Digital lehren. Thomas Hanstein
habe, man sitzt da und dann ist man so in seinem Tunnel und man sieht den Dozenten. Dann stellt der Dozent eine Frage. Es sind immer die gleichen Studenten, die mit dem Dozenten interagieren. Es gibt viele, die diese Anonymität nutzen und unter dem Deckmantel der anderen so mitschwimmen. Die interagieren kaum (…) Virtuell sind die Studenten proaktiver und ergreifen von sich aus Initiative, zeigen und laden was hoch und so (…) Barrieren gab es eigentlich nicht. Und wenn dann konnte ich sie eben aus der Welt schaffen, in dem ich klare Ansagen machte, es gut organisierte und die Studenten so abholte.“
Hier wird exemplarisch deutlich, wie sehr der subjektive Blick des Lernenden Eingang findet in die eigene Unterrichtsgestaltung. Einmal mehr bewahrheitet sich hier die Notwendigkeit einer Empathie in der Unterrichtsvorbereitung: Denn durch den „Tunnel“ in die virtuelle „Blase“ der Studierenden zu gelangen ist ein bestechendes Bild für eine handlungsleitende Unterrichtsmetapher:
„Wie gesagt, also ich finde halt, wir leben alle in unserer kleinen Blase. Ja, wir leben alle unser eigenes kleines Leben, von dem die anderen außerhalb von der Uni nichts mitbekommen (…) Ich sehe meine Kommilitonen und die sehen mich ja nur auf dem Bildschirm (…) ansonsten sind diese Menschen in meinem Leben nicht vorhanden (…) ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner von meinen Kommilitonen auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was ich den ganzen Tag mache. Genauso wie es mich andersrum, ehrlich gesagt herzlich wenig interessiert“ (Lanig, 2019, Anhangband 3, S. 75).
Wahrnehmungen wie diese haben uns für die Metapher der eigenen „Blase“ sensibilisiert – dazu später mehr.
Oder kommt es auf den Unterricht an?
So wird es leicht nachvollziehbar, weshalb Hilbert Meyer dem Hattie-Diktum die Perspektive des Unterrichts gegenüberstellt (Meyer, 2013). Was auf den ersten Blick als Widerspruch wirken kann, ist als Ergänzung zu verstehen. Mit Hattie betont Meyer die pädagogische Wirksamkeit, die der Lehrende hat bzw. haben kann und die es immer wieder zu reflektieren gilt: Wie wirke „ich“, meine Sprache, meine Arbeitsaufträge, meine Präsenz im Raum … wie wirkt letztlich meine Persönlichkeit als Lehrender? Denn wenn ich das Lernen als Lehrer zu organisieren, zu strukturieren und zu steuern habe, muss ich um diese Wirkungen wissen, um all dies auch adressatengerecht umsetzen zu können. Dass aber Unterricht mehr ist als die beste Organisation, Struktur und Steuerung, wird wiederum – und nicht zuletzt – am „Corona-Homeschooling“ deutlich. Denn all das haben die allermeisten Lehrer bestmöglich versucht umzusetzen. Doch es blieben große Unzufriedenheiten, nicht nur bei den Elternhäusern, sondern auch bei den Pädagogen selbst. Ein Kollege, der seine ersten Jahre an der Schule gut hinter sich gebracht hatte und aufgrund seines Alters auch sehr affin für digitale Plattformen war, sagte im Coaching:
„Ich freue mich so darauf, wenn ich meine Schüler mal wieder in echt sehe. Das, was nebenbei läuft, worüber wir spontan lachen, was dem Unterricht auch Menschlichkeit und Lebensqualität gibt, das fehlt mir alles im Digitalen. Nein, es macht mir gerade und zum ersten Mal im Leben keinen Spaß mehr Lehrer zu sein. Ich lehre ja auch gerade nicht, ich fertige Materialien an, als wenn ich Autor eines Schulbuchverlages wäre …“
Dieser Hinweis soll nicht bedeuten, dass all das, was der junge Pädagoge vermisst hat, im virtuellen Raum nicht möglich wäre. Die langjährige Erfahrung unserer virtuellen Schulungen und des kollegialen virtuellen Coachings sieht eindeutig anders aus. Aber es braucht einige Jahre der Entwicklung, bis sich ein vergleichbarer Zustand – auf beiden „Seiten“ – einstellt. Und dieser beginnt immer mit der Reflexion. Insofern wären Rückmeldungen wie diese für die Bildungssysteme von entscheidender Bedeutung. Denn nur, wenn der Lehrende seine Wirksamkeit durch eine implementierte – und auch gewollte – Feedbackkultur immer wieder neu „einholt“, kann er diese blinden Flecken seiner eigenen Wahrnehmung ausgleichen und die Qualität seines Unterrichts optimieren. Kollegen, wie dem hier beispielhaft angeführten, ist dieser Umstand offenbar intuitiv bewusst. Entscheidend für die Weiterentwicklung schul- und hochschulischer Strukturen wird es aber sein, ob und inwiefern diese Erfahrungen auch vom jeweiligen System eingeholt wurden – und zwar zeitnah und nicht zum ersten Mal im Herbst 2020 – und werden. Denn wie Lehrende brauchen auch diese ein breites und differenziertes Feedback. Nie war es so flächendeckend vorhanden wie jetzt – insofern besteht in der Corona-Krise für die Weiterentwicklung von Lehren und Lernen eine riesige Chance.
Neben der anhaltenden Reflexion der Persönlichkeit und Wirksamkeit des Lehrenden sowie der „teacher beliefs“ muss bei dieser doppelten Herangehensweise deshalb die erste Frage sein:
Und: Was ist eigentlich „guter“ Unterricht?
Denn, nur wenn hierüber weitestgehende Einigkeit besteht, ist es möglich, den Blick auf die Frage nach einem guten Fernunterricht und einer guten virtuellen Lehre zu richten. Anders gefragt: Wodurch wird und wann ist Unterricht „gut“?
Um nochmals bei Hattie anzusetzen, können die Glaubwürdigkeit des Lehrenden, seine im Lernprozess gegebenen Rückmeldungen an die Lerngruppe, die Anregung zur Diskussion im Unterricht, eine verständliche und klare Sprache des Lehrenden sowie – wie oben bereits angedeutet – regelmäßiges Feedback von Seiten der Lernenden als die fünf wichtigsten so genannten inferenten Faktoren betrachtet werden (vgl. Hattie, 2012, S. 251–254). Hilbert Meyer hat diese Erkenntnisse in seiner Hattie-Analyse durch die ältere Lehrerbildungs-Metaanalyse von Seidel & Shavelson (vgl. Seidel/Shavelson) bestätigt. Und fordert daraus für einen guten Unterricht: Er ist durch ein angemessenes Lerngerüst – scaffold leitet er aus der englischsprachigen Unterrichtsforschung ab – gekennzeichnet. Dieses „Geländer“ garantiere sowohl den individualisierenden wie den kooperativen Unterricht, freilich in einer gelungenen Mischung: „Wichtiger als der leidige Streit über die Frage, ob offener Unterricht besser als der herkömmliche lehrerzentrierte Unterricht ist, ist die Frage, welche Lerngerüste in allen Grundformen aufgebaut werden“ (Meyer, 2013, S. 9).
Abb. 1: Scaffolding durch ein Lerngerüst
Mit diesem Hinweis wird auch klar, dass es nicht das eine verbindliche Rezept für den guten Unterricht geben kann. Doch es bestehen bewährte Ansätze, die auf die virtuelle Lernwelt zu übertragen lohnenswert sind. Denn sie formulieren Prämissen, die unabhängig von Alter und Schulart sowie ebenso von Unterrichts- und Studienfach gelten. Ein weitestgehend geteiltes pädagogisches Axiom ist das Verständnis von Unterricht als Bildungsgeschehen. Wird dieser Auftrag vom Lehrenden verinnerlicht, so wird bereits dieser Begriff fragwürdig, da sich das „Lehren von etwas“ bereits auf die Prozesshaftigkeit des „Lernens von“ verschiebt. Insofern ist es konsequent, wenn die Erziehung zur Selbstständigkeit als eines der nächsten Ziele abgeleitet wird. Wolfgang Klippert hat diesen Ansatz zu den Visualisierungen „Lernspirale“ und „Haus des Lernens“ ausgebaut (vgl. Klippert, 2001). Beide sind aufgrund ihrer Bildsprache anschaulich und eingängig: Mit Hilfe der Lernspirale „bohrt“ sich der Lernende in seiner Geschwindigkeit in das Thema – im besten Fall in eine für ihn individuell motivierende Herausforderung – hinein. Um dieses komplett „gebohrt“ zu bekommen, bedarf es mehrerer Schritte, auch des „Herausziehens“ des Werkzeuges, sodass sich diese Methode durch ihre Strukturierung und ihre bewusste Mehrstufigkeit – in Analogie zum Werkunterricht: Anreißen, Vorbohren, Nachbohren, Entgraten – auszeichnet. Ein solches Vorgehen ist zudem nur durch eine Mischung aus Schüleraktivierung, individualisiertem und kooperativem Lernen möglich. Es braucht Phasen der Begleitung und Förderung, Zeit für Rückfragen und Bestätigung. Somit fordert Klippert bereits mit dieser – einen – Methode Kompetenzorientierung. In seinem Haus des Lernens bringt er diesen Ansatz in eine Struktur: Das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen – „EVA“ – gelingt nach Klippert dann, wenn Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz gleichwertig im Bildungsprozess berücksichtigt werden. Die Lernarbeiten der Schüler und die Organisationsformen des Lernens werden so gewählt, dass sie alle drei Kompetenzen gleichermaßen erfüllen. Das pädagogische – bildlich im Dachgeschoss angesiedelte – Ziel so verstandenen Lehren und Lernens ist die ausgeprägte persönliche Kompetenz des Schülers mit fundierten, fachlich übertragbaren Schlüsselqualifikationen.
Forscher wie Franz Weinert unterstützen diesen praktischen Ansatz, wenn