Breathe Again. Katie Weber

Breathe Again - Katie Weber


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er passte dabei auch noch auf Annie auf. Dabei war er selbst gerade einmal neunzehn und hatte kaum einen Plan vom wahren Leben, geschweige denn vom Erwachsenwerden.

      Es fiel mir schwer, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es für Ben und Annabelle besser war, von hier wegzugehen. Zwar wusste ich und verstand auch, warum das so war, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Schließlich mochte ich keinen von beiden verlieren.

      Ben war wie ein Bruder für mich, seitdem wir uns im Alter von zwei Jahren im Sandkasten einen Sandkuchen geteilt hatten. Wir waren schon immer unzertrennlich, auch wenn wir noch so verschieden waren. Und mit Annie war es genauso. Sie war so etwas wie meine kleine Schwester. Zumindest war sie das früher einmal für mich gewesen …

      Mein Blick wanderte ganz automatisch vom sternenbedeckten Himmel zu dem Mädchen neben mir, das mit sichtlich traurigen Augen nachdenklich nach oben starrte. Woran sie wohl gerade dachte? Obwohl sie ganze drei Jahre jünger als Ben und ich war, hatte ich oftmals das Gefühl, sie wäre weitaus reifer und erwachsener als wir zwei Kerle zusammen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sie mit dem Tod ihrer Eltern wesentlich schlechter zurechtkam als Ben.

      Ich wünschte, ich könnte ihr auch nur ansatzweise ein wenig der Trauer nehmen, die sie noch immer verspürte. Doch ich wusste, ich war der Falsche für so etwas. Ich war der Idiot, der Witze riss, wenn ich überfordert war. Und ich war auch der Idiot, der alles ins Lächerliche zog, wenn ich nicht wusste, was ich sagen oder wie ich reagieren sollte. Ich konnte nur selten ernst bleiben. Schon gar nicht, wenn es um solche Themen ging.

      Ben wusste das und deswegen hatte es ihn nie gestört, dass ich ihn nach dem Tod seiner Eltern nicht einmal darauf ansprach. Ich hatte ihn lediglich am Tag danach in den Arm genommen, hatte ihn still und kommentarlos weinen lassen und weder er noch ich verloren danach auch nur ein Wort darüber. Für uns beide war das in Ordnung so. Doch bei Annie war es etwas anderes.

      Ich wusste bis heute nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte, seitdem das alles passiert war. Früher hatte ich sie ständig in den Arm genommen, wir waren uns häufig sehr nah gewesen und keiner von uns beiden fand es auch nur im Geringsten seltsam oder unpassend.

      Das hatte sich allerdings geändert. Nicht zuletzt wegen eines ganz bestimmten Vorfalls vor wenigen Tagen. Seitdem schien alles anders – zumindest zwischen ihr und mir. Ben wusste nichts von all dem und bemerkte die Veränderung gar nicht, wofür ich ehrlicherweise dankbar war. Auf seine Fragen, die er stellen würde, hatte ich nämlich keinerlei Antworten.

      Als spürte sie meinen Blick auf sich brennen, wandte Annie mir plötzlich ihr Gesicht zu und schaute mich aus ihren unverkennbar apfelgrünen Augen an. In diesem Moment erkannte ich wieder einmal, es gab doch eine Antwort auf das alles. Doch diese würde weder Ben noch mir gefallen. Vor allem aber würde sie keinem von uns guttun. Annabelle am allerwenigsten …

      Annabelle

      »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.« Jonahs Worte hallten wieder und wieder in meinem Kopf, auch wenn es bereits Tage her war, seitdem er mich aus heiterem Himmel angerufen und mich damit ungewollt mit meinen verdrängten Erinnerungen konfrontiert hatte. Dabei hatte ich nun wirklich größere Probleme, als mich mit diesem Idioten auseinanderzusetzen. Es gab Schlimmeres, das ich begreifen und verarbeiten musste.

      Mein Bruder war verdammt noch mal vor drei Tagen gestorben, wie konnte da mein Hirn dennoch ständig nur an diesen Anruf denken? Vielleicht tat es das auch mit voller Absicht. Um mich von dem abzulenken, was ich nicht zu denken wagte.

      Ben war fort. Für immer von mir gegangen. Und obwohl sein Kampf ein langer und schmerzvoller gewesen war, so konnte und wollte ich es noch immer nicht wahrhaben. Verstehen schon gar nicht. Womit hatte ich so etwas verdient? Wie konnte es so weit kommen, dass mich alle, die ich liebte, verließen? Zuerst meine Eltern, dann Jonah und nun auch noch mein großer Bruder, mein Held.

      Ich war allein. Diesmal war ich tatsächlich komplett allein und niemand stand an meiner Seite, um mich vom Fallen aufzuhalten – um mich zu retten. Schließlich war das Bens Aufgabe gewesen. Sein Leben lang hatte er auf mich aufgepasst, so wie es ein großer Bruder tun sollte. Er war immer für mich da, egal, was für einen Blödsinn ich trieb und wie stur ich war. Benjamin gab niemals nach und rettete mich jedes Mal, wenn ich fiel. Und ich fiel verdammt häufig. Mal auf die Nase, mal auf den Hintern. Doch der Aufprall hatte nie so wehgetan wie in diesem Moment. Denn jetzt war mein Bruder nicht mehr da, um mich aufzufangen. Er würde es nie wieder tun. Und ich? Ich würde fallen, so tief fallen, dass ich nicht sicher war, ob ich es diesmal zurück auf die Beine schaffte.

      »Bist du sicher, dass ich dir nicht mit den ganzen Sachen helfen soll?« Claras Frage riss mich aus den Gedanken. Meine Mitbewohnerin starrte mich bereits minutenlang entgeistert an, so als wäre ich übergeschnappt und könnte nicht mehr klar denken. Doch was das anging, war mein Kopf mehr als klar.

      »Ich kann Bens Sachen nicht einfach wegschmeißen oder der verdammten Wohlfahrt spenden. Das geht auf keinen Fall!« Wie eine Verrückte in ihrem Wahn stapelte ich unzählige Hemden und T-Shirts meines Bruders in meinen Schrank, auch wenn der längst aus allen Nähten platzte. Schließlich war er winzig – genau wie das Zimmer, das ich seit über einem Jahr bewohnte.

      Bens Krankenhausaufenthalte, seine Medizin und die Therapien, die am Ende doch zu nichts führten, kosteten uns ein Vermögen. Zuerst musste das letzte Erbe unserer Eltern daran glauben, dann Bens eigenen Ersparnisse und am Ende war es mein weniges Hab und Gut, das ich für das Leben meines Bruders opferte.

      Bis zu seinem Tod wusste er nichts davon, dass sein Geld längst aufgebraucht und seine Rechnungen von mir beglichen werden mussten. Ben hatte keine Ahnung davon, wie kurz wir beide vor der Pleite standen, und das war auch gut so. Er hatte auch so genug Sorgen und musste sich mit weitaus schlimmeren Dingen auseinandersetzten, die er Tag für Tag irgendwie zu überstehen versuchte.

      Ich würde schon irgendwie klarkommen. Und wenn es mit diesem beschissenen Kellnerjob war, dem ich seit einigen Wochen im Charlies nachging, um mir zumindest das Zimmer in der WG weiterhin leisten zu können und nicht zu verhungern. Mehr brauchte ich im Augenblick sowieso nicht. Alles, was ich wollte, war meinen Bruder zurückzubekommen. Doch das würde nicht passieren. Niemand würde ihn mir zurückbringen. Deswegen war mir auch egal, wie es mit mir weiterging.

      Als Ben ging, nahm er meine letzten Hoffnungen mit sich. Jetzt hatte ich nichts mehr – weder Träume noch Ziele. Alles, was blieb, waren Erinnerungen, die so sehr im Inneren schmerzten wie ein stumpfer Dolch im Herzen. Ich konnte kaum atmen, konnte mich kaum noch bewegen. Und doch funktionierte ich irgendwie. Zumindest für ein paar Tage noch.

      »Wann wirst du nach Underwood fahren?«, fragte Clara seufzend und ließ mich beim Klang meiner Heimatstadt automatisch zusammenzucken. Seitdem Ben und ich damals im Sommer vor sieben Jahren zu unserer Tante nach Greenfield gezogen waren, war ich nicht ein einziges Mal nach Underwood zurückgekehrt. Nicht einmal, um Blumen am Grab meiner Eltern niederzulegen. Ich konnte es einfach nicht. Dieser Ort war wie ein Fluch für mich. Es war der Ort, an dem mein schreckliches Schicksal begonnen hatte. Und genau dort würde es offensichtlich auch enden.

      »Übermorgen«, erwiderte ich erstickt, als ich daran dachte, dass nun auch mein Bruder seinen Frieden neben Mom und Dad finden würde. So hatte er es sich gewünscht – ein normales Begräbnis, direkt neben dem Grab unserer Eltern in Underwood. So sehr es mich zerriss, ich würde ihm diesen Wunsch selbstverständlich erfüllen.

      »Soll ich vielleicht mitkommen? Ich meine, vielleicht wäre es besser, wenn du an diesem Tag nicht allein bist.« Clara wirkte unentschlossen. Wir waren nicht gerade die besten Freunde, eigentlich nicht mehr als gute Bekannte und Mitbewohner. Ich wusste, sie fragte rein aus Höflichkeit. Ein bisschen vielleicht auch aus echter Sorge. Doch keinesfalls würde ich jemand Fremdes an diesen Ort mitnehmen. Ich wollte mich zusammen mit den Menschen, die Ben kannten und schätzten, ein letztes Mal von meinem Bruder verabschieden, so wie er es verdient hatte. Clara gehörte nun wahrlich nicht dazu.

      »Danke, ich komm schon zurecht.« Mit meinem Blick gab ich ihr zu verstehen, dass sie mich jetzt besser allein lassen sollte. Es gab noch eine Menge Sachen,


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