war im November 2003, als ich das erste Mal in meinem Leben begriff, dass ich nicht alleine war.

      Meine Mutter führte mich in einen Raum voller Kindgreise. Winzige Wesen ohne Haare, ohne Augenbrauen mit hervortretenden Venen und Armen und Beinen dünn wie Streichhölzer tollten durch den Raum. Sie schrien und lachten, während andere still in den Ecken saßen. Es war, als würde man sich wie in einem gewaltigen Spiegel begegnen, der den eigenen Körper dutzendfach brach und in einem imaginären Raum wieder hervorschleuderte, bis ich


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