Digital lehren. Thomas Hanstein

Digital lehren - Thomas Hanstein


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werden. Der Elementarisierungsansatz geht auf die sogenannte theologische „Tübinger Schule“ zurück (vgl. Schweitzer, 2003). Die Religionspädagogen Friedrich Schweitzer und Karl Ernst Nipkow knüpften – als konzeptionelle Vorreiter – an die kritisch-konstruktive Didaktik nach Wolfgang Klafki an. Dieser hatte in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die drei Interdependenzen: Lehrender, Lernender, Lerngegenstand ins Zentrum gerückt (vgl. sein sogenanntes „Didaktisches Dreieck“). Auf der seither „mitlaufenden“ Frage nach dem Elementaren von Unterricht bauten Schweitzer und Nipkow ein strukturiertes Konzept auf.

      Mit dieser pointierten Fragestellung (nach Schweitzer) richtet sich die Unterrichtsplanung auf den ersten Aspekt der Elementarisierung, die elementaren Strukturen.

      Ein Autor dieses Buches unterrichtet Ethik. In der Corona-Krise wurden deshalb auch Fragestellungen aus dem konkreten alltäglichen Erleben aufgegriffen: „Worin besteht das ethische Dilemma der Politik bei der Kontakteinschränkung?“

      Mit einer solchen Leitfrage, die an den „Kern der Sache“ geht, ließ sich insbesondere bei einer Fülle an (täglich neu verfügbarem) Material der „rote Faden“ bewahren. Je komplexer, umso wichtiger ist daher dieser Zugang durch die Frage nach elementaren Strukturen.

      Mit dem Blick auf die Vorerfahrungen der Lernenden richtet sich die zweite Betrachtung auf die Frage nach den elementaren Erfahrungen.

      Am Beispiel der Einheit in Ethik: Sich in die Rolle eines Finanzministers oder gar der Kanzlerin hineinzudenken, wäre – in weitergehenden Rollenspielen – zwar möglich, aber ein für Schüler und auch Studierende abstrakter Zugang. Nicht anders eine Wiederholung des Grundgesetzes aus dem Gemeinschaftskundeunterricht. Also wurde der Unterricht induktiv, von den eigenen Erfahrungen der Lernenden her, entwickelt. Mit Kernbegriffen wie „Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, „Freizügigkeit“ „Unverletzlichkeit der Wohnung“ – auf Karten – ließen sich leicht biographische, kreative, ästhetische und spielerische Methoden einbinden.

      Erst, wenn sich die Relevanz nicht nur kognitiv erschließt, sondern auch authentisch spürbar wird, ist die Bedeutsamkeit des Themas auch über die folgenden Unterrichtsstunden hinaus gesichert. Doch nicht nur das: Ein solcher Unterricht anhand der elementaren Erfahrungen der Lernenden ist – best case – durch und durch erfahrungsorientiert. Das heißt, dass der Unterrichtsprozess auch bei fortschreitender Komplexität und Abstraktion immer wieder an diese Frage nach den elementaren Erfahrungen rückgebunden werden sollte. Denn sie hat den „Sitz im Leben“ des Themas im Blick.

      „Jede Videobotschaft hat mich ermutigt und inspiriert – sie hat mich dazu herausgefordert, das Beste zu geben und mich noch intensiver zu beschäftigen und nachzudenken“ (Lanig, 2019, Anhang Band 1, S. 43).

      Es wäre vorschnell, das Medium der Videobotschaft und den bereits diskutierten „Methodenzauber“ als Begründung für die Zugänglichkeit zu nehmen. Denn in diesem Zitat wird exemplarisch die Individualisierung als zwischenmenschlicher Zugang rückgemeldet. In den einzelnen Schritten dieser Entwicklung sind biografische Entwicklungen zu sehen, die sich in den Handlungen der Lernenden zeigen. Die empathische Nähe von Lehrenden und Lernenden ist ein Anspruch, der gerade in der vermeintlichen „sozialen Distanz“ eines digitalen Lerngeschehens eine hoffnungsvolle Renaissance erlebt.

      Mit der dritten Leitfrage des Elementarisierungsansatzes greift der Lehrende in der Planung seines Unterrichts noch weiter aus: zur Perspektive der elementaren Zugänge.

      Im Beispiel des Faches Ethik bezieht diese Perspektive Modelle des „moralischen Urteilens“ (z. B. von Lawrence Kohlberg, Fritz Oser, Detlef Garz, Tilmann Habermas o. a.) in die Adressatenanalyse mit ein.

      Entwicklungspsychologische Grundlagen sind hierbei zu berücksichtigen, sodass sich ein Unterricht in der Sekundarstufe I bereits von den Zugängen der Lernenden her ganz anders gestaltet als in der Oberstufe. Analog verhält es sich zur Hochschullehre.

      Mit der vierten Fragestellung ist zweifelsohne eine theologische Besonderheit angeschnitten: die Frage nach den elementaren Wahrheiten.

      In der angedeuteten ethischen Unterrichtseinheit gab ein junger Mann bereits in der zweiten Woche der Corona-Krise seine Einschätzung bekannt: „Also, das kann kein Land mehrere Monate so durchhalten. Die Wirtschaft ist dann doch am Boden.“

      Politik und Gesellschaft befanden sich in einer neuartigen Situation. Es gab keine Erfahrung, auf die man sich hätte berufen können; natürlich auch kein Schulbuch, das hierfür geeignet gewesen wäre. Mit anderen Worten: kein Richtig und kein Falsch. Die wahrhaftige Meinung der Lehrenden ernst zu nehmen und zum „Thema“ des Unterrichts zu machen, stärkt deren Kompetenzen – und zwar alle.

      Die fünfte Perspektive des Elementarisierungsansatzes fragt – erst jetzt, allein das ist wichtig wahrzunehmen – nach den elementaren Lernformen.

      Aufgrund der persönlichen Betroffenheit wurden die angesprochenen Ethikstunden zu Beginn stets von den alltäglichen Erfahrungen her aufgebaut: „Wie kommen Sie und Ihre Familienmitglieder mit den Einschränkungen klar?“ – „Wo besteht bei Ihnen im Ort Unterstützungsbedarf und wer kümmert sich darum?“ – „Mit wem sprechen Sie sich über Ihre Empfindungen aus?“ Zusätzlich wurden vom Lehrer Fallbeispiele aus der lokalen Presse vorbereitet und an passenden Stellen eingeführt.

      Auch wenn beide Ansätze unabhängig voneinander entstanden sind: Die Elementarisierung führt automatisch in die Handlungsorientierung. Denn sie nimmt die Lernenden als Subjekte, Akteure und – mehr noch – Experten des Lern- und Bildungsprozesses ernst. Was so leicht über die Lippen geht, ist weder Methodik noch Didaktik – sondern pädagogische Haltung.

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      Abb. 4: Hand in Hand: Zweck und Ziel

      „Jemand agiert mit jemandem, in bestimmter Weise, in einer bestimmten Situation, in Bezug auf etwas, mit einem bestimmten Zweck und Ziel“ (Pfister, 1993, S. 38).

      Mit diesem anschaulichen Satz beschreibt der Pädagoge Hans-Jürgen Pfister die konkreten Auswirkungen dessen, was unter dem Namen Handlungsorientierung bekannt geworden ist. Mit diesem berufspädagogischen Unterrichtskonzept knüpfte die Erziehungswissenschaft an wesentlichen Erkenntnissen aus der Philosophie und Anthropologie an: Die Schweizer Hans Aebli und Jean Piaget hatten beispielhaft auf den dialektischen Zusammenhang von Denken und Handeln verwiesen. Demnach sei der Ursprung des Handelns nicht im Denken zu sehen – sondern genau anders herum: Der Vorgang der Assimilation beschreibt demnach die Anpassung der Inhalte, welche die Umwelt bereithält, an die eigene kognitive Struktur. Der Prozess der kognitiven Akkommodation ist wiederum die Anpassung der eigenen kognitiven und sensomotorischen Fähigkeiten an die Inhalte, welche die Umwelt bietet. Entscheidend ist der dialektische Charakter dieser Wechselbeziehung beider Bewegungen. Denn er bietet ein treffendes Bild dafür, wie handlungsorientierter Unterricht aussehen sollte: Lernenden wird es – durch eine entsprechende Planung und Durchführung des Unterrichts – ermöglicht, über – ihrer Entwicklung gemäße – Handlungsprozesse zum Aufbau innerer Denkstrukturen zu gelangen (vgl. ebd.).

      Dieses Wechselspiel von Assimilation und Akkommodation eignen sich die Lernenden im berufsbildenden Bereich in der Auseinandersetzung mit der berufspraktischen Relevanz des Gelernten an. Ein lebenspraktisches Beispiel aus dem Bereich Grafik kann dies beispielhaft verdeutlichen:

      „Ich denke so: ‚Hey ich habe doch für Semantik jetzt das so und so gemacht‘ (…) Ich frage mich, wie wäre es, wenn ich das irgendwie mit in meinen Berufsalltag integrieren könnte. Wo mein Chef dann auch mich mal anguckt und sagt: ‚Wo hast du denn jetzt diesen Move her …?‘“ (Lanig, 2019, Anhangband 1, S. 46)


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