Digital lehren. Thomas Hanstein
Feld entwickelt und optimiert werden kann, zur zentralen Frage für mich als Lehrer und später als Forscher werden würde.“
Zur eigentlichen Problembeschreibung gibt es eine Vielzahl von externen und internen Hemmnissen, die eine Entwicklung und Verbreitung von digitalen Anwendungen in Lehre und Unterricht bremsen. Dabei möchten wir ganz selbstkritisch einige interne Faktoren benennen: Als leidenschaftliche Lehrer begegneten auch wir dem augenscheinlich fehlenden sozialen Lernen und dem offensichtlich abwesenden Sozialraum mit Vorurteilen, Sorge und auch schlichtweg fehlenden Erfahrungen. Aber auch externen Aussagen von Schulleitungen, den Kultusministerien sowie öffentlicher Einrichtungen war in der Corona-Krise zu entnehmen, dass diese nur vage formulierte Modeerscheinung aufgrund ihrer Intransparenz in den Kollegien finanziell wie ideell nur unzureichend unterstützt wurde. So versandeten viele gut gemeinte – sicher ebenso idealistische – Versuche in politischen Sonntagsreden, auf pädagogischen Tagen oder in Schubladen der Hochschuldidaktik.
Mit allein diesen externen und internen Barrieren lässt sich aber die nur schleppende Durchsetzung von blended Learning und E-Learning nicht erklären. Denn die oben beispielhaft aufgeführten landläufigen Gründe würden daraus hinauslaufen, dass der idealtypische, „durchschnittliche deutsche Lehrer“ diesem Phänomen schlichtweg inkompetent gegenübersteht. Doch das ist nicht der Fall. Gleichzeitig wird dieser Umstand mit dafür verantwortlich sein, wenn der Berufsstand des Lehrers in der – noch ausstehenden – Reflexion der Corona-Krisenbewältigung nicht so gut abschneiden wird. Nahezu alles, was die Lehreraus- und -fortbildung ausmacht, wurde in der Krise auf Eis gelegt. Und die Lehrer hatten sich mit dem zu behelfen, was auch grundständig zu ihrer Kompetenz gehört: einem guten Schuss Improvisation. Dieser Umgang soll hier nicht kritisiert werden, doch weiß auch jeder, dass nichts länger anhält als Provisorien. Insofern besteht die große Herausforderung „nach Corona“ darin, aus den vielen – mehr oder weniger – provisorischen Notfall-Lösungen Konzepte zu entwickeln, die tragfähig und nachhaltig sind. Dann wäre die Krise eine Chance für das digital steinzeitliche deutsche Schul- und in den meisten Fällen Hochschulsystem. In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass sich deutschen Schulen fortan vor allem an ihren neuen, in der Krise begonnenen Konzepten messen lassen müssen.
Bei allen Aufbrüchen gilt aber: In der Improvisation konnte nicht auf ein Erfahrungsbild zurückgegriffen werden. Diese Situation war für Lehrende gänzlich neu. Wir sehen also, dass im Rückgriff auf die eigene Bildungssozialisation die eigentliche Problematik liegt, die in der Hochschuldidaktik bereits breit und tief untersucht wurde. So kommt eine Studie mit dem Titel „Über die Rolle des epistemischer Überzeugungen für die Gestaltung von eLearning – eine empirische Studie bei Hochschullehrenden“ (vgl. Gruber, 2007) zu diesem zentralen Ergebnis: Durch die Beschäftigung mit E-Learning kommt es kaum zu Veränderungen der epistemischen Überzeugungen – die Befragten aus den Fächern der Wirtschaftsinformatik und der Pädagogik auf professoraler Ebene wie des Mittelbaus machten deutlich, dass die subjektiven Auffassungen von Veränderungen ihrer eigenen Rolle als Lehrpersonen, der Auffassung über die Natur von Wissen und über die Rolle der Lernenden kaum verändert wurden.
Dieser Befund ist die eigentliche Begründung, warum die Settings von E-Learning genau diese drei Ebenen verändern: Die Rolle der Lehrenden, die Rolle der Lernenden sowie der Vorgang des Kompetenzaufbaus selbst kommt in den Rahmenbedingungen von E-Learning massiv in Bewegung – wird aber gleichzeitig zu wenig bis gar nicht angemessen reflektiert. Da diese Bewegung der epistemischen Auffassungen für Lehrende grundsätzlich problematisch ist, begründet dies eine bislang geringe Verbreitung von E-Learning. Dies mag verwundern, da die technologische Entwicklung sowie die Infrastruktur zunehmend optimiert wurden – und werden. Allerdings sind Veränderungen in den ästhetischen Auffassungen nachgewiesen träge. Damit wurde das Potenzial von E-Learning auf den genannten drei Ebenen bisher mittelfristig weitestgehend nicht ausgeschöpft.
Damit kommen wir zu einer grundlegenden These unserer Lernforschung: dass eben diese Vorstellungen über das Entstehen und die Weitergabe von Wissen (und Kompetenz) in den Bildungseinrichtungen der zentrale Punkt ist, über den nachzudenken ist! „Know thy impact“ – Wisse, was du als Lehrer bewirken kannst! Übertragen auf die (zumindest) ersten Wochen des „Homeschoolings“ – der vielfach verwendete Begriff wird vorliegend in Anführungsstrichen gesetzt, weil dies mit Unterricht wenig zu tun hatte – bedeutet das: Bewirkt wurde eine Flut an Arbeitsblättern, überforderte Schüler und vor allem Eltern – das heißt in aller Regel Mütter. Das, was guten Unterricht erwiesenermaßen ausmacht – v. a. durch Individualisierung, Interaktion, Feedback, Wiederholung und Lernspiralen … – trat hinter die „Versorgung mit Stoff“ zurück. So tief und fest sitzen sie also, die sozialisierten Muster der eigenen Lerngeschichte.
Der Schulpädagoge Hilbert Meyer spricht von der „persönlichen Theorie guten Unterrichts“ (Meyer, 2007, S. 82). Diesen Ansatz fordern wir auch für die virtuelle Lehr- und Lernwelt ein. Er ist Gegenstand dessen, was unter dem Begriff „teacher beliefs“ (vgl. Elmer/Pauli/Reusser, 2011) pädagogisch erforscht wird. Wichtig zu betonen – und hier auf den Bereich des virtuellen Lehrens und Lernens zu übertragen – ist, was Meyer so selbstverständlich konstatiert: „Persönliche Theorien steuern die Wahrnehmung des Unterrichts und auch die im Prozess getroffenen Entscheidungen viel stärker als Theoretiker-Theorien“ (Meyer, 2013).
Im Personal und Business Coaching ist die „Wunderfrage“ ein übliches Tool, um Visionen zu entwerfen – und um von diesen her Ziele und Maßnahmen zu entwickeln. Darin spielen vor unserer Fragestellung die Lehrenden eine Pionierfunktion, die derzeit – nicht nur in Zeiten von Corona, sondern – in den in Nischen arbeitenden virtuellen Studiengängen eine weitere Bildungssozialisation erhalten (haben). In diesen „Nischen“ tummeln sich viele gute und in ihrer beruflichen Tätigkeit sehr bewährte akademische Fach- und Führungskräfte. Insofern ist dieses Format, die Hochschullehre durch hoch qualifizierte nebenberufliche Dozenten zu ergänzen, in aller Regel eine Bereicherung für die Hochschullandschaft. Insbesondere praktische Studienrichtungen profitieren davon. Gleichwohl ist der Unterschied zwischen Dozent und Lehrer zu reflektieren – wobei auf das „Dozieren“ im Gegensatz zum Unterrichten im folgenden Kapitel eigens eingegangen wird. Ein Lehrausbilder, der für den Direkteinstieg von Diplom-Ingenieuren in den gewerblichen Schuldienst verantwortlich war, fasst diese Problematik pointiert so zusammen:
„Der mag zwar ein hervorragender Fachmann sein, aber ein Lehrer wird er nicht. Der Mann hat seit fünfzehn Jahren eine Abteilung geleitet und ist über 40. Wer so viel Erfolg hatte, der muss in dem Alter bereits beratungsresistent sein.“
Hier mögen vielleicht Vorurteile mitschwingen, aber die Erfahrung des – älteren – Kollegen weist eindringlich darauf hin, dass es im Unterricht nicht vorrangig um das „Trichtern“ von „Stoff“ gehen kann. Folglich wird die Bedeutung des Lehrenden nur dann weiter zu eruieren und in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren sein, wenn die im virtuellen Kontext vorherrschenden – oder vielmehr unbewusst vorhandenen, aber das ist unwesentlich, denn sie beeinflussen in jedem Fall – „teacher beliefs“ thematisiert werden. Und zwar im Hinblick auf das eigene Selbstbild und Rollenverständnis sowie hinsichtlich der Wirksamkeit auf Lernende.
Erkenntnisreich ist eine Beschäftigung mit einer Generation von Lehrenden, die ihre fachliche Bildung aus virtuellen Kontexten haben. Konsequenterweise haben sie als Kollegen in Fernhochschulen nicht im Ansatz die Krisenerfahrungen, ein Lehrsystem neu denken zu müssen. Aber als im doppelten Sinn Autodidaktiker setzen sie Paradigmen um, die für uns „alte“ Lehrergeneration inspirierend sein können. Eine Vertreterin aus dieser Generation von Lehrenden, die ihre Bildungssozialisation in virtuellen Lernräumen erhalten haben, äußerte sich so:
„Das war mir nicht bewusst, dass ich jetzt die erste Generation bin, die es vom virtuellen Student zum virtuellen Dozent geschafft hat (…) Zum einen natürlich kann ich mich mit den Studenten sehr gut identifizieren, wenn sie Sorgen und Ängste haben. Oder Fragen. Ich weiß, wie wichtig es ist, dass man klare Ansagen macht (…) Manche meiner Dozenten haben sich immer sehr nebulös gehalten. Da hat so der Kontakt gefehlt. Und darum finde ich es eben wichtig, dass man klare Ansagen macht, gerade was Organisation angeht (…) Als Dozent muss man seinen Plan verfolgen und (…) expliziter Vorgaben machen, was eben gerade Zeitplanung angeht, wenn man bestimmte Übungen oder Frage-Sessions macht.