Digital lehren. Thomas Hanstein

Digital lehren - Thomas Hanstein


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worden ist. So manches Kollegium ist in dem sicher berechtigten Höhenflug der Kompetenzerfahrung 2020 aus mediendidaktischer Sicht an der Jahrtausendwende angekommen – andere setzen nun zu diesem Quantensprung, heraus aus der „digitalen Steinzeit“, an.

      Was mit ein wenig zeitlichem Abstand zwischen Zynismus und Fatalismus schwingt, ist ein simpler Zusammenhang: Die derzeit in der Digitalisierung gefragten und herausgeforderten Lehrenden können sich auf nichts berufen, was ihnen eine existenzielle Sicherheit ihrer Lehrendenrolle vermitteln könnte. Nicht die eigene Biografie und natürlich auch nicht die mitunter Jahrzehnte zurückliegende Lehrerausbildung. Doch was noch so gute Fortbildungsangebote nicht vermocht hätten, lag als Potenzial in der Corona-Krise, ganz im Sinne von Max Frisch’s Bonmot: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Jeder gute Lehrer ist auch ein gutes Stück weit kreativ. Seine Kreativität mündet in gelungener Improvisation, die stimmig auf eine bestimmte Klasse oder einen Kurs adaptiert wird. Die Schulschließungen und eine fehlende – für Behörden notwendige – Vorlaufzeit haben an diesen Basisqualitäten (ohne es zu wollen) wieder angesetzt und ganz neue, zum Teil ungeahnte Potenziale zum Vorschein gebracht. Kollegen, die sich jahrelang vor Whiteboard und Laptop gedrückt hatten, mussten ihre bewährte Komfortzone verlassen und über ihren eigenen (virtuellen) Schatten springen – in aller Regel mit Erfolg. Nach dem schrittweisen „Zurück“ aus dem Shutdown sehnte sich hier und da so mancher auch zurück in sein „altes“, analoges Klassenzimmer. Doch der „Rubikon“ ist überschritten, ein komplettes „Zurück“ in die „guten alten“ Zeiten wäre für die Bildungslandschaft fatal.

      Was also ist das Angebot dieses Buches? Mit dem Verweis auf eine seit circa 10 Jahren bestehende Empirie in virtuellen Lehr- und Lernsettings einer Fernhochschule soll ein reflektierter und methodisch-didaktischer Beitrag zur bildungstheoretischen und aktuellen lehrpraktischen Debatte geleistet werden. Basis für die Beantwortung dieser Fragen sind Expertengespräche, welche die Bildungsbiografie von Lehrenden mit den Erfahrungen kontrastieren, die in den letzten 10 Jahren der virtuellen Lehre zu beobachten waren. Damit repräsentieren diese Rückmeldungen die didaktischen Erkenntnisse der ersten Kohorten virtueller Studiengänge überhaupt, was mit einem Exkurs zum Designfernstudium näher dargestellt wird. Eine zweite Basis bieten erste Umfragen unter Lehrenden und Lernenden, unmittelbar nach dem Shutdown und der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts. Diese liefern bereits wichtige erste Erkenntnisse und sollen in den nächsten Monaten (mehr war bis zur Drucklegung nicht möglich) noch qualitativ untersucht werden. Über die Synthese dieser Datenquellen war es möglich, ein vielschichtiges Bild dieses – für alle Schulen und viele Hochschulen in Deutschland – neuen Phänomens als Praxisleitfaden zu entwickeln.

      Eine dritte Perspektive auf das Thema ergab sich durch die Reflexion von Methoden, die sich durch das virtuelle Coaching in den letzten Jahren erfolgreich etabliert haben und die für einen als Coaching verstandenen Unterricht einen methodisch-didaktischen Gewinn darstellen.

      Nach einem knappen theoretischen Teil zur grundsätzlichen Frage nach gutem Unterricht versteht sich der eigentliche Hauptteil des Buches als methodischer Praxisleitfaden. Entlang von Prinzipien, die aus dem Coaching und der Schulung von virtuell Lehrenden entstanden sind, wird über tatsächlich erlebte Lehr-Lern-Situationen verdeutlicht, wo die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Präsenz- und virtuellem Unterricht liegen. Dies soll aus der alltäglichen Sicht von Lehrenden deutlich werden, sodass die gemeinsame Reflexion auf die personale und die methodische Kompetenz lehrpraktisch nachvollziehbar wird. Um beide zu stärken, und damit den klassischen Schwerpunkt des Unterrichts – die Beziehungsdidaktik – werden im praktischen Schwerpunkt 64 Methoden vorgestellt (wobei sich die Zahl im Laufe der Lektüre, spätestens am Ende des Buches erschließen wird). Zwar ist mit dem Frühjahr 2020 eine Vielzahl an Einzelhinweisen und Sammlungen zu Apps und digitalen Tools für virtuelle Lehre und Fernunterricht entstanden. Wir knüpfen bewusst nicht daran an. Dass ist keine Wertung über dieses große Engagement und die kreativen Suchbewegungen. Doch wir gehen in unserem Unterricht und unserer Lehre nach dem Credo vor: Was sich im analogen Raum bewährt hat, muss als erstes für den virtuellen Unterricht auf Brauchbarkeit überprüft – und dann adaptiert und so zu sagen in die Digitalisierung hinüber „gerettet“ werden. Auch, dass wir in diesem Buch sparsam mit Hinweisen auf entsprechende Apps und digitale Tools sind, bedeutet keine Ablehnung gegenüber diesen Instrumenten. Viele davon nutzen wir selbst. Doch ist erstens nicht absehbar, wie lange die einzelnen Angebote auf dem Markt sind, wie sie sich entwickeln und – auch – in welche Abhängigkeit sie Schüler und Lehrende bringen werden. Und gilt zweitens – in der prinzipiell hohen Komplexität der virtuellen Lehre – ein Grundsatz aus dem Analogen umso mehr: Weniger ist mehr.

      Diese Aussage ist bekanntermaßen aus dem zentralen Ergebnis der Bildungsstudie des australischen Bildungsforschers John Hattie (vgl. Hattie/Zierer, 2018) entlehnt. Seine kurze, aber prägnante Botschaft lautete: „Know thy impact!“ Daher möchten wir an erster Stelle den Lehrpersonen einen zentralen Gedanken widmen: Den Berufsstand des Lehrers treibt ein gewisser Idealismus an. Was Hattie – nicht neu, aber wieder – betont hat, ist die Frage nach der Wirksamkeit des methodisch-didaktischen Handelns. Und an dieser setzen auch wir an. Denn Lehrende haben nicht den Auftrag, Stoff zu vermitteln, sondern einen Bildungsauftrag, im vollumfänglichen Sinne dieses Wortes. Auch unsere Haltungen und Formate sind geprägt von der Vorstellung, über gute Ideen Menschen auf gelingende Wege zu leiten und durch eine ganzheitliche Bildung die Welt „etwas besser zu machen“.

      Sind damit die Bildungseinrichtungen und Lehrenden so digital wie nie? Und sind das die besten Voraussetzungen für die Umsetzung des Humboldtschen Bildungsideals? Sind wir Zeugen der historischen Ablösung der Industriegesellschaft mit einer noch im Entstehen begriffen digitalisierten Wissensgesellschaft? So ideal ist es leider nicht. Sonst bräuchte es auch dieses Buch nicht. Denn in der idealistischen Sichtweise der Lehrenden steckt ein wesentliches Problem: Wir reproduzieren über unser eigenes Lehrhandeln unsere individuelle Vorstellung darüber, wie Wissen entsteht und dieses Wissen in Bildungseinrichtungen weitergegeben wird. Dabei haben wir naturgemäß keine andere Möglichkeit, als auf unsere eigene Bildungssozialisation zurückzugreifen. Diese Ausgangssituation an sich trifft keine Schuld – gerade, weil Lehrende aus einer tiefen persönlichen Überzeugung heraus handeln, ist dies gut und richtig. Allerdings ist beispielhaft die eigene Lerngeschichte sehr wirkmächtig für die Motivation zum Lehrberuf wie für die Art und Weise des Lehrens in praxi. Dies wird in Coachings von angehenden Lehrenden immer wieder deutlich. In der Regel gibt es da eine oder einen, der als Vorbild fungiert (hat). Die b&w-Redakteurin Maria Jeggle hat dazu festgestellt: „Erstaunlich ist, wie präsent die eigene Schulzeit bleibt, selbst nach 30, 40 Jahren (…) Lehrkräfte, die ermutigen, die Begeisterung auslösen oder im schlechten Fall verletzen, bleiben ein Leben lang im Gedächtnis“ (Jeggle, 2019, S. 18).

      Dieser Wirkungszusammenhang aus Sozialisation, Modelllernen, Kopieren, Abgrenzen und Idealismus … ist also keineswegs neu. Aber er prägt sich in den aktuellen Jahren im Kontext der Digitalisierung stärker aus. Einer der Autoren blickt selbstkritisch zurück:

      „Als leidenschaftlicher Junglehrer einer berufsbildenden Schule hatte ich im Typografieunterricht die beliebte Gewohnheit, die Tische aus der industriellen und militärischen Anordnung in kleine Arbeitsgruppen zu stellen. Ich liebte es, mit einem Stapel weißem Papier und Bleistift durch die Gruppen zu ziehen und in direktem Kontakt das jeweilige Projekt der Schülerinnen und Schüler zu besprechen. Das entsprach nicht zuletzt meiner eigenen Erfahrung in den Ateliers der Kunsthochschule. In dieser Situation kam ein Kollege auf mich zu. Er trug mir sein Projekt an, für eine Fernhochschule einen Studiengang im gestalterischen Bereich zu entwickeln. Und ich reagierte reflexhaft mit Skepsis. Aus purer Kollegialität sagte ich meine Mitarbeit beim Studienmaterial zu, obwohl ich vom Scheitern überzeugt war. Ich dachte dabei an Fernkurse, die auf der Rückseite von Fernsehprogrammheften beworben werden und eben nicht an akademische Bildung. Als das Studienprogramm Jahre später anlief und ich als Lehrender meine Vorlesungen gab, geschah etwas Erstaunliches: Ich sah, welche Talente von einem staatlichen und bis zu diesem Zeitpunkt auch privaten Bildungssystem ausgeschlossen waren. Und wie dankbar, konstruktiv und mit welchem Niveau die Studierenden diese Angebote annahmen. So wurde ich vom Saulus zum Paulus und vom


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