Digital lehren. Thomas Hanstein
– was meint: als selbstgesteuertes, als entdeckendes und als reflektiert-reflektierendes Lernen. Damit lässt sich handlungsorientiertes Lernen als ganzheitliches Lernen definieren, „bei dem kognitive, affektive und psychomotorische Lernprozesse ineinander verzahnt sind, möglichst viele Sinneskanäle angesprochen werden, soziale Lernprozesse die individuellen Lernaktivitäten ergänzen und in Lernaufgaben eingebunden sind, die mehrere Wissensbereiche umfassen“ (Henning/Schannewitzky, 1994, S. 52). Handlung zielt also – auch im berufsbildenden Kontext – nicht rein auf das Produkt ab. Dieser Hinweis scheint wichtig, weil gerade in der beruflichen Ausbildung und in Studienfächern mit praktischer Ausrichtung auch immer die Gefahr „Materialisierung“ von Bildung besteht – wird doch in diesen Bereichen in erster Linie für den „Markt ausgebildet“ (allein das Verb ist verräterisch).
Abb. 5: „Das magische Dreieck der Handlungskompetenz“ nach Wolff
Das grundsätzliche Ziel handlungsorientierten Unterrichts und – hier auch für den virtuellen Kontext geforderter – handlungsorientierter Lehre besteht in der kreativen Erweiterung der (schon qua Mensch bestehenden) Handlungskompetenz der Lernenden – als Subjekte des Bildungsprozesses. Nach dem so genannten „magischen Dreieck der Handlungskompetenz“ erstreckt sich diese auf die Subkomponenten Fach-, Human- und Sozialkompetenz. Hinzu kommen die instrumentalen Kompetenzen Methoden-, Lern- und Sprachkompetenz. Nach dem Grundsatz, dass das Denken aus dem Handeln hervorgeht, gelangen die Lernenden durch die Wechselwirkung der drei Subkomponenten und mit Hilfe der – in Lernprozessen erworbenen und weiterentwickelten – instrumentalen Kompetenzen zum eigentlichen Ziel des handlungsorientierten Unterrichts: zum handlungskompetenten Individuum (vgl. Wolff, 1996, S. 17–19).
Die Wechselwirkung der Kompetenzen im handlungsorientierten Ansatz macht den Sitz und die Bedeutung der – in einem Methodenbuch wesentlichen – Methodenkompetenz deutlich. Sie besitzt eine sozusagen „dienende“ Funktion. Das ist keine Herabsetzung, es bewahrt nämlich vor einem Methodenzauber, der am Ziel vorbeigehen würde. Und dieses heißt: die „Bereitschaft und Fähigkeit (…) in privaten und beruflichen Situationen (…) sachgerecht zu handeln“ (ebd., S. 19). Denn genau darin gibt sich das handlungskompetente Subjekt zu erkennen. Dass dieser Prozess im Grunde kein Ende hat, mag vielleicht manch ehrgeizigen Junglehrer ernüchtern. Doch darin zeigt sich das humanistische Erbe dieses Ansatzes, das – genau genommen – auch viel Entlastung in sich birgt. Denn so dürfen Fehler sein. Fehler, an denen sich – im besten Fall alle – Kompetenzen weiterentwickeln können.
Fehler sind erlaubt – und notwendig
Der pensionierte Gymnasiallehrer Hans Klaffl bezeichnet sich selbst als „Staatskabarettist auf Lebenszeit“. Mit viel Humor, einer tüchtigen Prise Sarkasmus, aber vor allem Erfahrung nimmt er seit Jahren in seinen Auftritten den Berufsstand des Lehrers selbstkritisch aufs Korn (vgl. beispielhaft https://www.youtube.com/watch?v=WMt4NlbjC4U; https://www.youtube.com/watch?v=bLF6eUcJfsQ, Zugriff: 06.05.2020). Wer sich diese Clips gern – als Lehrer – selbst anschaut und darin Lohnenswertes zu finden meint, der möchte sie natürlich auch teilen. Dabei hat ein Autor dieses Buches eine interessante Entdeckung gemacht: Es gibt gewisse Passagen, über die lacht der einzelne Lehrer, aber, wenn man den Clip in einer Lehrerfortbildung oder an einem pädagogischen Tag einbinden möchte, muss man gut beraten sein. Denn es kann sein, dass die große Mehrheit schweigend oder gar mit verbissenem Gesicht dasitzt, während sich nur einzelne an dem Lachen des Referenten beteiligen. Kann es sein, dass der Berufsstand des Lehrers nicht sehr selbstkritisch ist? Und wenn ja, woran liegt das? Ein erfahrener Fachberater äußerte sich in einem Coaching wie folgt:
„Wissen Sie, was ich mittlerweile glaube? Dass viele von uns deshalb in diesen Beruf gegangen sind, weil sie so ihre eigenen Schulerfahrungen verarbeiten können. Nach dem Motto: kein Beruf, sondern eine Prognose. Und sind wir doch mal ganz ehrlich: Ist es nicht ein gewisses Machtgefühl, seinen Rotstift ansetzen zu können? Ich kenne Lehrer, denen gibt das regelrecht Befriedigung (…) Nicht die Fehler zu suchen, sondern sich über das zu freuen, was an Originalität da ist und als offensichtlicher Lernfortschritt, das sollte uns doch beflügeln.“
Die klassische Lehrerausbildung und der klassische Lehreralltag sind zum großen Teil davon bestimmt, Fehler zu suchen, aufzuspüren und anzukreiden (wieder ein verräterisches Wort der Umgangssprache). Das kann so weit gehen, dass die Korrektur eines Deutschaufsatzes durch den fehleranalytischen Blick die Freude für das, was inhaltlich an Originalität in einen Guss gebracht worden ist, nicht mehr zulässt. Man sieht – buchstäblich – nur noch Rot (das Wort ist ebenso interessant). Insofern gehört in die Ausbildung und das Onboarding von Lehrenden die Bewusstseinsarbeit der Fehlerfreundlichkeit. Am experimentellen Lernen lässt sich erkennen, dass Fehler lernpsychologisch wichtig und sogar notwendig sind. Martin Wagenschein hat bereits vor 100 Jahren angestrebt, dass Lernende „grundlegende Ideen und Strukturen durch eigene Aktivitäten hervor(zu)bringen und (zu) prüfen, insbesondere im Handeln und im kommunikativen Austausch“ (Köhnlein, 1998, S. 16) – aber das funktioniert nicht ohne eine wertneutrale Haltung gegenüber Fehlern. Denn sie sind lediglich ein Ausdruck dessen, was – und warum es – nicht funktioniert hat. Und damit ein Hinweis darauf, es auf andere Weise zu versuchen. Dieser experimentelle und exemplarische Unterrichtsansatz geht der Leitfrage nach: „Wie bewältigen Kinder von sich aus Phänomene, die ihnen auffallen, wie bauen sie Wissen auf, gewinnen Erfahrungen, und wie versuchen sie schließlich, sich die Sachverhalte verstehend zu eigen zu machen?“ (Ebd., S. 9)
Wagenschein war Naturwissenschaftler, aber vor allem Pädagoge mit einem epistemischen Interesse. Aus Quellen wie diesen kann auch heute noch geschöpft werden, wenn es gilt, im Schul- und Hochschulwesen das zu etablieren, was seit Jahren politisch beschworen wird – Digitalisierung. Denn Elementarisierung, Handlungsorientierung und ein fehlerfreundliches pädagogisches „trial-and-error-Prinzip“ sind Ansätze, die sich nicht auf das analoge Lehren und Lernen beschränken müssen. Vielmehr hat die digitale Gestaltung und Erschaffung von Wirklichkeit längst begonnen. Die Frage ist nur, wie lange einer der wichtigsten Pfeiler der Gesellschaft – die Aus- und Weiterbildung – hier hinterherhinken will (bzw. es sich erlauben kann und zu welchem Preis).
Wer lernt, befindet sich – und dies ist eine Haltungsfrage mit Konsequenzen für Lernende wie Lehrende – im Status der Unvollkommenheit. Die ausgewählten pädagogischen Ansätze wissen um diese Prämisse. Ihnen ist gemeinsam, dass Bildungsprozesse vor allem die Reduktion auf das Wesentliche benötigen, eine dem Lernen und der Selbstständigkeit angemessene Struktur, auch Raum zum Erkunden und soziales Lernen – und all dies „läuft“ auch in virtuellen Räumen: mit gutem Willen, Gelassenheit und ein wenig Geduld und Zeit.
Kapitel 3
Weg vom mechanistischen Denken
Der Pädagoge Rolf Arnold plädiert für eine „Ermöglichungsdidaktik“ (vgl. Arnold, 2012). Ein Individuum zu sein bedeutet nämlich auch, über eine individuelle Denkstruktur zu verfügen. Das heißt: Auch, wenn ein Lehrer meint, seine Schüler bestmöglich zu kennen, so kann er sprichwörtlich nicht „in sie reinschauen“. Seine eigene individuelle Denkstruktur wiederum – wenn auch nur unbewusst – auf die Schüler übertragen zu wollen, wäre Wiederholung der „Nürnberger Trichter“-Übung. Arnold appelliert an eine „systemische Pädagogik“, die dieses Wissen um die je eigenen Denkstrukturen ebenso ernst nimmt wie Gruppenprozesse. Basis dieses Modells bildet die Investition in die Selbstlernkompetenz der Schüler/Studierenden, was aber dem Lehrenden eine neue Rolle zuschreibt: „Die systemisch-konstruktivistische Pädagogik drängt uns zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Lehren und Lernen“ (ebd., S. 120). Während eine „mechanistische Didaktik (…) auf Einheit, Inputsteuerung und Standardisierung setzt“ (ebd.), baut die systemische Ermöglichungsdidaktik auf dem Prinzip der Selbstständigkeit durch Aneignen.
Diese Didaktik fußt auf Erkenntnisse, die die neurophysiologische Kognitionsforschung bereits vor Jahren vorgelegt hat, zum Beispiel: „Das Hirn konserviert keinen Abdruck von außen; es generiert sich ‚seine‘ Welt, in der