Breathe Again. Katie Weber
dem Flohmarkt gefunden hatte.
»Netter Zug von euch, Sommersprosse«, flüsterte ich Annabelle ins Ohr und sie lächelte ertappt.
»Wartet! Bleibt so stehen, ich mache ein Foto von euch. Der Sonnenuntergang im Hintergrund ist gerade so schön«, sagte Mrs. Parker plötzlich euphorisch, und wie auf Kommando blieben wir drei sofort stehen. Ben links von mir, mit seinem Board in der Hand, Annie auf der anderen Seite, mit meinem Arm ganz fest um ihre Schulter, mit dem ich sie eng an meine Brust drückte. Etwas, das ich häufig bei ihr tat, nur damit sie sich dann an mich schmiegte. Ich mochte das. Es gab mir das Gefühl, sie beschützen zu können. Vor allem aber gab es mir das Gefühl, dass sie mir vertraute.
Annabelle
Grauenvoll nervtötendes Piepsen, das rhythmisch an meine Ohren drang, weckte mich aus meinem ewigen Schlaf. Zumindest nahm ich an, dass ich Stunden geschlummert haben musste, so gerädert und schwach wie ich mich mit einem Mal fühlte. Mühevoll versuchte ich meine Augen zu öffnen, doch das grelle Licht, das mir von der weißen Decke entgegenstrahlte, blendete mich, daher schloss ich sie sofort wieder.
Wo zur Hölle war ich? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es in meinem WG-Zimmer morgens so verdammt hell war. Zumal ich immer die Vorhänge zuzog, um beim Schlaf nicht von der aufgehenden Sonne gestört zu werden.
Noch einmal wagte ich den Versuch, die Augen zu öffnen, auch wenn es seltsamerweise schmerzte, als das Licht meine Netzhaut traf. Unweigerlich sammelten sich Tränen in meinen Augen – und das irritierte mich. Wie lange hatte ich bitte schön geschlafen? Blinzelnd versuchte ich meine Sicht zu schärfen, um die Quelle des elenden Piepsens ausfindig zu machen. Doch als ich an mir heruntersah und die Nadeln und Schläuche in meinen Armen entdeckte, erstarrte ich.
Was zum Teufel –?
»Hey! Ganz ruhig, alles ist gut. Du bist im Krankenhaus, alles wird gut. Okay?« Das unverkennbare Moosgrün von Jonahs Augen traf mich unvorbereitet. Was machte er hier? Wie kam er hierher und –
»Krankenhaus?«, entwich es meinen trockenen Lippen entsetzt, als ich den Sinn seiner Worte verstand. Panisch schaute ich mich im Raum um und fand nun auch das dämliche Gerät, das unaufhaltsam vor sich hin piepste. Sofort fiel mein Blick unter das grässliche weiße Leibchen, das mir angezogen worden war, und ich entdeckte auf meiner Brust zwei klebende Plättchen, die dem Gerät übermittelten, ob und wie schnell mein Herz schlug.
»Annie, du hattest … Du hast versucht …« Jonah brach seine Erklärung plötzlich ab und schaute mich sorgenvoll an. Was war nur geschehen? Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war –
Mit einem Schlag fiel es mir wieder ein. Jetzt wusste ich, weshalb ich in diesem weißen Raum gefangen und an diese Geräte angeschlossen war. Und es machte mich wütend. Unfassbar wütend! Denn dass ich hier war, bedeutete, dass ich nicht dort sein konnte. Nicht bei ihm. Bei meinem Bruder. Ich wollte ihn doch so gerne wiedersehen, wollte endlich wieder bei ihm sein. Ich hatte das alles hier so satt. Die sinnlosen Jobs, die Menschen um mich herum. Ich hatte mich satt. Und es gab nur noch einen Ort, an dem ich sein wollte. Da, wo auch immer Ben jetzt war.
Enttäuscht und wütend auf mich selbst, dass ich es nicht einmal schaffte, meinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten, riss ich mir die Nadel mit der Infusion aus dem Arm, noch ehe Jonah mich daran hindern konnte. Ich wollte hier raus. Und das sofort!
»Annie, hör auf damit, verdammt! Lass das und bleib liegen. Dein Körper ist viel zu geschwächt, du kannst jetzt noch nicht aufstehen.«
»Du hast nicht zu bestimmen, was ich kann und was ich nicht kann, Jonah!«, fauchte ich ihn wutentbrannt an, als er versuchte mich festzuhalten. Scheinbar mühelos hielt er mich an beiden Handgelenken an Ort und Stelle, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Jonah war schon immer viel stärker als ich gewesen. Und schon immer hatte mich das mächtig auf die Palme gebracht.
»Nach der dämlichen Nummer, die du vorgestern Nacht abgezogen hast, kann ich das sehr wohl, Annabelle«, knurrte er mindestens ebenso wütend wie ich. Dabei hatte er nun wirklich absolut keinen Grund dazu. Ich war diejenige, die betrogen wurde. Von Gott und der ganzen Welt. Mir wurde Stück für Stück alles genommen, was ich hatte. Alles, was ich liebte. Und nun sollte ich einfach weitermachen, als wäre nie etwas gewesen? Als hätte mein verdammtes Leben noch einen Sinn? Schwachsinn!
»Lass mich los, Jonah! Ich weiß, was ich tue, also lass mich endlich los, verdammt. Es hat dich niemand gebeten, herzukommen. Ich hab dich nicht darum gebeten!« Woher zur Hölle wusste er überhaupt davon? Wer hatte ihn kontaktiert? Die Frage hatte ich mir schon gestellt, als Ben gestorben war und Jonah mich noch in derselben Nacht anrief. Woher hatte er wissen können, dass mein Bruder nicht mehr da war?
»Du hast überhaupt keine Ahnung, was du tust, Annabelle. Du bist völlig neben der Spur und kannst nicht klar denken.«
Hatte er sie noch alle? Mir auch noch Vorwürfe zu machen. Wo blieb eigentlich die verdammte Schwester, wenn man sie mal brauchte? Warum war ich allein mit diesem Idioten und wer hatte ihn hier reingelassen?
»Außerdem …« Jonah hielt mitten im Satz inne und ließ mich langsam los, ohne mich jedoch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Vorsichtig holte er etwas aus seiner Hosentasche und warf es wütend auf die weiße Bettdecke, die meinen Unterkörper bedeckte. Es war das alte Jugendfoto, das er mir auf der Beerdigung meines Bruders gegeben hatte. »Das hattest du bei dir, als sie dich bewusstlos in deinem Zimmer gefunden haben.« Verwirrt sah ich zu ihm auf. Ich verstand noch immer nicht, was er mir damit sagen wollte. »Meine Nummer. Sie steht hinten drauf. Deswegen haben sie mich kontaktiert. Sie wussten nicht, wen sie hätten sonst verständigen sollen.«
Natürlich nicht. Es gab nämlich sonst niemanden mehr, jetzt, wo auch Ben nicht mehr bei mir war. Jonah war so gesehen der Einzige, der mir geblieben war. Doch ihn wollte ich nicht. Ausgerechnet ihn.
Weswegen war er gekommen? Ich war ihm doch sowieso schon lange egal. Er hatte sich einen Scheiß für mich interessiert, als ich ihn am meisten gebraucht hätte. Wieso also jetzt auf einmal? Von mir aus konnte er bleiben, wo der verdammte Pfeffer wächst. Ich brauchte ihn nicht mehr!
»Dann kannst du ja jetzt wieder gehen. Wie du siehst, bin ich noch am Leben. Du bist also umsonst gekommen.«
Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken. Erschrocken schaute ich zu Jonah auf, der aus purer Wut seine Faust gegen den kleinen Metalltisch gehämmert hatte. Sein Blick spiegelte Fassungslosigkeit und Enttäuschung wider. Weswegen, verstand ich jedoch nicht.
»Sag mal, denkst du, ich wäre hier, weil ich dich gerne abkratzen sehen würde? Glaubst du ehrlich, ich wäre deswegen sofort hierhergekommen, weil ich sichergehen wollte, dass du auch wirklich tot bist? Für was für ein Arschloch hältst du mich eigentlich? Ich habe mir verdammt noch mal Sorgen gemacht. Ich hatte Angst. Panik!« Jonah redete sich gerade erst in Rage. Und ich sah, dass jedes Wort, das seine Lippen verließ, ernst gemeint war. Genauso wie früher immer. Jonah hatte mich niemals belogen. Vermutlich war es für ihn auch deswegen damals einfacher, zu gehen und den Kontakt ganz abzubrechen, als mir eine Unwahrheit zu erzählen. Worüber auch immer. »Wie konntest du nur so dumm sein, Annabelle? Glaubst du denn ehrlich, es gibt hier keine Menschen, denen du fehlen würdest? Die dich lieben und denen du unglaubliches Leid damit zufügen würdest?«
Ich konnte nur bitter darüber lachen. Allerdings schien das meinen ehemals besten Freund nur noch wütender zu machen. Grob griff er nach meiner Hand und umschloss sie fest mit seiner.
»Du wirst mit mir kommen, wenn du hier raus bist.« Es schien keine Frage. Ebenso keine Bitte. Ganz im Gegenteil.
»Was?!«, zischte ich, musste dann jedoch erneut bitter auflachen. Was zum Teufel glaubte er, wer er war? Das hatte er schließlich nicht zu bestimmen.
»Du hast mich schon verstanden. Du wirst mit mir kommen, sobald du aus dem Krankenhaus entlassen wirst. Du hast keine andere Wahl.«
»Sag mal, spinnst du? Natürlich habe ich eine Wahl. Und ich werde auf keinen Fall mit dir kommen. Zu dir und deiner scheiß verrückten