Digital lehren. Thomas Hanstein
wir ergänzen – sowie Praktiken!
Die Digitalisierung der Bildungssysteme hat im Jahr 2020 einen krisenhaft ausgelösten Schritt getan. Gleichzeitig sind die paradigmatischen Linien bereits seit Jahrzehnten erkennbar. Der Corona-Impuls stammt aus einer externen Ebene, die mit der eigentlichen mediendidaktischen Diskussion um das E-Learning nicht direkt in Verbindung steht. Es wurde lediglich deutlich, dass die Digitalisierung bei der Überwindung der Raum- und Zeitschranke behilflich ist. Doch dieser Gedanke ist nicht neu, er ist bereits seit fast drei Jahrzehnten in der Diskussion.
Das Novum in dieser Krise bestand darin, dass der elementare Vorteil über die fehlenden Potenziale der digitalen Bildung nicht mehr argumentierbar war. Gleichzeitig haben auch 2020 „Medien per se keine didaktischen Potenziale“ (Euler, 2004, S. 225). Dies festzuhalten scheint uns auch nach Jahrzehnten der pädagogischen Diskurse wichtig. Insofern ist aktuell nach dem methodisch-didaktischen Kern in der digitalisierten Bildung zu fragen.
Wer „wir“ sind
Dieses Buch schreiben wir aus der Perspektive von Lehrern, die viele Jahre – haupt- und nebenberuflich, in der eigenen Lehre sowie im Aufbau hybrider Formate und in der Begleitung virtuell Lehrender – Erfahrungen in der virtuellen Hochschullehre und im virtuellen Coaching sammeln durften. Ausgehend von dieser Arbeit stellen wir zeitgeistige Phänomene bei Schülern und Studierenden fest. Unsere Motivation ist es, die Vorerfahrung an virtueller Lehre einer in diesem Bereich deutschlandweit führenden Fernhochschule – der staatlich anerkannten DIPLOMA – für den schulischen Bereich in der gegenwärtigen Situation als Basis anzubieten. Damit haben wir Ausgangspunkte für eine tiefer gehende methodisch-didaktische Betrachtung.
In diesem Sinne startet die Diskussion um die Digitalisierung der Bildung an einem Punkt in der Vergangenheit, an der die Zeit- und Raumschranke ein stichhaltiges Argument war. Um das Jahr 2010 herum wurde nämlich deutlich, dass eine im Wesen andersartige Lehr- und Lernkultur möglich werden kann. Zu dieser Zeit transformierten sich Fernhochschulen, die bislang über den postalischen Versand von Lehrmaterialien arbeiteten, zu virtuellen Hochschulen. Dieser Prozess ist für uns wichtig, da die geforderte personale und soziale Kompetenzentwicklung neue didaktische Formate erforderte, und damit wiederum eine virtuell adäquate methodische Kompetenz. Im Zentrum der Entwicklung neuer Formate stand der digital vermittelte Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden.
Im Diskurs sind daher zwei Punkte besonders interessant. Erneut bewahrheitet sich eine ganz naheliegende These: Lernvorgänge sind nicht zwingend an die Gleichzeitigkeit einer schulischen Institution gebunden. Soweit scheint dies trivial. Doch der zweite Punkt ist diskursanalytisch interessanter: Im Frühjahr 2020 ist eine „Anomalie“ aufgetreten, die eine Reaktion in der Diskursbildung herausfordert (vgl. Kuhn, 1976, S. 90–94). Diese Anomalie bestand darin, dass die Präsenz- und Kontrollkultur bildungstheoretisch, vor allem aber empirisch in Frage gestellt wurde. Dieses Phänomen unterlag einem nicht planbaren, relativ schnellen Prozess, der so in wesentlichen Aspekten weder steuerbar war noch bis dato hinreichend reflektiert worden ist.
Diese Anomalie war ferner dadurch gekennzeichnet, dass die Narration des traditionellen Präsenzunterrichts in eine kaum mehr zu restaurierende Debatte gestellt wurde. Die kollektiven, aus der industriellen Gesellschaft stammenden Ideen der Bildungssysteme rieben sich – und reiben sich seither – mit den individuellen Potenzialen digitaler Schul- und Hochschulbildung. – Anmerkung: An dieser Stelle soll und darf nicht unter den Tisch fallen, dass diese individualisierten Potenziale auf dem Rücken der Millionen von Eltern und vorwiegend Müttern ausgetragen wurden, die das Konzept „Homeschooling“ nolens volens zu verwirklichen hatten.
Was die Ambivalenz des Neuartigen in sich trägt
Insofern stehen wir seit Frühjahr 2020 an einem historischen Ereignis, das eine Ambivalenz des Neuartigen in sich trägt. An vergleichbaren Punkten der Menschheitsgeschichte wie auch der individuellen Entwicklung eröffnet sich die Option einer „revolutionären Anpassung“ (Peterson, 2009, S. 62). Das Adjektiv „revolutionär“ soll hier nicht als bildungspolitischer „Kampfbegriff“ missverstanden werden. Diese Bezeichnung fußt auf der Beobachtung, dass die Kompetenzerfahrung der nun zur digitalen Vermittlung gezwungenen Kollegien an einem Punkt der E-Learning-Debatte anschließt, die bereits 1990 mit der intendierten Überwindung von Raum und Zeit durch digitale Bildungsmedien startete. Dieser Hinweis lässt die angedeutete Ambivalenz bereits zeitlich sehr konkret werden: Wir müssen also von einer zeitlichen Verschiebung – um nicht zu sagen Verzögerung – von mindestens 30 Jahren ausgehen! Was eine solche Zeitspanne im digitalen Zeitalter bedeutet, dürften nicht nur medial affine Kollegen erahnen. Eine Videokonferenz-Software in einer stellenweise schon guten Infrastruktur an Schulen und Hochschulen technisch bedienen zu können, ist lediglich die Grundlage eines Diskurses über Möglichkeiten und Grenzen einer Anpassung der Bildungssysteme. Allerdings waren die technischen Fragen bis zum Ende des Schuljahres 2019/20 bzw. des Sommersemesters 2020 die meisten Anliegen aus Kollegien. Insofern bezeichnet das Adjektiv „revolutionär“ den Anschluss einer seit Jahrzehnten in Bewegung befindlichen Diskussion über die Paradigmen von Bildung schlechthin. Dass diese Debatte damit ziemlich genau eine Lehrer-Generation alt ist, ist kein Zufall: Denn die tief liegenden Glaubenssätze über das Wesen über die Entstehung und Weitergabe von Wissen bilden den Kern der aufgebrochenen Debatte. Bereits sieben Wochen nach den Schulschließungen durch die Corona-Ausgangseinschränkungen lag eine erste deutschlandweite empirische Studie – quantitativ anhand von 2000 Fragebögen erhoben – zum „Homeschooling“ vor. Kollegen an der Universität Konstanz-Landau wiesen zum ersten Mal nach, was Kinder, Eltern, Lehrer und Schulleiter ebenso befürchtet hatten: Dass die Eltern-Kind-Beziehung durch die Struktur des „Homeschooling“ in Mitleidenschaft gezogen wurde und – wen mag es wundern – die hinzugekommene Organisations- und Unterstützungsarbeit vor allem ein Job der Mütter war (vgl. https://www.uni-koblenz-landau.de/de/landau/fb5/aktuelles/befragunghomeschooling; Zugriff: 01.05.2020).
Die Änderung des Raumes und die Auswirkungen der (zumeist unreflektierten) Bedingung, dass das bislang Ausgelagerte – das institutionelle Lehren und Lernen – in den privaten Raum gleichsam hineingetragen wird, sind wichtige Komponenten des virtuellen Lernens. Allerdings sind – bzw. wären: im Hinblick auf den erfolgten „Sprung ins kalte Wasser“ durch das angeordnete „Homeschooling“ – Fragen der Selbststrukturierung, der Präsenz und Verfügbarkeit im Vorfeld zu klären, weil sie Dynamiken entfalten, die beim angelaufenen Betrieb schwer aufzuhalten sind. Diese Verlagerungen, die unausweichlich, aber in ihrer Auswirkung bei guter Vorbereitung (!) durchaus steuerbar sind, müssen im Vorfeld bewusst gemacht werden. In der Corona-Krise jedoch wurden flächendeckend Lehrende wie Lernende mitsamt ihren Eltern in ein „Lernexperiment“ hineingeworfen. Lehrer wie Schüler hatten über drei Monate hinweg zu improvisieren. Zentral war dabei – das wurde in allen Gesprächen deutlich – der „Stoff“ und nicht die Lehrer-Schüler-Beziehung. Lehrer, die es strukturell gewohnt sind, vor wichtigen Veränderungen eine Fortbildung zu erhalten, waren auf sich allein gestellt. Sie suchten nach Plattformen und Diensten, mit denen sie besten Wissens und Gewissens ihrer Arbeit weiterhin nachgehen konnten – und auch urheber- und datenschutzrechtliche Regeln wurden dabei oft nicht mehr beachtet. Sich „durchzukämpfen“ war angesagt, in diesem angeordneten „Corona-Kampf-Modus“.
Welche epistemischen Hindernisse wir sehen
Die Bildungstheorie hat auf diese epistemischen Hemmnisse in der Verbreitung von E-Learning – angesichts einer mittlerweile guten bis sehr guten Infrastruktur – schon 2007 hingewiesen (vgl. Gruber, 2007, S. 123–132). Dieser Wirkungszusammenhang ist so unstrittig, dass er bereits in der Lehrerausbildung als „Selbst- und Fremdbild der Lehrperson“ zum festen Bestandteil geworden ist. Insofern macht unser Buch kein “neues Fass“ auf, sondern weist auf diese Debatte aus aktuellen Anlässen hin: Die aktuell verantwortlichen Entscheider und Praktiker haben nämlich – und das ist eine entscheidende Prämisse! – kein eigenes Erfahrungsbild des Lernens und Lehrens in digitalen Medien. Damit ist die eigene Bildungsbiografie samt deren Reflexion das Gravitationszentrum des eigenen Lehrhandelns – auf das wir wie mit physikalischer Gesetzmäßigkeit zurückgeworfen werden. Daher mögen die Kollegien die zulässige Kritik geduldig