Greisenkind. Daniel Mylow

Greisenkind - Daniel Mylow


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des Altwerdens, in der Erinnerung an all das Vergangene.« Sie hielt inne. »Vielleicht, Emelie, entdecken die Wissenschaftler ja eine Pille, die unser Leben noch um viele Jahrzehnte verlängert. Doch am Ende steht immer der Tod. Weißt du, wenn man das Leben nur als eine Flucht vor dem Tod versteht, ist es sinnlos. Es mag sich ja merkwürdig anhören, aber leben bedeutet eigentlich zu sterben. Jeden Tag in einem Zustand zu sein, in dem man bereit ist, alles hinter sich zu lassen.« Sie nahm mich in ihre Arme.

      »Fürchtest du dich denn gar nicht vor dem Tod, Mama?«

      Sie seufzte. »Das ist es ja gerade. Ich fürchte mich vor dem Unbekannten, das eintreten könnte. Ich fürchte mich davor, dass du mich verlassen könntest. So, wie dein Vater uns verlassen hat. Ich fürchte mich davor, die Dinge, die ich kenne, loszulassen, obwohl sie es doch gerade sind, mit denen Leid, Schmerz, Verzweiflung, Kampf und manchmal ein Moment der Freude verbunden sind. Das ist es, was wir Leben nennen. Und von dem zu lassen, fürchten wir uns so.« Ihre Hände streichelten über meinen Kopf. »Ach, Emelie. Das Einzige, worauf es ankommt, ist das, was du heute bist. Wie du dich verhältst. Nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Was sind wir schon? Ein Haufen Wörter, Erinnerungen, Erfahrungen. Und du bringst mir gerade bei, das alles loszulassen.«

      Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich alles verstanden hatte, was meine Mutter mir sagen wollte. Immerhin durfte ich all unsere Gespräche mit einem Tonband aufzeichnen, damit ich sie später in mein Tagebuch übertragen konnte. Jedenfalls versuchte ich nun nicht mehr, dem Leben von arctica islandia nachzueifern. Ich wollte nur verstehen, warum sie so anders ist als ich. Und was ich tun musste, um vielleicht so zu werden wie sie.

      Die Fotografie von der Muschel erinnert mich an etwas. Etwas, das ich unbedingt noch tun möchte, bevor alles vorbei ist.

      Der letzte Mensch, dem ich diese Fotografie gezeigt hatte, ist nun tot.

      Niemand weiß von Pali. Pali war ein Obdachloser. Ich hatte ihn nur einen Winter gekannt.

      Es ist nämlich so, dass ich immer wieder von zu Hause fortlaufe. Manchmal sind es die Schmerzen. Wenn ich laufe, vergesse ich sie. Manchmal sind es die ständigen Auseinandersetzungen mit meiner Mutter oder den Ärzten. Ich darf so vieles nicht. Ich sollte besser auf mich aufpassen. Wenn es mir zu viel wird, laufe ich fort.

      Letzten November stand ich auf einmal auf einem verlassenen Fabrikgelände. Manchmal denke ich, ich träume diese Orte nur. Später finde ich sie auf keiner Karte verzeichnet. Ich kann ihnen kein Viertel und keine Straße zuordnen. Ich mag die ruinöse Schönheit zerfallender Gebäude. Sie bietet Raum für Träume. Es ist, als würde die Vielfalt der Formen und Proportionen im Zerfall wiedergeboren. So kühne Asymmetrien, reizvolle Disproportionen, unerwartete Durchblicke gibt es in keinem Stadtbild. Die zertrümmerten Fassaden sind für mich wie große Rätselbilder. Die Spuren des Verbleichens und Bröckelns, Verrinnens und Zerbrechens ziehen mich magisch an. Diese Sätze habe ich in einem Buch von meinem Vater gefunden.

      Dort begegnete ich Pali. Er lebte mit anderen Obdachlosen zusammen in einer der alten Fabrikhallen. Er stand plötzlich hinter mir und legte mir die Hand auf die Schulter.

      Erschrocken drehte ich mich um. Sein Hund, eine undefinierbare schokoladenbraune pudelgroße Promenadenmischung, sprang mich an und versuchte, mir das Gesicht zu lecken.

      Ängstlich wich ich zurück. Ich hatte Angst vor Hunden.

      Aufmerksam blickten mich Palis Augen an. In dieser Welt wurde nicht gesprochen. Das Nötigste sagten die Blicke.

      Sein Ausdruck war ernst und prüfend, fast misstrauisch, aber nicht abweisend. Seine Augen waren schneller gealtert als Haut und Haar. Pali hatte den Blick eines Menschen, der weiß, dass er beobachtet wird.

      Ich hatte einmal gehört, dass sich die heftigste Liebes- und Lebenssehnsucht dunkel maskiert, um vor Verletzung sicher zu sein. Das war mir nur zu vertraut. Wir verstanden uns auf den ersten Blick.

      Pali lachte, nachdem er mich eine Weile betrachtet hatte. Er zeigte mir den Ort, wo er Zuflucht gefunden hatte. Ich war erstaunt, als ich erfuhr, wie viele Menschen in dieser Stadt und in ganz Deutschland auf der Straße lebten.

      Es war seltsam. Die anderen Menschen, die hier mit ihm lebten, schienen den Raum, in dem sie sich aufhielten, gar nicht zu beanspruchen. Es war, als wären sie gar nicht da. Sie schienen fast sinnlos und dunkel in diese verfallenden Gebäude hineingestellt.

      Ich irrte voller Begeisterung über das verlassene Areal. Es war merkwürdig, was ich dabei empfand. Was außen war, stellte offenbar keine Ansprüche. Alles war verfallen. Zerstört. Reduziert. Und fremd. Ich fand es geheimnisvoll und beunruhigend zugleich, wie sehr mein Blick beim Anblick all der zerstörten Dinge zu erstarken schien.

      Pali und ich freundeten uns an. Das Fabrikgelände verließen wir nie. Ich versuchte, zwei oder drei Nachmittage in der Woche bei ihm zu verbringen. Ich brachte ihm Tüten voller Lebensmittel und warme Kleidung. Die stahl ich aus den Sammelcontainern. Wir sprachen wenig. Nur einmal erzählte ich ihm von dem ältesten Lebewesen der Welt.

      Er sah mich ungläubig an. Ich spielte mit Filou, seinem Hund. Wir saßen schweigend am Feuer.

      Die anderen waren meist betrunken. Pali war anders. Ich hätte nicht einmal sagen können, wie alt er war. Mir erschien er alterslos. Ich erinnere mich an seinen von den Händen aufgestützten Kopf. An seinen verhalten leeren Blick. An eine Trauer ohne umständliche Erläuterungen.

      In seiner Nähe hatte ich das Gefühl, dass das Glück nicht mehr ist. Oder noch nicht ist.

      Einmal zeigte er mir ein Bild, das er bei seinen wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Es schien ihm viel zu bedeuten. Die Kopie war schon ganz zerknittert. In der Bildmitte befanden sich ein Junge und ein Mädchen mit einem alten Fischkarren. Der Junge drehte sich zu dem Mädchen um. Er lächelte im gleichen Atemzug wie sie. Das Bild zeigte eine nordische Landschaft. Feucht glänzende Moossteine vor dem Tiefseeblau des Nordmeers. Ein heller Lichtspalt fiel vom Himmel auf die Erde. Es gab keine Laute. Keine Stimmen. Der Himmel war ein Flügelfenster vor dem Morgen oder vor dem Abend. Alles schien möglich.

      Pali zeigte auf das Mädchen auf dem Bild. »Das bist du«, sagte er.

      Im Januar wurde es plötzlich sehr kalt. Nachts wurde es minus zwanzig Grad. Meine Mutter ließ mich auch tagsüber nicht mehr ins Freie. Nach einer besonders eisigen Nacht hielt ich es nicht mehr aus. Ich stahl mich davon, während meine Mutter beim Einkaufen war. Unruhig lief ich über das verschneite Fabrikgelände. Ich hatte Angst. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

      An der rostzerfressenen Metalltür, die in die vorderste Fabrikhalle führte, lehnte ein Körper. Eigentlich waren es zwei, sah ich, als ich näherkam. Der Oberkörper von Pali und der Körper seines Hundes schienen aus der gleichen Hüfte zu wachsen. Was ich zuerst sah, war, den einen auf dem Schoß des anderen. Bei flüchtigem Blick schienen Hände und Pfote ein Händepaar. Fast konnte man erwarten, dass Pali, wenn er die Augen schließen würde und sich zur anderen Seite wendete, Filou wäre, als der er dort schon saß. Das Bild glich einer Trickaufnahme wie die Erscheinung aus der Geisterwelt, die das andere Ich unvermutet aus dem Kasten springen ließ.

      Ich konnte meinen Blick lange nicht lösen. Ich stand nur da. Und irgendwann dann wurde mir klar, dass Pali lächelte. Seine Gesichtszüge waren heiter. Ich hatte Pali noch nie so glücklich gesehen. Es sah aus, als würden die beiden einfach nur sehr lange schlafen. Oder als würden sie einem sagen, der Tod ist nur dann schlimm, wenn man sein Lebtag auf das Glück gewartet hat, und es ist nicht gekommen.

      4.

       Verschwinden

      SOLVEIG SPRICHT MEINEN Namen aus, als würde sie ihn flüstern. Doch ich kann ihn hören. »Emelie«, sagt sie. »Es ist Zeit. Wir müssen gehen.«

      Solveig wird mich zum Bus bringen. Es wird das erste Mal sein, sagt sie, dass ich allein auf ein Progerie-Treffen reise. Kein anderes Kind ist je allein zu einem solchen Treffen gefahren. Der Gedanke, dass ich dort niemals ankommen werde, verursacht mir Herzklopfen.

      Auf der Fahrt zum Bahnhof stellt mir


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